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Jamal Tuschick erzählt von ungleichen Zwillingsbrüdern: Der Ich-Erzähler wächst bei seinen Eltern in Kassel auf, Kaiman, der Bruder, bei seinen Großeltern im Schwäbischen. Der Roman beginnt mit der Schilderung des kleinbürgerlich-proletarischen Kasseler Milieus, der Jugendgang um den sagenhaften »Lord«, den Ausbruchsversuchen des Erzählers, seinen ersten sexuellen Erfahrungen. Kaimans Jugend dagegen war behütet, er wurde frühzeitig auf eine bürgerliche Existenz vorbereitet, die er ohne Selbstzweifel durchlebt: »Er hat in Mailand zu Mittag gegessen.« Im Vergleich erscheint das Leben des…mehr

Produktbeschreibung
Jamal Tuschick erzählt von ungleichen Zwillingsbrüdern: Der Ich-Erzähler wächst bei seinen Eltern in Kassel auf, Kaiman, der Bruder, bei seinen Großeltern im Schwäbischen. Der Roman beginnt mit der Schilderung des kleinbürgerlich-proletarischen Kasseler Milieus, der Jugendgang um den sagenhaften »Lord«, den Ausbruchsversuchen des Erzählers, seinen ersten sexuellen Erfahrungen. Kaimans Jugend dagegen war behütet, er wurde frühzeitig auf eine bürgerliche Existenz vorbereitet, die er ohne Selbstzweifel durchlebt: »Er hat in Mailand zu Mittag gegessen.«
Im Vergleich erscheint das Leben des Ich-Erzählers unstet. Immer steht er kurz vor einem Absturz. Er stolpert von einer Beziehungskatastrophe in die nächste, stets im Bewußtsein der überlegenheit des Bruders: »Ihm gehört alles.«
Autorenporträt
Jamal Tuschick, geb. 1961 in Kassel, lebt seit 1987 als Schriftsteller und Journalist in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2004

Auf dem Schlachtfeld triumphiert die zasterschwere Bräsigkeit
Kraftvoll, unsentimental, präzise: In „Bis zum Ende der B-Seite” erzählt Jamal Tuschik die Autobiographie eines vierzigjährigen Kleinbürgers
Über erste Sätze von Romanen ist oft nachgedacht worden, über die letzten seltsamerweise kaum. Jamal Tuschik lässt sein neues Buch „Bis zum Ende der B-Seite” mit dem Satz enden: „Ihm gehört alles.” Eine verstörende Kapitulation nach 185 Seiten, die an Kraft, Unsentimentalität und Präzision kaum ihresgleichen haben in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Wie „Keine große Geschichte” und „Kattenbeat” handelt auch Tuschiks drittes Buch vom Überleben in der Provinz. Der frühere Mitarbeiter der Frankfurter Rundschau, Jahrgang 1961, erzählt die wohl nicht allzu fiktive Autobiografie eines etwa vierzigjährigen Kleinbürgers. Der gehörte in seiner Jugend nicht zu jenen, die sich mit einem Mädchen der Liebe „Bis zum Ende der B-Seite” widmeten, nur einmal unterbrochen vom seelenruhig angetretenen Gang zum Plattenspieler – nach dem Ende der A-Seite. Die Liebe ist vielmehr das Schlachtfeld, auf dem er die verheerendsten Niederlagen einstecken muss.
Der namenlose Erzähler wächst 1960er Jahren in einer Trabantenstadt der Neuen Heimat bei Kassel auf. Waldau ist nicht Heimat, sondern Schicksal. Eher zufällig bricht der Jugendliche eines Tages aus und findet zu Obdachlosen, Strichern und Ausländern. Es sind unerwartet zarte Intermezzi, nach deren Ende sich die Flucht weniger sichtbar fortsetzt. Sie führt in das bürgerliche Lager, dessen Schulversager aus der Stadt in Waldaus Gesamtschule kommen.
Tuschiks Erzähler hat zwar nur Verachtung für die sozialdemokratische Bildungspolitik übrig, aber ohne sie hätte er die schönen, arglosen und „feinen” Samiras und Shaunas niemals kennen gelernt, die sich in ihn verlieben, ohne dass er begreift, warum. Zumal er sich jedem seiner Vorgänger unterlegen und zudem impotent fühlt. Von Selbsthass zerfressen wird er zum Beobachter des eigenen Lebens. Knapp ein Viertel des Romans nimmt dieser gedrängte Rückblick auf die überstandene Pubertät ein, bis im zweiten Teil der Zwillingsbruder Kaiman auftritt. Der gefräßige Bruder-Alligator, bei den reichen Großeltern im Süddeutschen aufgewachsen, verfasst Restaurantkritiken und ist von selbstvergessener, „zasterschwerer Bräsigkeit”, während sein kleinbürgerlicher Bruder aus Waldau den an Kraftmaschinen gestählten Körper als Tagelöhner vermietet. Von einer Familienfeier fliehen die einander fremden Männer in Kaimans Porsche. Die Fahrt von Bad Herrenalp über Frankfurt nach Kassel ist eine tour sentimentale in Erinnerungsfragmenten: Der Erzähler liebt die Freundin Kaimans und schläft auch mit dessen osteuropäischer Geliebter, ohne beide dem Bruder abspenstig machen zu können: „Ihm gehört alles.” Der Waldauer darf daran nur nippen.
Von diesem Leben als fünftem Rad erzählt Tuschik, wie es vor mehr als einem halben Jahrhundert Marieluise Fleißer oder Ödön von Horvath getan haben: schneidend, beißend, sezierend, vollends unsentimental, mit einem Blick für Sozialtypologien und in einem kunstvollen Jargon, der eine Mischung ist aus Herkunft und Wahl, Beklemmung und Befreiung, Konkretion und Soziologica: „Sie (die Bürgerstöchter) besaßen Spielräume, die nicht verteidigt werden mussten”. Oder: „Ich hatte jede Mode in der Blüte ihrer Isolation gesehen.” Da gewinnt einer seine erzählerischen Mittel seiner eigenen Geschichte ab, und die Sozialcharakteristika des bundesdeutschen Alltags, allesamt präzis beschrieben wie die gescheiterten Künstlertypen unter den Lehrern, die in Poona lässig gewordenen Eltern oder die linksradikalen MZ-Fahrer, erhalten schicksalhafte Wucht. Welcher Erzähler wusste zuletzt von den Erniedrigten und Beleidigten mit solch kaltem und zugleich historisch informiertem Blick zu erzählen?
Ähnlich wie Peter Kurzeck, ohne dessen rettenden Impuls, hält Tuschik ein subkutanes Lebensgefühl, einen grauen Alltag in Hessen fest. Jeder Name ruft eine Geschichte herauf, jede Begebenheit webt an einem größeren Zusammenhang. Er wird allerdings im zweiten Teil des Romans zusehends löcherig; fahrig wirkt besonders der Abschnitt über jenen Club, in dem der Roman resignierend endet.
„Bis zum Ende der B-Seite” ist ein Bildungsroman, sein Fluchtpunkt die Literatur. „Ich betrachte die letzten zwanzig Jahre meines Lebens wie eine Fläche, die ich nicht mehr betreten kann,” sagt der Erzähler mit einer der auffallend häufigen Raummetaphern. Doch der Punkt, von dem aus sich die Vergangenheit als abgeschlossen darstellt, bleibt ausgespart. Einmal ist von einem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg die Rede, aber: „Das ist eine andere Geschichte. Sie handelt schon von meiner Stärke, dieser späten Entdeckung.” Auf diese andere Geschichte darf man gespannt sein. Kaiman gehört sie jedenfalls nicht.
JÖRG PLATH
JAMAL TUSCHIK: Bis zum Ende der B-Seite. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 186 Seiten, 9 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Ein "schöner Poproman" hätte es werden können, ein einspuriger Roman ist es geworden, meint Rezensent Gustav Mechlenburg. Anlässlich eines Familienfestes lässt Jamal Tuschicks Ich-Erzähler die letzten dreißig Jahre Revue passieren, und was dabei herauskommt, so unser Rezensent, ist die "schonungslose Selbstdarstellung eines Zweitklassigen". Denn der Ich-Erzähler sei vollkommen "unauffällig und glanzlos" und nur deshalb "unangepasst", weil "er den Anschluss verpasst hat". Also, folgert der Rezensent, an und für sich "ein reizvoller Ich-Erzähler" - der seine Bedeutungslosigkeit damit kompensiert, dass er zum Räsonierer wird, in dessen scharfem Blick ein "provinzielles Kasseler Panorama mit asozialem Einschlag" entsteht. Doch das "rundumschlagende Allesverstehen" des Helden nimmt keine konstruktiven Formen an, klagt Mechlenburg, im Gegenteil, es wächst sich aus zu einer "konsequenten Ablehnung jeglicher Lebensentwürfe", die schon "ans Krankhafte grenzt". Dem Leser bleibe nichts anderes übrig, als zuzuschauen, wie "die jugendliche Untüchtigkeit zu vergrübelter Übellaunigkeit" werde, denn es ändere sich, von der wachsenden Ratlosigkeit einmal abgesehen, nichts. Schade um Tuschicks "wunderbare Kurzcharakterisierungen", lesen wir: Das Buch krankt an der übermäßigen "Konsequenz in der Erfüllung der Charakterzüge seines Helden". "Ein wenig mehr Schmackes", schließt der Rezensent, und das Buch hätte "schön ätzend" werden können - ist es aber nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH
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