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Produktdetails
  • edition suhrkamp 2312
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 289
  • Deutsch
  • Abmessung: 15mm x 108mm x 177mm
  • Gewicht: 185g
  • ISBN-13: 9783518123126
  • ISBN-10: 3518123122
  • Artikelnr.: 11375808
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2003

Ich. Endlich ich.
Dramatisiertes Leben: Christa Bürgers langer Marsch
Dieter Bohlen hat es erfolgreich getan, auch Stefan Effenberg. Nach langem Schweigen hat Hillary Clinton ihre „gelebte Geschichte” geschrieben. Und jetzt Christa Bürger, die Gymnasiallehrerin und (von 1973 bis 1998) Professorin für Literaturwissenschaft an der Frankfurter Universität.
Was ist an dieser verbeamteten Lebensgeschichte so interessant gewesen, um veröffentlicht werden zu müssen? War ihr Weg durch die Literaturwissenschaft denn nicht an ihren Werken nachvollziehbar, von „Textanalyse als Ideologiekritik” (1973) über „Tradition und Subjektivität” (1980) bis zu den späten feministischen Essays „Leben Schreiben” (1990) und „Das Denken des Lebens” (2001)? Gab es da noch ein anderes Leben? Vielleicht, aber davon erfährt man nichts in dieser Geschichte einer akademischen Laufbahn, die einen dramatisierten Anlass braucht, um erinnert und erzähl werden zu können.
Das unerhörte Ereignis soll im Sommer 1992 stattgefunden haben. Als ihr die Studentin und Freundin Christa Sengespeick von ihrer Lebensgeschichte in der ehemaligen DDR erzählte, wo sie sich als Pastorin für den Frieden engagiert hatte, fühlte sich auch Christa B. herausgefordert. Am 4. Juli 1992 notierte sie sich in ihrem Tagebuch: „Wer bin ich? Habe ich eine Geschichte?” Und erst jetzt will ihr „mit einem Mal klar” geworden sein, dass sie als Wissenschaftlerin ein Tabu befolgt hatte: Sie hatte das „ich” unterdrückt und als ein „austauschbares” Subjekt der Wissenschaft gedacht und geschrieben. Das sollte anders werden, auch wenn es ihr zunächst schwer fiel. Mal mit „nervösen Kopfschmerzen”, mal mit einem „verkrampften Fuß” reagierte sie psychosomatisch auf die Frage nach ihrem „wirklichen Ich”, das sich in ihren wissenschaftlichen Abhandlungen versteckt hatte.
Aus der dramatisierten Krise befreite die Pensionierung. 1998, mittlerweile 63 Jahre alt, wusste sie endlich, „dass ich jetzt von mir selbst würde sprechen”. Doch ihre „Selbstthematisierung mit ungewissem Ausgang”, in die Christa B. durch Christa S. geraten war, gewinnt kein autobiographisches Profil. Nachgezeichnet wird der Prozess einer literaturwissenschaftlichen Entwicklung, der für viele typisch war. Während sie sich in den 60er und 70er Jahren mit ihrem Ehemann Peter Bürger auf die historischgesellschaftliche Wirklichkeit konzentrierte, in der die Literatur als Institution funktionierte, hat sie sich seit den späten 80er Jahren dem weiblichen Schreiben der üblichen Verdächtigen zugewandt: Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim, Karoline von Günderode, Sophie Moreau und anderen. Christa B. wollte deutlich machen, was in deren Leben-Schreiben undeutlich bleiben musste. „Ich wollte, dass mein Schreiben jenes Schreiben als Subjekt wiederherstellt”, was immer das auch heißen mag.
Und so begab es sich also, dass die Wissenschaftlerin nicht mehr über Texte schreiben wollte, sondern dass sie mimetisch das Schreiben ihrer Vorgängerinnen nachvollzog, um so auch ihre eigene Geschichte zum Ausdruck bringen zu können. Sie selbst empfand es als eine „ungeschützte Schreibpraxis”. Doch auch nach ihrer subjektiv-feministischen Wende blieb Christa B., was sie schon immer war: ein Subjekt, dessen wissenschaftliche Entwicklung von Anfang an in die Methodengeschichte der Literaturwissenschaft eingebunden war, ohne sich daraus befreien zu können.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Am langen Marsch von der Ideologiekritik zum feministischen Essay wurde professionell teilgenommen. Aber ihr tabuverletzender Mut, „jetzt endlich” von sich selbst sprechen zu wollen, erscheint wie eine Selbsttäuschung, um als emeritierte Professorin ihrem Leben rückblickend jene Dramatik einschreiben zu können, die seine biographische Erzählbarkeit legitimiert.
MANFRED GEIER
CHRISTA BÜRGER: Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 291 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Manchmal kann man Rezensenten über ihre Zeilen hinweg regelrecht den Kopf schütteln sehen. "So geht das nicht, lieber Autor" rufen sie ihren Lesern dann zu, zu denen unter Umständen auch besagter Autor gehört. "Einer Selbsttäuschung aufgesessen", lautet das harsche Urteil in diesem Fall. Die Autorin, Christa Bürger, war lange Zeit Literaturprofessorin in Frankfurt am Main. Was hat Bürger dazu bewogen, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, fragt Manfred Geier. Und ist diese Biografie so interessant, dass es eine berechtigtes Interesse an einer Veröffentlichung gibt? Auf diese zweite Frage antwortet Geier mit einem klaren Nein - zumindest nicht in dieser Form, relativiert er. Denn seines Erachtens gelingt es Bürger nicht, das, was sie als "ungeschützte" sprich subjektive Schreibpraxis ansieht, auch wirklich in die Tat umzusetzen. Bürger beschreibt einen Lebensweg, der von Anfang bis Ende in die Methodengeschichte der Literaturwissenschaften eingebunden bleibt, bedauert Geier. Was als Befreiungsschlag aus der wissenschaftlichen Routine gedacht war, erlange kein autobiografisches Profil. Die Selbstthematisierung außerhalb der akademischen Laufbahn: leider verfehlt.

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