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Im Frühjahr 2001 hat Christoph Schlingensief mit seiner Hamlet-Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus für öffentliches Aufsehen gesorgt - weil er aussteigewillige Neonazis in seine Theaterarbeit integrierte, weil er bei seinen Straßenaktionen unter anderem zum Verbot der Schweizerischen Volkspartei aufrief, weil er den deutschen Innenminister Otto Schily dazu aufforderte, die Mehrheitsanteile von Torsten Lemmer, dem Produzent und Teilhaber des weltgrößten Vertriebes für rechtsradikale Musik, zu kaufen, und zuletzt, weil er zusammen mit dem Ensemble den Verein "REIN e.V." für weitere aussteigewillige Neonazis gründete. …mehr

Produktbeschreibung
Im Frühjahr 2001 hat Christoph Schlingensief mit seiner Hamlet-Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus für öffentliches Aufsehen gesorgt - weil er aussteigewillige Neonazis in seine Theaterarbeit integrierte, weil er bei seinen Straßenaktionen unter anderem zum Verbot der Schweizerischen Volkspartei aufrief, weil er den deutschen Innenminister Otto Schily dazu aufforderte, die Mehrheitsanteile von Torsten Lemmer, dem Produzent und Teilhaber des weltgrößten Vertriebes für rechtsradikale Musik, zu kaufen, und zuletzt, weil er zusammen mit dem Ensemble den Verein "REIN e.V." für weitere aussteigewillige Neonazis gründete.
Autorenporträt
Kluge, Alexander
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt. »Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.« Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)

Diederichsen, Diedrich
Diedrich Diederichsen, geboren 1957 in Hamburg, war in den 1980er Jahren Chefredakteur der Musik- und Popkulturzeitschrift Spex. Er veröffentlicht u.a. auch Texte in der Süddeutschen Zeitung, DIE ZEIT und der taz. Nach seinem Rückzug aus der Spex-Redaktion konzentrierte sich Diedrich Diederichsen auf seine Arbeit im kulturtheoretischen und akademischen Bereich. Seit 2006 lehrt er als Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2002

In Mediengewittern
Der Materialband zu Christoph Schlingensiefs „Hamlet”
Im Frühling 2001 inszenierte Christoph Schlingensief am Zürcher Schauspielhaus Gustaf Gründgens Fassung des „Hamlet” von 1963. Für das Stück engagierte er neben klassischen Schauspielern auch mehr oder weniger aussteigewillige Neonazis. Der Ansatz war gewagt: deutsche Neonazis werden in die neutrale Schweiz exportiert, um dort durch therapeutisches Theaterspielen wieder resozialisiert zu werden. Oder sollte doch eher die Gesellschaft resozialisiert werden? Schlingensiefs Dramaturg Carl Hegemann war begeistert: „Die Schweiz liefert dafür ein günstiges Umfeld. Denn hier wurden keine Juden vernichtet, gibt es keinen offenen Rassismus, und alles wird vorbildlich mit Geld geregelt. Vor dem Geld sind alle gleich.”
Die Schweiz sollte auch mal echte Nazis sehen, nicht immer nur Nazigold und geschmeidige Rechtspopulisten. Die Eidgenossen waren nicht so begeistert. Hamlets Wahn griff um sich wie ein Flächenbrand, und schon bald nahm der Skandal um die Inszenierung Shakespearesche Ausmaße an. Geradezu unheimlich sind die Energie und der dramaturgische Instinkt, mit denen Schlingensief im Auge eines brodelnden Skandals agierte und dabei sämtliches Geschrei zu einem sehr stimmigen Gesamtkunstwerk zu bündeln verstand.
Schlingensief hat ein besonderes Strukturmerkmal des Hamlet-Dramas auf seine Inszenierung angewandt. Im dritten Akt arbeitet Shakespeare ein kleines Theaterstück in das eigentliche Theaterstück ein. Die Schauspieler spielen Schauspieler, die mit ihrer Darbietung der Handlung eine neue Wendung geben. Die Gesellschaft der Schauspieler spiegelt die höfische Gesellschaft. Schlingensief hat dieser verschachtelten Struktur noch eine Schicht hinzugefügt und seinen „Hamlet” in ein allumfassendes Medientheaterstück eingebettet. Es umgab die Inszenierung wie eine große Blase. Sogar der Pop- Theoretiker Diedrich Diedrichsen, der ohne mit der Wimper zu zucken Wörter wie „Weirdos” in seiner Theater heute-Besprechung platziert, fühlte sich provoziert. Ob Leserbriefseite der Boulevardpresse, Hörertelefon der interaktiven Talkrunde oder Presseerklärung des SVP-Politikers Christoph Blocher: Der Kommunikationsguerillero Schlingensief hatte alle Kanäle besetzt. Das Einzige, was in dem umfassenden Medienspektrum noch fehlte, war ein umfassender Materialband aus renommiertem Hause, der diesen skandalösen „Hamlet” noch einmal von allen Seiten beleuchtet.
Thekla Heineke und Sandra Umathum haben ihn nun für die Edition Suhrkamp zusammengestellt. Der phantasievoll gestaltete Band lässt keine Frage zu dem Theaterprojekt offen. Jeder kommt zu Wort, ob Verteidiger oder Gegner der Inszenierung. Die Nazi-Braut bekennt unverblümt, dass sie bei schachernden Menschen an Juden denken muss; dass sie Jeans trägt, obwohl diese von dem Juden Levi Strauss erfunden wurden, hält sie schon für liberal. Der Boulevard stammelt, der Theaterkritiker wirft seine Theoriemaschine an, der Politiker seine Jargonmühle, und der (Ex-?)Nazi berichtet von seiner Bekehrung, wobei seine Sprache immer noch seinen harten ideologischen Kern bloßlegt.
Der anarchisch collagierte Materialband ist ein Hamlet-Roman, spannend wie ein Krimi. Denn im Zentrum aller Dokumente steht die Frage, ob die Aussteiger sich nun tatsächlich von ihrer rechten Ideologie losgesagt haben oder ob Schlingensief ihnen nur ein neues Agitationsforum für ihre Umtriebe geboten hat. Die Herausgeber des Bandes unterstreichen diese Schlüsselfrage sehr geschickt, indem sie ins exakte Zentrum des Buches einen Essay über den Verdacht gesetzt haben. So wie im Kern von „Hamlet” der Verdacht und der Zweifel stehen, lauert im Zentrum von Schlingensiefs Inszenierung die Ungewissheit über die Rolle der Neonazis. Was ist passender, als in einer Hamlet-Inszenierung umfassenden Zweifel zu säen?
Das Buch hat zwei Teile. „Nazis rein” versammelt Dokumente zu der umstrittenen Inszenierung. „Nazis raus” sammelt Materialien zu dem noch sehr viel umstritteneren Neonazi Torsten Lemmer, der innerhalb der schauspielernden Aussteiger als charismatische Führernatur waltete. Lemmer ist eine unangenehm schillernde Figur aus der rechten Szene in Düsseldorf. Er war Europas größter Produzent von Skinrock. Von seiner Musiktitelliste konnte man sich zum Beispiel die CD „Es lebe das Reich” der Gruppe Foierstoß bestellen. Auch die übrigen Titel klingen nach entspanntem Brainstorming in der Wolfsschanze am Ende eines harten Tages voller Völkervernichtung und Massenerschießung.
Skin oder nicht Skin
Scheinbar hat sich Lemmer im Zuge von Schlingensiefs Inszenierung aus dem Geschäft mit Nazirock zurückgezogen. Doch so recht wird man nicht schlau aus seinem undurchsichtigen Firmengeflecht aus Sonnenstudios, Immobilien und Verlagen. Brisanterweise hat Schlingensief Lemmer mitsamt ergebener Entourage für die berühmte Schauspielszene im „Hamlet” engagiert. In eben diesem Skandal liegt der dramaturgische Geniezug des Regisseurs, die Akzentuierung der sehr zweifelhaften Rolle dieser Aussteiger. Spielen sie nur den Ausstieg oder ist er echt? Skin oder nicht Skin? Und was erzählt ihr Spiel über die Schuld der Zuschauer?
Der sehr fragwürdige Torsten Lemmer mit seinen Millionendeals, seinen Machtansprüchen und seinem charismatischen Auftreten innerhalb der Aussteigergruppe liefert dem Materialband endgültig die Analogie zum wahren Königsdrama. Lemmer ist Schlingensiefs düsterer Widerpart. Im geschickten Umgang mit den Medien scheinen die beiden ähnlich talentiert zu sein. Schlingensief muss in dem schillernden Neonazi sein gespenstisches Double gesehen haben. Lemmer und Schlingensief toben wie Jekyll und Hyde durch den Medienzirkus.
Es gibt momentan wohl keinen Künstler, der so wenig Kontaktscheu gegenüber dem ganz Anderen hat wie Christoph Schlingensief. Man muss sein Talent bewundern, einen chaotisch wirbelnden Trubel zu veranstalten, in dem sich noch alles, das Für und das Wider, die Empörung und der Enthusiasmus, zu einem stimmigen, sehr symptomatischen Polit-Theater verbinden. 2004 will sich Torsten Lemmer ins Düsseldorfer Stadtparlament wählen lassen.
STEPHAN MAUS
THEKLA HEINEKE / SANDRA UMATHUM (Hrsg.): Christoph Schlingensiefs Nazis rein / Thorsten Lemmer in Nazis raus. Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002. 326 Seiten, 12,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Man merkt Stephan Maus durchaus an, wieviel Spaß er bei der Lektüre dieses Bandes gehabt hat, in dem die Materialien zu Schlingensiefs Polittheater "Nazis rein". zusammengefasst werden. Dafür hatte Schlingensief mehr oder weniger aussteigewillige Neonazis als Schauspieler für seine Hamlet-Inszenierung (nach der Fassung von Gustaf Gründgens) am Zürcher Schauspielhaus angeheuert. In der Folge, schreibt ein nahezu feixender Rezensent, nahm der Skandal Shakespearsche Ausmaße an und "Kommunikationsguerillero" Schlingensief hatte wieder einmal alle Kanäle besetzt. Der phantasievolle, anrachisch collagierte Materialband "aus renommierten Hause", meint Maus, beleuchte nun diesen Hamlet von allen Seiten und lasse keine Frage zu dem Theaterprojekt offen, kein Für und kein Wider unberücksichtigt. Besonders würdigt Maus die Subtilität, genau ins Zentrum des Buches einen Essay über den Verdacht zu setzen. Man müsse einfach Schlingensiefs Talent bewundern, schreibt Maus, "einen chaotisch wirbelnden Trubel zu veranstalten, in dem sich noch alles, das Für und das Wider, die Empörung und der Enthusiasmus, zu einem stimmigen, sehr symptomatischen Polit-Theater verbinden". Bedauerlicherweise, räumt Maus ein, musste Schlingensief im Laufe des Projekts in dem "schillernden Neonazi" Torsten Lemmer sein "gespenstisches Double" erkennen. Er kandidiert jetzt für das Düsseldorfer Stadtparlament.

© Perlentaucher Medien GmbH
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