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In einer gehärteten Sprache außerhalb aller Moden sucht Lutz Seiler nach dem Essentiellen, nach den Spuren unseres Herkommens. Seine Gedichte rufen die dunklen Seiten unseres Daseins auf, graben tief im Vergangenen, legen dessen Schichten frei.
Lutz Seilers Gedichte sind »Erkundungen der Kindheitslandschaften zwischen Abraumhalden und paramilitärischen Formierungen, sie überzeugen durch ihre Intensität der sinnlichen Ausdruckskraft und ihre vielschichtige Bilderwelt. Seine ganz eigene, suggestive Stimme eröffnet einen glaubwürdigen poetischen Raum, wie er in der Gegenwartsdichtung selten zu…mehr

Produktbeschreibung
In einer gehärteten Sprache außerhalb aller Moden sucht Lutz Seiler nach dem Essentiellen, nach den Spuren unseres Herkommens. Seine Gedichte rufen die dunklen Seiten unseres Daseins auf, graben tief im Vergangenen, legen dessen Schichten frei.

Lutz Seilers Gedichte sind »Erkundungen der Kindheitslandschaften zwischen Abraumhalden und paramilitärischen Formierungen, sie überzeugen durch ihre Intensität der sinnlichen Ausdruckskraft und ihre vielschichtige Bilderwelt. Seine ganz eigene, suggestive Stimme eröffnet einen glaubwürdigen poetischen Raum, wie er in der Gegenwartsdichtung selten zu finden ist«, heißt es in der Begründung zur Verleihung des Kranichsteiner Literaturpreises 1999 an den Autor.
Autorenporträt
Lutz Seiler (geboren 1963) wuchs in Ostthüringen auf. Sein Heimatdorf Culmitzsch wurde 1968 für den Uranbergbau geschleift. In Gera schloss er eine Lehre als Baufacharbeiter ab und arbeitete als Zimmermann und Maurer. Während seiner Armeezeit begann er sich für Literatur zu interessieren und selbst zu schreiben. Bis Anfang 1990 studierte er Geschichte und Germanistik an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale). 1990 ging Seiler nach Berlin, wo er einige Jahre als Kellner arbeitete. Längere Auslandsaufenthalte in Rom, Los Angeles und Paris. Seit 1997 leitet er das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus bei Potsdam. Seiler lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau in Wilhelmshorst und Stockholm. Von 1993 bis 1998 war Seiler Mitbegründer und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift moosbrand. Er schrieb zunächst vor allem Gedichte (fünf Gedichtsammlungen sind erschienen) und Essays, später auch Erzählungen und Romane. Für die Erzählung Turksib wurde Seiler 2007 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für sein Romandebüt Kruso erhielt er 2014 den Deutschen Buchpreis. Der Roman wurde in 25 Sprachen übersetzt, mehrfach für das Theater adaptiert und von der UFA verfilmt. Sein zweiter Roman Stern 111 wurde 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im August 2021 erschien der Gedichtband schrift für blinde riesen. 2023 wird Lutz Seiler mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2000

Sonntags wird der Himmel geschleift
Wie die Bilder den Menschen in die Knochen fahren: Lutz Seiler, der Dichter der ostdeutschen Landschaft · Von Lothar Müller

Diese Stimme ist nicht sehr laut. Aber beharrlich. Sie hat sich Zeit gelassen. Um so sicherer trifft sie jetzt ihren Ton. Lutz Seiler, 1963 in Gera geboren, hat 1995 in einem kleinen Verlag seinen ersten Gedichtband veröffentlicht: "berührt / geführt". Durch Lesungen und Beiträge in Zeitschriften fand er in den letzten Jahren ein größeres Publikum. Angesehene Literaturpreise hat er inzwischen gewonnen. Er lebt vor den Toren Berlins. Aber an der großen Stadt gehen seine Verse vorbei. Seine Stimmgabel ist auf seine Herkunftswelt geeicht, auf das östliche Thüringen, auf die Orte und Figuren einer Kindheit nahe den finstersten Industrieregionen der DDR.

Der neue Band "Pech & Blende" trägt diese Finsternis an der Stirn, im Titel. Fügt man die beiden Teile zusammen, so hat man die "Pechblende", das strahlende Uranerz, das in der DDR für die Atommacht Sowjetunion abgebaut wurde. Seit nunmehr zehn Jahren ist der Staat DDR untergegangen. In Seilers Gedichten tauchen seine Katastrophenlandschaften wieder auf. So der "tickende Schutt" im Gedicht "grasland", das so beginnt: "sonntags wird der himmel geschleift. / und, an den verträumten / todestagen ihrer dörfer, wiederholen / sie das spiel: aus / der schonung kommt wind . . ." Es klingt nach Überhöhung. Aber tatsächlich hatten in dieser Abraumwelt manche Dörfer datierbare Todestage. So das Dorf Culmitzsch aus dem Titelgedicht des Bandes, das im Zuge des Uranabbaus vom Erdboden verschwand.

Nach alter Bergbau-Mythologie sind die Steine die Knochen der Erde. Seiler greift die Vorstellung auf und macht zugleich umgekehrt die Knochen der Menschen zu Uranerz. Im Gedicht "doch gut war" geht aus der Zerlegung der Redewendung vom "strahlenden Lachen" die radioaktive Kontaminierung als Spaltprodukt hervor: "kehrte er heim, so lachte / ein mann mit strahlender Hand". Der Mann ist ein Vater. Er hat Kinder. Aus ihrer Perspektive faßt Seiler die Großangriffe auf die Landschaften, auf die Knochen ins Auge. Einmal laufen die Kinder um die Wette, die Eier dürfen dabei nicht vom großen Löffel fallen. Sie könnten immer weiter laufen: "bis über den oberen viehweg hinaus / bis ronneburg, bis grossenstein / bis dass die welt in scherben fällt".

Ronneburg, Großenstein, das sind Ortsnamen, in denen sich das "Haldenglühn", der strahlende Abraum, verdichtet. Aber Seiler geht es nicht um Reportage, um die Dokumentaraufnahme der Orte und Landschaften. Er sucht nach den Bildern ihres Inwendigwerdens: wie sie den Menschen in die Knochen fahren. Das gilt auch für die zweite Bildquelle, aus der diese Gedichte schöpfen, für die Welt der Ordnung, der Erziehungsrituale, der Geographiestunden und Besuche an sowjetischen Ehrenmälern. Über ihr schwebt das Gegenbild zur finsteren Pechblende: Juri Gagarin, der Mann im Kosmos. Er gehört - "mutter, vater, gagarin & heike" - zur Familie. Er schwebt über "tischdienst" und "milchdienst", über die steifen Mützen der Schüler, über ihre "anstalt" hinweg: "Wir hatten / gagarin, aber gagarin / hatte auch uns". Im letzten Gedicht kreist die tote, ungeliebte "hortnerin", kreisen Ranzen, Brottasche und Turnbeutel "auf verlassnen umlaufbahnen".

Über dem Gedicht mit der Gagarin-Formel steht: "mein jahrgang, dreiundsechzig, jene". Auf Jahrgänge blickt zurück, wer sich an seine Schulzeit erinnert. Aber nicht das Klassentreffen gibt hier die Perspektive vor. Sondern die Suche nach der exemplarischen Erfahrung, nach den prägenden Bildern der eigenen Generation. Dazu gehören auch die Alten, die das Jahrhundert seit 1914 in den Knochen haben. Das Exemplarische ist bei Seiler strikt ortsgebunden. Es ist, auch wenn einmal ein Lied von Procol Harum herüberweht, vom Osten nicht ablösbar. Und, vom ersten Gedicht an, nicht von der Peripherie, von den "Vororten". So findet hier die Gegenstimme zur aktuellen Metropolensehnsucht in der deutschen Literatur ihren reinsten, vollkommen unprovinziellen Ausdruck. Man nehme nur den "grossraum berlin": "letzte-kolonien-geruch & schwerer / einsatz an den lauben . . ." Präziser, mit avancierteren Mitteln als bei Seiler ist die Datschenwelt kaum je ins Bild gefaßt worden, die Nische als heimelig-unheimlicher Ort. Oder die weiße Elster bei Gera, Kanäle, an denen Jugendliche nächtlichen Musikdampfern nachblicken. Nur am Rande des Horizonts um Vorort und Abseits kommt das ganz große, das endgültige Fortgehen in den Blick: "wir wären wenn wir hätten / gehen können immer fort / bei uns geblieben".

Lutz Seiler lebt in Wilhelmshorst, in jenem Haus, das Peter Huchel bewohnte, als er noch Chefredakteur der Zeitschrift "Sinn und Form" war, und entwirft das Veranstaltungsprogramm für die Huchel-Gedenkstätte im Erdgeschoß. Als die Kulturpolitiker der DDR Huchel die Zeitschrift nahmen, schrieb er das Gedicht "Der Garten des Theophrast". Es erschien in dem Band "Chausseen Chausseen" (1963): "Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer, / Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast". Lutz Seiler hat sein Gedicht "die poesie ist mein schiesshund" Peter Huchel gewidmet. Es ist, mit seiner Abgrenzung gegen die "beschriftungshierarchien der stadt", durchaus programmatisch. Und es gibt darin, als perspektivischen Fixpunkt, "die robinien theophrasts".

Aber technisch ist das Gedicht von Huchels poetischem Kosmos meilenweit entfernt. In der Welt von "Sinn und Form" oder bei Stephan Hermlin waren die Koordinaten von Zeit und Raum unter allen Katastrophenbildern noch intakt. Die Verse und Rhythmen waren noch Fluchtpunkte. Theophrast war von einem Schwarm großer Gestalten von Polybios bis Lear umgeben. Südlich-antike Landschaften versprachen Trost. Seiler hat sich davon energisch gelöst. Theophrast ist nur noch ein Einzelgänger, eine ferne Reminiszenz. Mißtrauisch gegen feste Reimschemata, wirft er seine Zeilen wie Girlanden über die Satzstrukturen, im Spiel mit Binnenreimen und Alliterationen, Dylan Thomas sehr viel näher als Peter Huchel. Die Vögel, allgegenwärtig und nicht selten vom Himmel fallend, verleugnen ihre surrealistische Abkunft nicht. "Täglich / pendelt der vorort unter / den bäumen stündlich / fallen am Himmel der höfe // zerriebene schwalben & sauber / gestopfte kommen herauf".

Seilers Gedichte verlangen ein rhapsodisches Sprechen. Seine Stimme läuft an der langen Leine des Schriftbandes. Aber sie will nicht hinaus in den Rap oder die merkbare Einfachheit des Popsongs. Auffällig, aber unpolemisch abwesend sind in diesem Buch das Fernsehen, die Computer, die virtuellen Datenströme, das Englische. Es gibt nur das Radio, die Gagarin-Kindheit vor leuchtenden Röhren und Skalen, das Rauschen entschwindender Frequenzen. Während allerorten die Obsessionen der Virtualisierung, die Mythologien der Vernetzung und frei flottierenden Zeichen blühen, heißt hier das Grundgesetz "gravitation", im Mehrfachsinn von "zu grunde gehen". Es verlangt vom Gedicht die Nähe zur Kompaktheit der Dinge und Körper, die Erdung aller Strahlen und Ströme, die durch das Ich hindurchgehen: "jedes gedicht / nagt am singenden knochen, es / ist auf kinderhöhe abgegriffen / und erzählt".

Dieses schmale, großartige Buch ist wie eine Muschel: ein Stück Deutschland ist darin eingeschlossen und rauscht.

Lutz Seiler: "pech & blende". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 90 S., br., 16,90 DM

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Erst als er aufgegeben hat, die Gedichte des preisgekrönten und doch unbekannten Autors verstehen zu wollen, schreibt Martin Ahrends, habe er Zugang zu ihnen bekommen. Wie Nachrichten aus dem "Zwischenreich von Wachen und Träumen" seien sie erst an ihm vorübergezogen, dann mit Verspätung bei ihm eingetrudelt. Zuvorderst hat Ahrens Erinnerungen an eine DDR-Kindheit wahrgenommen, wie sie der Rezensent selbst auch erlebt hat, aber darunter, in den unteren tieferen Schichten der poetischen Gebilde sieht er einen Ton, eine innere Musik am Werk, die ihn in die magische Welt seiner Kindheit führt, Bilder, Erinnerungen, Gefühle des Nicht-Gelebten auslöst: "Evokationen". Ahrens zitiert den Autor mehrfach, wie zur Bekräftigung: "jedes gedicht/ geht auf ameisenstrassen/ durch die schallbezirke seiner glocke." Bei Ahrens ist die Glocke in Schwingung geraten - dieses eine Mal. Er möchte die Erfahrung nicht missen, sagt er, aber ob er sie wiederholen würde, wisse er nicht. Schwierige Lektüre.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Seilers Kunst ist dies Dazwischen, das ein Geheimnis bleibt, solange es einem nicht gelingt, die Gedichte 'begehbar' zu machen, sie als Evokationen zu lesen, als gedämpfte Schläge an eine innere Glocke und Aufforderung, sich als Ameise durch die eigenen Schallbezirke zu bewegen.« Martin Ahrends DIE ZEIT 20001116