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Behutsam fragt Jo Lendle in seinen erzählerischen Momentaufnahmen der Kindheit nach, dem Vater, den Großeltern, dem Urgroßvater. Nicht Lesen im Kaffeesatz ist Sache seines Ich-Erzählers, oder besser: seiner vielen Ich-Erzähler, denn es handelt sich nicht um fünfzig kürzere Erzählungen, sondern Autopsie.

Produktbeschreibung
Behutsam fragt Jo Lendle in seinen erzählerischen Momentaufnahmen der Kindheit nach, dem Vater, den Großeltern, dem Urgroßvater. Nicht Lesen im Kaffeesatz ist Sache seines Ich-Erzählers, oder besser: seiner vielen Ich-Erzähler, denn es handelt sich nicht um fünfzig kürzere Erzählungen, sondern Autopsie.
Autorenporträt
Jo Lendle wurde 1968 in Osnabrück geboren. Er war Herausgeber der Literaturzeitschrift Edit und als Dozent und Gastprofessor an den Universitäten München, Leipzig und Hildesheim tätig. Jo Lendle lebt heute in Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2000

Marder schwingt Turnbeutel
Leicht und sehr ausgeruht: Jo Lendles wendige Prosagedichte

Während in der jungen deutschen Literatur ringsum die Geschütze der Generationsromane aufgefahren werden, geladen mit Sex, Drugs und Cyberspace, sitzt auf dem Schlachtfeld ein kleines Prosabändchen und spielt Hans Guckindieluft. Unbeeindruckt vom Tamtam der neuen Blechtrommler pflückt es Pusteblumen und sieht zu, wie die Fallschirme durch die Luft trudeln und sich da und dort niederlassen oder hängen bleiben, luftig und mit geringer Bodenberührung. Nichts Besonderes, leicht zu übersehen, und eben darum hier ein erstaunlicher Anblick.

Was die fünfzig Prosaminiaturen in Jo Lendles Debüt fliegen lassen, sind Bilder aus einer Zeit, die er "die Jahre der Turnbeutel" nennt: optische und akustische Momentaufnahmen eines Lebensalters, in dem Welt und Sprache noch fremd und neu erscheinen und nichts sich von selbst versteht. "Damals", erinnert er sich, "habe ich überhaupt häufig still dabei gestanden." Das muss eine gute Position gewesen sein. Denn der unauffällige Dabeisteher schaut mit den Augen der Unschuld, er lässt sich nichts vormachen und hält alles für möglich. Einmal hat er, auf dem Schulweg, einen angeblich toten Mann gesehen, am Straßenrand, eben von der Polizei zugedeckt und den neugierigen Blicken entzogen. Auch seinen toten Großvater hat er, wie sich bei näherer Überlegung herausstellt, "nicht wirklich tot" gesehen. Bleibt die Großmutter, deren Leichnam er zwar vor Augen gehabt, aber kaum wieder erkannt hat: Lässt sich aus dieser schmalen Erfahrungsgrundlage folgern, dass alle Menschen sterben müssen? Da gibt es Anlass zur Skepsis und vorläufig keinen Grund, "an den eigenen Tod zu glauben. Man hört das immer, Tod, aber durch Nachzählen lässt er sich nicht belegen." Das Schönste an diesem Satz ist die leichte Wendung des Kommas vor dem Tod, die das Unvermeidliche zurückverwandelt in ein mit schief gelegtem Kopf beäugtes Wort aus drei Buchstaben.

Weil er nicht so einfach dem Hörensagen glauben muss, richtet dieser Erzähler seinen freundlich staunenden Blick mehr noch auf die Wörter als auf die Dinge. "Nachtrag", heißt der erste Abschnitt, und er beginnt mit dem Satz: "Die Marder haben nichts als ihren Namen." Sie seien "nicht greifbar, wie andere Hauptwörter auch". Ein Schelm, wer da an Nominalismus denkt und sich nicht von dem wunderbar versponnenen Gedankengang fortziehen lässt, an dessen Ende der Marder dann als "das abwesende Tier" vor uns steht: "das Einhorn der Neuzeit", das reine Zeichen. Mit dem aber lässt sich spielen wie mit den Bildern und Redensarten. So kann man die Welt auf Abstand halten und ins Auge fassen. (Und so zeigen sich Lendles Marder nebenbei als entfernte Verwandte von Günter Eichs "Maulwürfen".) Weil er die Wörter so ernst nimmt, dass sie komisch werden, deshalb hört und sieht der Heranwachsende durch sie hindurch auch die Dinge wie neu. Blühende Maiwiesen, "grün und blassgrün und weiß", haben "die Farben schimmelbefallener Keller", was nichts gegen die Wiesen, aber einiges zu Gunsten der Keller besagt. Schön, dass jemand das gesehen hat, und noch schöner, dass er aus dieser Beobachtung keine Schlüsse zieht, sondern sie dahinschweben lässt wie ein Löwenzahnfallschirmchen.

Stilistisch begabten Debütanten zur Sprachbegabung mehr Stoff und Themenfülle zu wünschen gehört zu den Standardsituationen der Kritik. Hier liegt der Fall ausnahmsweise umgekehrt. Lendles mäuschenstiller Sprachwitz entfaltet sich am besten dort, wo er ganz sich selbst und dem Augenblick überlassen bleibt. Das gelegentliche Bemühen, seine Miniaturen zusammenzufügen zum Kindheitsbild einer Generation, wirkt ebenso unnötig angestrengt wie der Versuch, dabei noch ein paar metafiktionale Finten zu schlagen. Leicht gerät dabei das Generations- zum Genrebild, das genaue Detail zum pittoresken Ornament, die Erinnerung zum "Weißt du noch" beim Klassentreffen. Vergnüglich wird Lendles Prosa immer dort, wo gar nichts passiert: "Keine Vorkommnisse. Schon gar nichts fürs Protokoll. Kaum, dass einer die Straßenseite wechselt." Und unwiderstehlich ist sie, wenn sie alle realistische Bodenhaftung verliert und davonschwebt ins zwecklose Blau - wie in der ganz kleinen Geschichte von den winzigsten Fröschen der Welt, mit einem "so kurzen Namen, dass schon das Öffnen des Mundes übertrieben gewesen wäre". In ihren besten Momenten erscheinen diese Prosagedichte selbst wie die kleinen Blasen, die das Messer des Erzählers im Honig hinterlässt: "bewegungslos, leicht und ausgeruht".

Dank der Schärfe solcher Beobachtungen umspielt Lendle die Gefahr des Betulichen fast immer und findet Pointen, wo andere gar nichts sehen. Dichtende Schulfreunde zum Beispiel hatte jeder. Der des Erzählers aber heißt "Rolf, schon das ein halber Trochäus". Wer so hinzuhören vermag, der kann auch unter Mardern ungefährdet Mäuschen spielen. Dass der Dabeisteher so aussieht wie ein lieber Junge, schützt seinen Ausguck und ermöglicht diese Flegeljahre im Miniaturformat. Unter der treuherzigen Maske aber ist dieser poetische Tunichtgut ein Jean-Paulchen mit Turnbeutel.

HEINRICH DETERING

Jo Lendle: "Unter Mardern". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 102 S., br., 14,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dieses Debüt scheint Heinrich Detering ein wenig verblüfft zu haben - im positiven Sinne. Fernab von "Sex, Drugs und Cyberspace" habe der Autor hier ein Bändchen vorgelegt, in dem ausgesprochen wenig passiert, und darin liegt nach Deterings Ansicht eine seiner Stärken. Denn die Texte aus den `Jahren der Turnbeutel` seien "optische und akustische Momentaufnahmen", stille Beobachtungen, oft witzig, mit "Pointen, wo andere gar nichts sehen". Die Beispiele, die Detering zitiert, vermitteln dem Leser hervorragend, was er damit meint, so zum Beispiel die Passage, in der Lendle über winzig kleine Frösche spricht, mit `so kurzen Namen, dass schon das Öffnen des Mundes übertrieben gewesen wäre`. Detering kritisiert lediglich, dass Lendle bisweilen versuche, seine Miniaturen zu einem größeren Bild zusammenzufügen. Dies hält er für vollkommen überflüssig.

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