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Peter Karl Höfler oder Jesse Thoor, wie er sich später nannte, wurde am 23. Januar 1905 in Berlin geboren und ist am 15. August 1952 in Lienz in Osttirol gestorben. Thoor, einer der großen Unbekannten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, hat ein schmales Werk hinterlassen, Essenz aber eines beispiellosen Lebens, geprägt von der Flucht von einem Exil ins andere.
Bestimmend für sein Werk ist die wachsende Sehnsucht nach einer 'Ästhetik des Humanen'. Das auffallendste Merkmal seiner Gedichte: ein ganz unverwechselbares Pathos, das gleichermaßen aggressiv-anarchisch und kindlich-fromm ist.
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Produktbeschreibung
Peter Karl Höfler oder Jesse Thoor, wie er sich später nannte, wurde am 23. Januar 1905 in Berlin geboren und ist am 15. August 1952 in Lienz in Osttirol gestorben. Thoor, einer der großen Unbekannten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, hat ein schmales Werk hinterlassen, Essenz aber eines beispiellosen Lebens, geprägt von der Flucht von einem Exil ins andere.

Bestimmend für sein Werk ist die wachsende Sehnsucht nach einer 'Ästhetik des Humanen'. Das auffallendste Merkmal seiner Gedichte: ein ganz unverwechselbares Pathos, das gleichermaßen aggressiv-anarchisch und kindlich-fromm ist.
Autorenporträt
Jesse Thoor (1905 -1952), Sohn österreichischer Eltern, wurde als Peter Karl Höfler in Berlin geboren. Er führte ein unstetes Vagantenleben, arbeitete u. a. als Zahntechniker, Seemann, Zimmermann sowie Silber- und Goldschmied, emigrierte 1938 über die Tschechoslowakei nach England.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.12.2005

Selbstgeschmiedete Blumen
Die Gedichte des gefährdeten Berserkers Jesse Thoor
Die Literatur der klassischen Moderne, so sollte man meinen, ist inzwischen unter Dach und Fach, gesichtet, ediert, kommentiert, und Ruhe und Reichtum unseres ein wenig faden Zeitalters daran gewendet, den Dichtern, die von der rohen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft so viel auszustehen hatten, endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; mit nunmehr abgeschlossenem Erfolg. Aber zuweilen taucht doch noch ein Name auf, der, aufgrund unvorsichtiger Lebensführung seines Trägers, schon verloren schien in den wüsten Fluten dieser Zeit und nun, da man die Suche nach Übriggebliebenen des großen Schiffbruchs eben einstellen will, doch noch am Schopf emporgerissen und an Bord gehievt wird. Ein solcher Name ist Jesse Thoor.
Das ist natürlich ein angenommener Name - von einem Künstlernamen möchte man kaum sprechen; und damit ist auch bereits die Besonderheit von Werk und Mann berührt. Peter Karl Höfler wurde 1905 als Sohn eines steirischen Tischlers in einem Berliner Arbeiterviertel geboren. Er fängt eine Lehre als Feilenhauer an, aber es hält ihn nicht an einem Ort, und er beginnt ein Wanderleben; in einer Taurolle versteckt, gelangt er als blinder Passagier nach Spanien, arbeitet als Heizer auf Küstenschiffen, lebt in Rotterdam bei einer Prostituierten. Er ist eher kleinwüchsig, doch bärenstark und ein gefürchteter Raufbold.
Ein Akrobat der roten Fahne
Wieder zurück in Berlin, tritt er der Kommunistischen Partei bei und spielt eine Rolle in den Saal- und Straßenschlachten der späten Weimarer Republik. Geschätzt wird er seiner akrobatischen Talente wegen, die ihn befähigen, an den unzugänglichsten Stellen die rote Fahne zu hissen; ansonsten kann die Partei mit dem hartnäckigen Nonkonformisten wenig anfangen. Nach 1933 flieht er zunächst nach Österreich, dann nach Prag, schließlich nach London, wo er sich mit der Herstellung eigenwilliger Goldschmiedearbeiten durchschlägt, ohne je Englisch zu lernen. Die meisten, denen er begegnet, glauben es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Er will T. S. Eliot eine selbstgeschmiedete goldene Blume überreichen und sich im Gegenzug ein Schiff ausbitten, um wie der Fliegende Holländer auf den Weltmeeren zu kreuzen - aber Eliot empfängt ihn nicht. Als er 1952 nach Österreich zurückkehrt, erliegt er dort einer Herzthrombose und stirbt in den Armen der Tante, die ihn wie eine Mutter geliebt hatte.
Die Einzelheiten dieses wildschönen und traurigen Lebens erfährt man aus dem liebevollen Nachwort von Peter Hamm, der die schmale Auswahl besorgt hat, welche jetzt in der Bibliothek Suhrkamp vorliegt. Vielleicht tut Hamm, indem er für Jesse Thoor eine Tradition erfindet, die bei Franz von Assisi und François Villon anfängt und zu Paracelsus, Karl Philipp Moritz und Simone Weil führt, des Guten ein wenig zu viel: als bräuchte die altertümliche Originalität, die aus dem Herzen dieses Revolutionärs hervorbricht, eine solche Beglaubigung, um zu gelten.
Jesse Thoor hat es weniger auf die Perfektion des „hinterlassungsfähigen Gebildes” abgesehen, wie das bei Gottfried Benn heißt, als dass er die Anmut des überreichungsfähigen Ausdrucks erschafft, eine Gabe - wie die goldene Blume, die Eliot nicht haben will. Er bevorzugt die Form des Sonetts; nicht weil er am traditionsreichen Spiel der Subtilitäten interessiert wäre, sondern im Gegenteil, weil dessen Festigkeit ihm eine Freiheit der Füllungen schenkt, die sonst leicht vom Chaos überwältigt würde. So aber bleibt ihm Raum für den vielsilbigen Rhythmus seiner Verse, der als unregelmäßig nur so lang befremdet, bis man sich entschließt, sie laut zu lesen; dann beginnen sie ihr reiches Leben: „Am 23. Januar 1905 unter Schmerzen im Schatten einer Monarchie geboren / Auf Stroh mit Lumpen zugedeckt, später das Schädelchen kahl geschoren: / Gelernt bei den grauen Schwestern Beten, Singen und Speichelschlucken, / wenn Luft im Magen gärt und Träume wie der Frühling seinen Nacken jucken. / Wer nimmt es dem Knaben krumm, dass er die Welt erbost beschaute? / Ihm spross die junge Republik gewiss nicht artig um den dünnen Bart. / Ein Rest Tabak aus seinem Munde und drei Tropfen Blut; auf diese Art / galt es gleich viel, als er der Freiheit Unterkunft und Barrikaden baute.”
Zu Thoors Auffassung von Dichtung gehört auch, dass er ihr ganz unmittelbar die alttestamentarische Kraft des Segens zutraut. Solcher Segen ist der Dank, den der immer Mittellose und Hilfsbedürftige abstattet: „Und deinen Kindern wünsche ich Gesundheit und Gewänder. / Und Butter auf dem Brot und bunte Bänder. / Und vieles, das du ihnen lange schon versprochen. / Und dir, mein Guter, einen allzeit steifen Ständer; / dass, kommt einmal ein Weib zu dir ins Bett gekrochen, / sie nicht mehr denkt: ach, welch ein hohler Knochen!”
Die Tages- und Jahreszeiten spielen eine große Rolle in diesen Gedichten, aber nicht im Sinn empfindsamer Symbolik, sondern so, wie der Landstreicher es mit Herbst und Winter, Abend und Nacht zu tun bekommt. „Seht - bald ist es Nacht. Über den Himmel schon läuft / der beinerne Mann. Ah - läuft, bis er selber am Ende ist. / Seht nur, wie er das Glas bis zur Neige säuft.” Das Gefängnis in Kensington hat seinen Auftritt, aber dazwischen finden sich Trinklieder und das bemerkenswerte Sonett „An ein Fünfzigpfennigstück”, damals viel Geld für jemand, der wenig davon hatte. Thoor erkennt in der Münze den Schicksalsgenossen: „Und wüsste ich, aus welcher Tasche du in meine Tasche rolltest, / es würde meine Zärtlichkeit zu dir in keiner Weise ändern. / Du kleiner Vagabund, schweig still -”.
Es gibt einen ganzen Kranz von „Irrenhaussonetten”. In den späten Gedichten, unter dem Titel „Lieder und Rufe” von den übrigen abgesetzt, nähert sich etwas, das offenkundig immer gefährdet war, der Zerrüttung. Dem auswählenden Takt Peter Hamms ist wohl geschuldet, dass hier nur solche Verse aufgenommen sind, in denen der erahnbare Auseinanderfall noch einmal das Echo träumerischen Zusammenhangs findet: „In einem Haus, auf feinem Tannenreiser, / sitzen ein Bettelmann und ein Kaiser. / Beide summen und lachen und trinken / und reden laut und leise und winken. / Ein volles Jahr rollt über das Dach. / Ein volles Jahr rollt über das Dach.”
Sehr kurz muss das Gedicht jetzt sein, damit es noch einmal Glück haben kann, in dieser seiner undeutbaren, schlafenden Gestalt. Es hat grammatisch zu bröckeln begonnen, was schlimme Befürchtungen weckt. Doch noch daraus zieht es Gewinn: Ungewiss zwar sind ihm Singular und Plural geworden (einen „Reiser” als solchen gibt es nicht); aber der Coup gelingt. Nicht von der Kürze handelt es, sondern im Gegenteil von der Dauer: ein Jahr in sechs Zeilen, genaugenommen in zwei, die sich aber, wo man den Reimvers erwartet, stattdessen den (bei solcher Knappheit) eminenten Luxus wörtlicher Wiederholung gönnen. So erst rollt das Jahr so voll und so langsam, wie auf die Schnelle behauptet wird. Jesse Thoor pflegte sich mit Segenswünschen zu bedanken. Dies scheint auch hier angemessen: Möge die Bibliothek Suhrkamp, die sich solchen Funden weiht, ewig gedeihen! BURKHARD MÜLLER
JESSE THOOR: Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Hamm. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 100 Seiten, 10,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wer glaubt, dass die literarische klassische Moderne schon voll und ganz erschlossen ist, irrt und kann sich mit dieser Auswahl von Gedichten von Jesse Thoor mit einem unbekannten Lyriker vertraut machen, meint Burkhard Müller. Zunächst lässt er den bewegten Lebenslauf Thoors, der ihn über die Seefahrt und Aufenthalten in Spanien und Rotterdam in den 20er Jahren nach Berlin zurückführt, wo er als "gefürchteter Raufbold" nicht unerheblich an den "Saal- und Straßenschlachten" beteiligt ist, Revue passieren. Dieses "wildschöne und traurige Leben" wird in einem "liebevollen Nachwort" von Peter Hamm mitgeteilt, wobei es der Rezensent es eigentlich unnötig findet, dass Hamm sich so sehr darum bemüht, Thoor "eine Tradition zu erfinden", die von Franz von Assisi bis Simone Weil reicht. Denn eigentlich spricht die "altertümliche Originalität" der Gedichte, die zumeint in Sonett-Form gefasst sind, für sich, versichert der begeisterte Rezensent. Am Ende preist der Rezensent auch noch die Bibliothek Suhrkamp für die Herausgabe dieses "Fundes".

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