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MILTON, DELAWARE, 1682 Der Pflanzer Vaark nimmt gegen seine Überzeugung aus Mitleid ein junges Sklavenmädchen in Zahlung, doch bald stirbt er, und das Mädchen bleibt mit drei anderen Frauen, die das Schicksal dort zusammengeweht hat, allein auf seiner Farm zurück. Zusammen kämpfen sie gegen die Wildnis - die der harschen Natur um sie herum und die in ihnen selbst ..." Die Markenzeichen von Morrisons Romanen - die auf den Kopf gestellte Geschichte, das schreckliche Opfer, die verdrehte Liebe, die Volksweisheiten, die Geister und ein biblisch blutiger, herzzerreißender Plot - machen dieses Buch…mehr

Produktbeschreibung
MILTON, DELAWARE, 1682
Der Pflanzer Vaark nimmt gegen seine Überzeugung aus Mitleid ein junges Sklavenmädchen in Zahlung, doch bald stirbt er, und das Mädchen bleibt mit drei anderen Frauen, die das Schicksal dort zusammengeweht hat, allein auf seiner Farm zurück. Zusammen kämpfen sie gegen die Wildnis - die der harschen Natur um sie herum und die in ihnen selbst ..."
Die Markenzeichen von Morrisons Romanen - die auf den Kopf gestellte Geschichte, das schreckliche Opfer, die verdrehte Liebe, die Volksweisheiten, die Geister und ein biblisch blutiger, herzzerreißender Plot - machen dieses Buch so unwiderstehlich wie seinen Geschwisterband ' Menschenkind '." The Village Voice
Autorenporträt
Die amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison wurde am 18. Februar 1931 in Lorain, Ohio als zweites von vier Kindern eines schwarzen Arbeiterehepaares geboren. Nach dem Besuch örtlicher Schulen 1949 Beginn des Studiums an der Howard University in Washington, DC. Erste Erfahrungen mit dem Südstaaten-Rassismus während einer Tournee als Mitglied der Universitätstheatergruppe. Ab 1953 Anglistikstudium an der renommierten Cornell University bis zum Magisterabschluss 1955. Lehrtätigkeit, zunächst an der Texas Southern University (1955-1957), danach an der Howard University (1957-1964). Ehe mit dem jamaikanischen Architekten Harold Morrison, aus der zwei Söhne hervorgehen. Nach der Scheidung 1964 Rückkehr nach Lorain. 1965 Umzug nach New York und Lektorentätigkeit.
In ihren Werken beschreibt sie unter anderem die Rassenprobleme in ihrer Heimat sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der schwarzen Bevölkerung. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis (1988) und dem Literatur-Nobelpreis (1993) gehört sie zu den bedeutendsten Vertretern der afroamerikanischen Literatur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2010

Freie Schwarze, weiße Sklaven
Vier Frauen auf einer Farm vor dreihundert Jahren: Toni Morrison erfindet in ihrem Roman „Gnade” die Geschichte Amerikas neu und erzählt von einer Zeit, als die Verhältnisse der Rassen und Klassen noch offen zu sein schienen Von Burkhard Müller
Liebe” hatte das letzte Buch der schwarzen amerikanischen Nobelpreisträgerin Toni Morrison geheißen; und diese Liebe war ein so vieldeutig vergifteter Begriff gewesen, dass man den neuen Roman, der den Titel „Gnade” trägt, mit Bangen zur Hand nimmt: Wie wohl wird diese Gnade beschaffen sein, wie verengt durch die Umstände und verbittert durch die Erfahrungen, die die Menschen darin machen müssen?
Diesmal taucht Morrison noch tiefer in die Vergangenheit ein als beim letzten Buch, das seinen Anfang um 1930 genommen hatte, um ein ganzes Vierteljahrtausend, bis in die ersten Zeiten der Kolonisation Nordamerikas. Die „Frontier” zur Wildnis ist im Jahr 1682 noch kaum über die Küste des Atlantiks hinausgekommen, jederzeit können den Siedlern selbst in Delaware und Maryland Bären oder Indianer in den Weg treten, sogar der Import von schwarzen Sklaven steckt noch in den Kinderschuhen.
Unter diesen Bedingungen fällt es einer zusammengewürfelten Schar von vier Frauen recht schwer, ganz allein eine Farm zu betreiben. Der „Sir” ist den Pocken zum Opfer gefallen; seine Frau Rebekka, die er sich gegen Zahlung und ohne vorherige Bekanntschaft aus Europa hat kommen lassen und mit der er unerwartet glücklich wurde, übersteht die Krankheit, aber bleibt verhärmt zurück. Dann gibt es Lina, die Indianerin, die den Laden im Wesentlichen zusammenhält, versprengte Überlebende ihres Dorfs nach einer Epidemie; Sorrow, ebenfalls ein Waisenkind, aber aus Europa, bockig, doch voll Hingabe für ihre kleine Tochter; und Florens, eine Negersklavin, die als Kind auf die Farm kam. Florens unterscheidet sich von den anderen Frauen darin, dass sie lesen und schreiben kann – ein katholischer Priester hat es ihr früh beigebracht. Das Buch führt sie als Ich-Erzählerin ein und lässt sie ihre Geschichte mit einem Nagel in Holz ritzen, für den von ihr geliebten schwarzen Schmied, der indes weder lesen kann noch etwas von ihr wissen will. So scheint zum Schluss vergeblich und ohne Nachfolge, was sie tut.
Und in der Tat wird die Geschichte des neuen Landes ja nicht dem hier entworfenen Modell folgen. Was die Autorin augenscheinlich vor allem gereizt hat, das ist die Offenheit jener Frühzeit, als die Verhärtung der Klassen- und Rassenverhältnisse, die sich im Lauf der nächsten zwei Jahrhunderte einstellen sollte, noch nicht unausweichlich schien. Es gibt freie Neger – der Schmied ist einer – ebenso wie weiße Sklaven, die ewig nicht aus den Schulden ihrer Überfahrt herauskommen und deren Arbeitskraft beliebig weiterveräußert werden kann. Zwei von ihnen fühlen es wie einen Stich, als sie sehen, wie der Schmied vom Sir für seine Leistungen bares Geld in die Hand bekommt, Geld, das sie nie kriegen werden. Noch steht nicht fest, ob sich hier Niederländer oder Briten erfolgreich festsetzen werden; vielleicht behaupten ja auch die Indianer das Feld. Entbehrung, Krankheiten, harte Arbeit prägen jedermanns Leben.
An Toni Morrison wird gern das „Poetische” ihrer Bücher gerühmt. In dieser etwas vagen Zuschreibung steckt jedenfalls als doppelter Kern ihre Kürze und ihr Takt. Immer wieder staunt man, mit wie wenigen Worten Morrison klar Grundsätzliches sagt, ein Vermögen, das vielleicht von allen schriftstellerischen Qualitäten am spätesten reift. Den tiefen Groll in der Unterwürfigkeit der schwarzen Sklaven drückt sie so aus: „er hielt es nicht mehr aus inmitten dieses Rings von Sklaven, deren Schweigen ihn an einen Erdsturz denken ließ, den man aus großer Ferne sah.”
Von Sorrow heißt es: „Ihre Verschlossenheit schützte sie; ihre Bereitwilligkeit zur Paarung war ein Geschenk des Himmels.” Dies ist gesprochen aus der Perspektive von Scully, einem der beiden weißen Sklaven; ganz nüchtern wird es gesagt, ohne Ironie oder Ressentiment, als Teil einer Bestandsaufnahme dessen, was er überhaupt vom Leben hat. Jeder kommt in diesem Buch zu Wort, meist in Form des personalen Erzählens, im Fall von Florens sowie ihrer Mutter in Ich-Form.
Aus dieser taktvollen Art, jedem das Seinige zu lassen, resultiert jedoch ein strukturelles Problem. Zu oft springt die Perspektive um, und die zwei Ich-Erzählerinnen, denen man sich gern anvertraut hätte, haben auf den nur rund zweihundert Seiten nicht genügend Raum, um sich voll zu entfalten. Vielleicht auch gleichen sie einander ein wenig zu sehr. Denn Morrisons knappe, federnde Sprache, von ihrem deutschen Übersetzer Thomas Piltz diesmal sehr gut nachgebildet, ist stärker als das Einzelfigürliche und dient ihr dazu, über die historischen Distanzen hinweg das elementar Menschliche zum Vorschein zu bringen.
Das ist ihre Art, Verschollenes zurückzuholen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wer aber garantiert, dass nicht vor dreihundert Jahren vieles von dem, was ihr als eine unveränderliche Konstante menschlichen Daseins und Denkens gilt, doch ganz anders war? Einen äußeren Hinweis für die Gefahren solchen Vorgehens hat man daran, dass im Buch zweimal Stare vorkommen, ganz so, als gehörten sie zur altheimischen Tierwelt Amerikas. Diese Vögel sind aber nicht vor 1870 aus Europa eingebürgert worden.
Und wie steht es nun mit der Gnade? „Es gibt keinen Schutz, aber es gibt Unterschiede”, sagt die Mutter zum Schluss. Der „Sir” wollte eigentlich sie selbst und ihren kleinen Sohn zur Begleichung einer Geldschuld mitnehmen; aber dann sah er die achtjährige Florens, die in ganz unpassend großen Schuhen herumlief, und er musste lachen. „Ich sagte, die. Nehmt die hier, meine Tochter. Weil ich merkte, dass der große Mann dich als Menschenkind sah, nicht als eine spanische Münze. Ich kniete mich vor ihn hin. Hoffte auf ein Wunder. Er sagte ja.”
Es ist ein weißer Mann, den die schwarze Autorin diesen Akt der Güte an einer schwarzen Frau vollbringen lässt. Um ein Wunder und damit einen Eingriff Gottes aber handelt es sich natürlich nicht, sondern um etwas, das ein Mensch aus Mitleid einem anderen spontan erweist, selbstloser und bewegender, als es die Liebe je sein könnte.
Der englische Titel lautet auch nicht, wie man wohl erwartet hätte, „Grace”, sondern „A Mercy”. Aber was ist das für ein Leben, wo die höchste mögliche Gnade es immer noch einschließt, dass eine Sklavenfamilie auseinandergerissen wird? Hierzu schweigt Toni Morrison und überlässt es dem Leser, ob er diese Geschichte für eine glückliche oder traurige halten will.
Toni Morrison
Gnade
Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 218 Seiten, 18,95 Euro.
„Ihr Schweigen ließ ihn an einen Erdsturz denken, den man aus der Ferne sah”
Harte Arbeit prägte das Leben der Kolonisten: Schwedische Siedler in Delaware, 17. Jahrhundert. Handkolorierter Holzschnitt. Foto: North Wind Picture Archives/akg
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2010

Das Sklavenmädchen ist zwanzig Pesos wert

In "Gnade" kehrt die amerikanische Nobelpreisträgerin Toni Morrison eindrucksvoll zu ihren Wurzeln zurück. Der Roman übertrifft selbst ihr Meisterwerk "Menschenkind".

Von Thomas David

Ein heller Schatten liegt auf der Titelseite von Toni Morrisons jüngstem Roman: Die transparente Illustration einer Landkarte, die in der deutschen Ausgabe von "A Mercy" fehlt. Gekrümmte Linien wie Venen, die sich auf der Haut abzeichnen; Flüsse und Berge wie Narben im Gesicht, obgleich die Namen, die in alten Lettern auf der Karte stehen, von der Unschuld des Landes erzählen.

Chesapeake Bay, Cape Hatteras; Powhatans, Name der mächtigen indianischen Konföderation, die zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts im Krieg mit den Siedlern der englischen Virginia Company lag. "Ich möchte gewissermaßen die Landkarte einer kritischen Geographie entwerfen", so Morrison in "Schwarze Angelegenheit", ihrem berühmten Essay, in dem sie über den Afrikanismus in der amerikanischen Literatur spricht, "und diese Karte dazu benutzen, so viel Raum für Entdeckungen, intellektuelle Abenteuer und detaillierte Erkundungen zu eröffnen, wie es einst die ersten kartographischen Darstellungen der Neuen Welt taten - ohne das Mandat für Eroberungen allerdings." Auf der ihrem Roman vorangestellten Karte hat Morrison mit eigener Hand die von den europäischen Kolonisten eingeführten Namen getilgt und die Ostküste der Vereinigten Staaten für die Ureinwohner des Landes reklamiert: In "Gnade", so der um den Wert eines Artikels ärmere deutsche Titel, erkundet sie das Versprechen der Freiheit, das der Vision des amerikanischen Traums zugrunde liegt - genauer: die Arglist dieses Versprechens, die den Glanz der Freiheit überschattet. Muhheakantuck, am Mount Marcy entspringt ein Fluss.

Das blendende Gold des Nebels, glühendes, zähes Licht: Als Jacob Vaark zu Beginn durch die Brandung und den Schlick ans Ufer watet, hat er das Gefühl, er kämpfe sich "durch einen Traum". Vaark ist ein im Armenhaus der Alten Welt aufgewachsener und durch das überraschende Erbe eines ihm fremden Verwandten zu Grundbesitz gekommener Abenteurer, ein junger Kaufmann, der im Oktober 1682 an der Küste von Virginia an Land geht und einer Wegspur der Lenape-Indianer Richtung Maryland folgt, um bei einem seiner säumigen Geschäftspartner die Schulden einzutreiben. Als die einzige katholische unter den englischen Kolonien ist Maryland "römisch bis ins Mark", die Tempel der Priester stehen "wie Menetekel an öffentlichen Plätzen": Die tiefe Verachtung, die der Protestant Vaark in der Provinz auf Schritt und Tritt empfindet, mündet bei seiner Ankunft auf der Plantage des portugiesischen Pflanzers D'Ortega in komplizierte Gefühle aus Ekel und Neid, die Toni Morrison in wenigen, präzise gesetzten Strichen aufzeichnet, eindringlich und leicht. Senhor D'Ortegas Söhne stecken bei schwüler Hitze unter gepuderten Perücken, seine Frau ist auf verschwenderische Weise töricht und so blasiert wie er. In Jublio, D'Ortegas Palast aus honigfarbenem Stein, brennen tagsüber Kerzen, und obwohl Vaark den neureichen Katholiken verabscheut, verlangt es ihn nach ähnlichem Wohlstand, nach sozialem Status, nach Kindern für ihn und seine liebenswerte, dralle Frau.

Drei tote Babys und der tödliche Unfall seiner fünfjährigen Tochter haben Vaarks Leben verdunkelt: Als D'Ortega ihm zur teilweisen Begleichung der Schulden statt Geld einen seiner Sklaven anbietet, nimmt er auf Flehen einer Mutter deren kleine, vielleicht siebenjährige Tochter in Besitz. "Der Glanz des Reichtums", so Morrison in ihrem Essay "Vom Schatten schwärmen", "entsteht in der Sklaverei von Armut, Hunger und Schulden"; erst eine "Flotte voller kostenloser Arbeitskräfte", so Morrison in ihrem Roman, in dem sich das Lebensthema der 1931 in Ohio geborenen Schriftstellerin aufs Eindrucksvollste kristallisiert, "machte einen Müßiggang möglich, wie ihn D'Ortega pflegte". Vaark hat nur Häme übrig für einen Wohlstand, "der auf der Arbeit von Gefangenen beruhte, die in Gefangenschaft zu halten nur umso mehr Gewalt erforderte". Das Sklavenmädchen, das er aus Mitleid in Zahlung nimmt, ist zwanzig Pesos wert.

Florens, die in Jublio die abgelegten, ihr viel zu großen Schuhe ihrer Herrin trug, ist die eigentliche Heldin des Romans, die unbekannte Stimme, mit deren sich erst im Rückblick erschließenden Monolog Toni Morrison die Erzählung anheben lässt; Jacob Vaarks Laune, das Mädchen nicht zuletzt zum Trost seiner Frau Rebekka zu sich auf die Farm zu nehmen, wird erst ganz am Ende der Erzählung als Gnade erkannt - ein Wort, das in dem Roman nur ein einziges Mal fällt, obgleich Morrison es zuvor intensiv bedenkt, in verschiedenen Situationen auslotet und prüft und schließlich doch immer zurückhält, bis es auf der letzten Seite in einem berührenden Augenblick der Erkenntnis seine wahre Bedeutung erfährt. Morrison etabliert Vaark auf überzeugende Weise als ihren Protagonisten, dann bricht sie überraschend die Perspektive und erzählt abermals aus Sicht der älteren Florens, die sich acht Jahre nach ihrer Ankunft auf der Farm, nicht lange nach Vaarks hier nur beiläufig erwähntem Tod, auf den Weg durch die Wildnis zu dem Schmied macht, der das kunstvolle Tor angefertigt hat, das zum Besitz des schließlich zu Reichtum gekommenen Farmers führt.

Florens' beschwerlicher, nicht selten gefährlicher Fußmarsch nach Norden, ihre Liebe zu dem namenlosen schwarzen Schmied, die sie in der Ansprache ihrer Ich-Erzählung immer wieder heraufbeschwört, ist die Richtung, die Morrisons Roman nimmt: der lineare Erzählfaden, um den sich der hervorragend konstruierte Roman in zahlreichen weiteren Perspektivwechseln, in Rückblenden, auf Nebenwegen anderer Figuren, schlängelt. Die vielschichtige Textur der dichten und sehr konzentrierten, im amerikanischen Original nicht einmal 170 Seiten langen Erzählung macht Morrisons Roman dabei so überwältigend schön und reich wie die weite Landschaft, in der er spielt.

Das Konzept der Freiheit sei nicht in einem Vakuum entstanden, so Morrison in "Vom Schatten schwärmen", wo sie die "parasitäre Natur weißer Freiheit" benennt: "Nichts rückte die Freiheit derart ins Licht wie die Sklaverei - wenn sie sie nicht überhaupt erst erschuf." In "Gnade" überprüft Morrison ihre eigene These und blickt zurück auf die Anfänge der schwarzen Sklaverei, auf eine Zeit, in der die "Konstruktion von schwarzer Hautfarbe und Sklaverei", dem blutigen Fundament, auf dem der kraftvolle amerikanische Mythos vom land of the free der schwarzen Bevölkerung über Generationen die Knochen brach, noch nicht errichtet war. Im Jahr von Barack Obamas Wahl zum Präsidenten - "Gnade" erschien im amerikanischen Original im November 2008 -, transzendiert Toni Morrison ihr 21 Jahre zuvor veröffentlichtes Meisterwerk "Menschenkind" und den darin geschilderten Gnadenakt einer Sklavin, die ihre Tochter tötet und ihr auf diese Weise die Freiheit zu schenken versucht, und dringt in eine Vergangenheit vor, in der sich die Hierarchie der Rassen noch zu etablieren begann.

"Gesunde deutsche Frau wird in Pacht gegeben . . . Lehndiener mit Erfahrung als Kutscher gesucht, weiß oder schwarz . . .": Zu den Nebenfiguren des Romans zählen unter anderen die versklavte, den Presbyterianern abgekaufte Indianerin Lina und der Homosexuelle Willard, der über die siebenjährige Schuldknechtschaft hinaus seine Überfahrt bei Vaark abarbeitet. Doch die neben Florens faszinierendste, die charismatischste und stärkste Figur des Romans ist jener Schmied, der blacksmith, dessen Schmiede Florens am Ende ihres schweren und langen Weges erreicht. Dieser Schwarze ist ein freier Mann, und er steht stark und schön in der brutalen, von Toni Morrison mit beeindruckender Kraft imaginierten Welt. Er ist es, der Florens lehrt, was es heißt, frei zu sein, damit sie am Ende sagen kann: "Ob Sklavin. Ob frei. Ich bestehe."

Toni Morrison: "Gnade". Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 224 S., geb., 18,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Burkhard Müller sieht Toni Morrison mit ihrem jüngsten Roman "noch tiefer in die Vergangenheit" eintauchen als mit ihrem Romanvorgänger "Liebe". Für den Rezensenten ist das eine Rückkehr in den Teil der amerikanischen Geschichte am Ende des 17. Jahrhunderts, als Rassen- und Klassengrenzen noch durchlässig schienen. Der Roman erzählt die Geschichte von vier Frauen, die nach dem Tod des Farmbesitzers die Farm allein weiter bewirtschaften, als da sind die Witwe, eine schwarze Sklavin, eine Indianerin und eine Waise aus Europa, fasst der Rezensent zusammen. Das viel gerühmte "Poetische" in Morrisons Texten erkennt der Rezensent in ihrer sprachlichen Zurückhaltung und Knappheit, eine Fähigkeit, die sich erst nach langer Zeit entwickeln kann, wie er meint. Aus dieser positiven Eigenheit allerdings erwachsen der Autorin in diesem Roman Strukturprobleme, denn indem sie jeder der vier Hauptfiguren eine eigene Stimme gebe, bekomme die einzelne Figur nicht immer genug Raum und sie seien sich vielleicht auch etwas zu ähnlich, wie Müller kritisiert. Aber wahrscheinlich gehe es der Autorin ohnehin mehr darum, "Allgemeinmenschliches" aus der verschollenen Geschichte Amerikas zurückzuholen, vermutet der Rezensent.

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