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Die Menschen in den Geschichten Terézia Moras kommen aus kleinen Dörfern unweit der Grenze zwischen Ungarn und Österreich. Diese Grenze bestimmt das Leben derer, die an ihr wohnen - nicht nur als ein Streifen Land mit Schlagbaum, sondern ebenso als eine magische Region, mit der sie lebenslang auf Gedeih und Verderb verbunden sind und die sie, auch wenn sie das Land verlassen sollten, nie wirklich überwinden können. Derweil üben sie sich in zerstörerischem Trinken genauso wie in lustvollem Feiern, im Singen so fleißig wie in besinnungslosem Prügeln. Und die Erinnerung an diese Grenzregion mit…mehr

Produktbeschreibung
Die Menschen in den Geschichten Terézia Moras kommen aus kleinen Dörfern unweit der Grenze zwischen Ungarn und Österreich. Diese Grenze bestimmt das Leben derer, die an ihr wohnen - nicht nur als ein Streifen Land mit Schlagbaum, sondern ebenso als eine magische Region, mit der sie lebenslang auf Gedeih und Verderb verbunden sind und die sie, auch wenn sie das Land verlassen sollten, nie wirklich überwinden können. Derweil üben sie sich in zerstörerischem Trinken genauso wie in lustvollem Feiern, im Singen so fleißig wie in besinnungslosem Prügeln. Und die Erinnerung an diese Grenzregion mit ihren skurrilen, manchmal liebenswerten, manchmal fremdartig brutalen Einwohnern, ihrer hoffnungslosen Sehnsucht nach dem guten Leben, ihren archaischen Gewohnheiten und verbissenen Ansichten beherrscht die Geschichten Moras wie ein Vexierbild, in dem die Landschaft der eigenen Heimat zur Fremde wird, zur "seltsamen Materie". Mit ihr ist sie verwachsen, und von ihr ist sie zugleich ausgestoßen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.1999

Aus dem Alb getanzt
Terézia Moras beeindruckendes Debüt · Von Hubert Spiegel

Es gibt Bücher, die nach einem Motto verlangen. Ein Satz genügt, um das besondere Aroma ihrer Seiten aufzurufen, ihren Duft, ihre Atmosphäre. Über dem ersten Buch Terézia Moras könnten Sätze stehen wie "Makellos ist nur das Unglück" oder "Vollkommenheit gibt es nur im Scheitern". Die elf Erzählungen, mit denen die 1971 in Ungarn geborene Autorin jetzt debütiert, atmen allesamt die stickige Luft von Unglück und Freudlosigkeit, von Verhältnissen, deren Eintönigkeit so groß ist, dass sie abstumpft bis zur Leblosigkeit, von einer Welt, deren Perspektiven sich in Armut, Gewalt und Alkohol erschöpfen. Mag der Mikrokosmos der ungarischen Dörfer nahe der Grenze zu Österreich, wo Terézia Moras Geschichten spielen, auch aus jener "seltsamen Materie" bestehen, die der Titel benennt, ohne dass die Erzählungen sie näher definierten - was diese Welt zusammenhält, ist allemal Pech und Elend.

Es ist das Elend des Ostblocks, der Welt hinter dem Eisernen Vorhang, der nie so eisern war, dass sich nicht an der einen oder anderen Stelle der Saum ein wenig hätte lüften lassen. Moras Erzählungen handeln vom Leben im Grenzbereich, im doppelten Sinn des Wortes: nahe der Grenze zum Westen, zu Österreich, und nahe dem Wahnsinn, dem Zusammenbruch, der endgültigen Aufgabe. Das Personal dieser elf Erzählungen besteht vor allem aus Dauergästen in dieser doppelten Transitzone: "Wir haben uns damit abgefunden, dass alles hier herunterkommt, durch uns hindurch, als gäbe es uns gar nicht", heißt es in "Der See", einer der schönsten Erzählungen des Bandes. Sie berichtet von einer merkwürdigen Familie: der Vater ein Bäcker, der nicht mehr bäckt, der Großvater ein Fischer, der nicht mehr spricht, aber den Lebensunterhalt der ganzen Familie bestreitet, indem er Fremde durch den moorigen, verschilften See ans andere Ufer bringt, in den Westen, in die Freiheit. Die Fremden zahlen mit dem, was ihnen noch geblieben ist an Geld oder Schmuck. Die Familie, acht Jungen und ein Mädchen, die Ich-Erzählerin, lebt vom Erlös der goldenen Ringe. Was sie nicht zum Leben brauchen, tragen sie an den Händen, Schmuck, in den fremde Namen eingraviert sind, Vessela oder Maria.

In einer anderen Erzählung, die vom nächtlichen Kontrollgang zweier Grenzschützer berichtet, heißt es: "Wahrscheinlich ist diese Gegend von Gott gemacht als eine Art Prüfung, man muss hier noch einmal durch das Schlimmste, bevor man endlich drüben ist." Terézia Mora ist seit neun Jahren drüben, in Berlin. Aufgewachsen bei der Großmutter, in einem Fünfhundertseelen-Dorf siebzig Kilometer von der ungarisch-österreichischen Grenze entfernt, zweisprachig groß geworden und schon damit zur Außenseiterin abgestempelt, ging sie nach einem einjährigen Studienaufenthalt in Budapest im Jahr 1990 nach Berlin, wo sie Theaterwissenschaften und Filmgeschichte studiert hat. Nach dem Examen lernte sie, Drehbücher fürs Fernsehen zu schreiben. Aber schon bevor ihr Debütband erschienen ist, war Terézia Mora eine preisgekrönte Autorin. Nach zwei kleinen Auszeichnungen erhielt sie in diesem Sommer für "Der Fall Ophelia" den Ingeborg-Bachmann-Preis (F.A.Z. vom 28. Juni). In jener PR-Agentur, die sich unter dem Tarnnamen "Junge deutsche Literatur" zur Zeit nicht ohne einen gewissen Erfolg bemüht, Kunst durch Marketing zu ersetzen, hätte sie damit sofort eine Führungsposition beanspruchen dürfen. Aber im Gegensatz zu manchen ihrer Kollegen kann diese Autorin nicht nur lesen, reisen oder Radfahren, sondern auch schreiben.

"Großvater trinkt. Alle Erwachsenen trinken. Jeder nach seiner Begabung. Großvater mit der Ehrfurcht, die man einem seit fünfzig Jahren treuen Weggefährten und Mentor schuldet. Großmutter heimlich, aus kleinen, dickwandigen Gläsern, mit an den Körpern gepressten Ellenbogen katholischer Mädchenschulen. Mutter mit der märtyrerhaften Hysterie und Unersättlichkeit verkannter Diven. Vater mit der Hast und Aggression der sich ewig im Kreis Bewegenden. Onkel Fred mit dem Schmatzen der Schamlosen, wie er auch isst, mit viel Luft zwischen jedem Bissen und jedem Schluck."

So entsteht auf wenigen Zeilen, in einem Absatz nur, zu Beginn der Erzählung "Durst" das Porträt einer Familie, der sich wenige Sätze später auch die Ich-Erzählerin beigesellt: "Als wir auf den Tod und das nun paradiesische Leben von Onkel Fred anstoßen, habe ich roten Traubensaft in meinem Glas. Süßen Traubensaft, der aussieht wie der dunkelrote Wein, der auf den Hügeln hinter unserem Haus wächst. Ich bin stolz, zu trinken wie die Erwachsenen. Nur mein Saft riecht und schmeckt süß, wie ich selbst."

Die Frau, die sich hier an eine Kindheitsszene erinnert, ist achtundzwanzig Jahre alt. Als der Onkel starb, war sie fünf, als sie den Großvater zum letzten Mal sah, sechzehn Jahre alt. Hat sie die Familie längst verlassen oder lebt sie noch immer im Kreis der Trinker? Ist der letzte Satz der Erzählung, "Ich sage ja und gehe", als Erinnerung zu verstehen oder als Ankündigung? Terézia Mora versteht es geschickt, ihre kurzen, kaum einmal mehr als zwanzig Seiten umfassenden Erzählungen in der Schwebe zu halten zwischen Erinnerung und Wunschdenken, kindlicher Imagination und harter, oft brutaler Realität. Diesem Balanceakt vor allem ist es zu danken, dass ihr Pathos schlank bleibt und sich auch dort nicht in Kitsch verwandelt, wo dies leicht der Fall sein könnte, etwa in der Erzählung von der Buffetfrau, einem späten Mädchen, das in verzweifelter, sprachloser und einfältiger Liebe zu ihrem verbitterten "Försterbruder" dahinlebt.

Wie die Buffetfrau, die in der grünen Männeruniform der Forstbeamten hinter der Theke steht und nicht einmal Worte oder Bilder für ihre Träume findet, sind viele Figuren dieses Buches auf der Flucht, ohne es selbst zu merken. Sie fliehen vor der Ehefrau oder vor den Nachstellungen der eigenen Mutter, wie der muskelbepackte Hotelpage, der Boxer werden möchte, aber sich nicht traut zuzuschlagen ("Die Lücke"). Sie fliehen vor der Vergangenheit, der Gegenwart und sogar vor der Zukunft, wie jene elfjährige Ich-Erzählerin, die Tänzerin werden möchte ("Am dritten Tag sind die Köpfe dran").

Nur eine der Figuren wagt den Aufbruch tatsächlich. Die Erzählung "Das Schloß", die diesen beeindruckenden Debütband beschließt, berichtet vom Fluchtversuch einer Achtzehnjährigen, die ihr Heimatland verlassen will. Auf dem Weg zur Grenze übernachtet sie in einem halb verfallenen Herrenhaus. Ein Aufseher überrascht sie im Schlaf und stiehlt ihr den Pass. Der vermeintliche Feind, der zunächst wie ein Monstrum erscheint, ein unbeholfener grober Klotz mit einem steifen Bein, ihr "Quasimodo", entpuppt sich als gutmütiger junger Mann auf Freiersfüßen, der der durchreisenden Erzählerin Avancen macht: Das Schloss soll restauriert werden, Arbeitsplätze winken, sogar an Dienstwohnungen ist gedacht. Am Ende der Geschichte ist die harmlose Bestie tot und die gefährliche Schöne frei. Die Frage, die leitmotivisch in dieser Erzählung wiederkehrt und unausgesprochen den ganzen Band durchzieht: "Was ist mir meine Freiheit wert?", hat eine Antwort erfahren - ein Menschenleben.

Mitunter ist ein Bild zu grell, eine Metapher zu stark geraten. Zuweilen schiebt sich auch eine überflüssige Erklärung zwischen die kurzen, rhythmischen Sätze. Das Gleichnis vom verfallenen Schloss, mit dem ein Osteuropa gemeint ist, das den Glanz früherer Tage zurückgewinnen könnte, Dienstwohnungen eingeschlossen, ist allzu vordergründig. Entscheidend profitiert dieses geglückte Debüt jedoch von der strengen Ökonomie seiner Autorin und von der Sicherheit, mit der sie sich in der Vergangenheit bewegt. Terézia Moras Erzählungen sind offenkundig stark autobiografisch grundiert. Mit "Seltsame Materie" hat die Autorin den Albtraum, der ihre Jugend war, hinter sich gelassen. Sie ist aus ihm hinausgetanzt.

Terézia Mora: "Seltsame Materie". Erzählungen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999. 254 S., geb., 32,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die ungarische Autorin Terézia Mora hat sich vor zehn Jahren von Heimat und Sprache verabschiedet, und das ist laut Denis Scheck ein Glücksfall für die deutsche Literatur. Begeistert an diesem Prosadebut hat Scheck vor allem der Ton: "Abgründig. Verführerisch. Ein Ton, der trägt. Bald märchenhaft sanft, bald alltäglich rauh." Man hört Scheck förmlich aufatmen, dass die knapp 29jährige Mora sich nicht an den Trend des eingängigen Pop, des "easy listening" geheftet hat. Mora erzähle Geschichten des Aufbruchs, des Abschieds aus der Welt der Kindheit, meist traurige, aber nie trostlose. Allerdings entgehen ihre Geschichten, so Scheck, nicht immer der Gefahr, aus ihrem "literarisch exotischen Milieu billigen Profit" zu schlagen.

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