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Der doppelte Nasrettin - eine moderne Gastarbeitersaga, ein farbenfrohes Epos zwischen Orient und Okzident.
Held dieser Geschichte ist Nasrettin Öztürk, Deutscher Meister im Superfedergewicht und nicht zufällig namensgleich mit Nasrettin Hoca, den Goethe den türkischen Eulenspiegel genannt hat und der selbst den völkerfressenden Timur zum Lachen brachte. In den siebziger Jahren mit seinen Eltern aus Anatolien nach Berlin gekommen, ein "Kanake", Nichtsnutz und Spieler, steht Nasrettin nun gereift im Ring zu Beausoleil bei Monaco, um dem Franzosen Sandol den Titel des Europameisters…mehr

Produktbeschreibung
Der doppelte Nasrettin - eine moderne Gastarbeitersaga, ein farbenfrohes Epos zwischen Orient und Okzident.
Held dieser Geschichte ist Nasrettin Öztürk, Deutscher Meister im Superfedergewicht und nicht zufällig namensgleich mit Nasrettin Hoca, den Goethe den türkischen Eulenspiegel genannt hat und der selbst den völkerfressenden Timur zum Lachen brachte. In den siebziger Jahren mit seinen Eltern aus Anatolien nach Berlin gekommen, ein "Kanake", Nichtsnutz und Spieler, steht Nasrettin nun gereift im Ring zu Beausoleil bei Monaco, um dem Franzosen Sandol den Titel des Europameisters abzunehmen. Listig wartet er auf seine Chance, und während er lauert, springt die Erzählung in seine Jugend und Kindheit, ja noch weiter zurück in die Zeit seiner Ahnen und Urahnen. Prachtvolle Sultane, religiöse Eiferer und machtgierige Paschas treten darin auf, aber auch Schweinefleisch, Al Pacino und entführte Mädchen spielen eine Rolle. Nicht zu reden von Gott, Jesus und Mohammed, die sich im Himmel die Köpfe heiß diskutieren über den wahren Glauben und die Vorherrschaft von Orient oder Okzident...
"Sieger nach Punkten" ist eine Gastarbeitersaga, wie sie noch nicht erzählt wurde, und zugleich die Geschichte des osmanischen Weltreichs - phantasievoll und höchst unterhaltsam.
Autorenporträt
Thorsten Becker, geboren 1958, aufgewachsen in Köln. Studium der Philosophie, Geschichte, Soziologie und Theaterwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, Auszeichnungen: FAZ-Litaturpreis und Premio Grinzane Cavour. Der Autor lebt zeitweise in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2004

Türkischer Aufwärtshaken
Thorsten Becker steigt mit der Geschichte Europas in den Ring

Die Türkei steht vor den Toren Europas, und bisweilen meint man im Schreckgeschrei darob ein Echo der Türkenfurcht des siebzehnten Jahrhunderts zu hören, als Sultan Mehmet IV. seinen Großwesir Kara Mustafa ausgeschickt hatte, Wien zu erobern. Schon war der Umzug der Residenz aus Istanbul geplant. Doch der Angriff wurde von der sogenannten Heiligen Liga aus deutschem Kaiserreich, Polen, Ungarn und Venedig unter nomineller Oberhoheit des Papstes mit dem vierzehnten Kreuzzug beantwortet, und mit diesem letzten Aufflackern des Mittelalters begann der unaufhaltsame Niedergang des Osmanischen Reiches. Der Friedensschluß von Karlowitz 1699 nahm ihm den Großteil seiner europäischen Besitzungen, der Riese vom Bosporus wurde im europäischen Kampf um die Großmachtstellungen angezählt, seine Niederlage erfolgte allerdings erst zweihundert Jahre später im Ersten Weltkrieg - als technischer K. o., wie bei all den zusammengebrochenen Mittelmächten.

Als Kara Mustafa mit seinen 200 000 Soldaten vor Wien liegt, ist in Beausoleil bei Monaco im Boxeuropameisterschaftskampf von 1991 um den Profititel im Superfliegengewicht die neunte Runde angebrochen. Wie das? Liegen doch mehr als dreihundert Jahre zwischen den beiden Ereignissen. Doch in Thorsten Beckers Roman "Sieger nach Punkten" verlaufen drei Handlungsebenen erzählerisch parallel. Auf der ersten verteidigt Marcel Sandol aus Frankreich, geboren allerdings auf Martinique, seinen Titel gegen den deutschen Herausforderer Nasrettin Öztürk, dem man sein Geburtsland schon am Namen abliest. Öztürk spielt im Buch jene Rolle, die Becker gleich im ersten Satz seiner 928 Seiten für Romanciers seines Kalibers einklagt: "Den Erzählern, die den zum Handeln und Wirken Bestimmten im Troß das von den Vorfahren und Ahnen Durchlebte ordnen und nachschleppen, gilt es inzwischen wieder als ein ausgemachtes, daß eine Geschichte als erste und unabdingbare Voraussetzung einen Helden benötigt." Allerdings läßt Becker sich dann noch 42 Seiten Zeit, bis wir den Namen seines Helden erfahren dürfen, und am Ende des Romans, nur eine Minute vor Schluß und nach Punkten in Führung, verliert auch dieser Held durch technischen K. o. Zwölf Runden gekämpft, und alles umsonst?

Weiß Gott nicht! In die Klammer dieser zwölf Runden packt Becker nicht weniger als die gesamte Geschichte der Türkei seit dem Übertritt der Turkvölker zum Islam im siebten Jahrhundert. In einer Sprache, die an Blumigkeit und Eleganz wenig zu wünschen übrigläßt, wird so immer wieder in langen Einschüben die Westwanderung jener Volksgruppen beschrieben. Becker vollzieht den Aufstieg der Osmanen seit Osman I., dem Namensgeber der Dynastie, der um 1300 sein Einflußgebiet auf ganz Anatolien ausdehnte, bis zur Ablösung von dessen Nachfahren durch die Jungtürken und schließlich Mustafa Kemal alias Atatürk nach. Wir sind dank Becker aber auch Gast im Serail und lauschen einem nächtlichen Gespräch zwischen Süleyman dem Prächtigen und seinem Großwesir Ibrahim im Jahr 1536, dem Höhepunkt türkischer Macht, das mit der Ermordung des zum reichsten Mann im Staat aufgestiegenen ehemaligen Sklaven durch den Sultan endet. Ob es so gewesen ist, wie Becker es erzählt? Es könnte so gewesen sein. Der Roman darf alles.

Er darf auch Gott ins Spiel bringen, der im Himmel verzweifelt bemüht ist, zwischen den sich spinnefeindlich gesinnten Jesus und Mohammed zu vermitteln. In den Dialogen der drei beweist sich Becker als Satiriker von hohen Gnaden, auch gelingt es ihm immer wieder, in seinen im besten Sinne altmodischen Tonfall im entscheidenden Moment eine desillusionierende Lakonie einzuführen, die Jean Pauls Forderungen aus der "Vorschule der Ästhetik" zur Funktionsweise von Komik aus Kontrast aufs schönste einlöst. Oder dann wieder im Boxkampf setzt sich der Erzähler plötzlich im Kopf des Titelverteidigers fest, der gerade eine linke Gerade in den Magen hat verdauen müssen. Da geht es umgekehrt, in die sachliche Kampfschilderung zieht Melancholie ein: "Sandol bereut jetzt doch sehr entschieden, diese Herausforderung angenommen zu haben. Er wünscht sich auf sein karibisches Eiland zurück."

Im Präsens erzählt wird nur vom Titelkampf: "Was der Sport neben andersgearteten metaphysischen Übungen zu erreichen versucht, ist, der Gegenwart Ausdehnung zu verleihen, den Strom der Zeit abzustoppen und in die Quere zu lenken." Das ist das ästhetische Programm von Beckers Roman. Alle Erzählungen entstammen der Wurzel des gedehnten Augenblicks der Entscheidung im Ring. Hier werden die Metaphern geboren, die in die Geschichte führen und ins Private. Und dann zu Allegorien erblühen, die man wieder auf den Kampf beziehen kann. Stilistisch aber ist die Grenze klar: Die türkische Geschichte, mit rund vierhundert Seiten eine eigenständige Historiographie im Roman, ist im malerischen Ton orientalischer Erzähler gehandelt.

Und dann ist da noch der dritte Erzählstrang, die Schilderung, wie es Nasrettin Öztürk in den Ring von Beausoleil verschlagen hat. Dieser Bericht hat klassischen erzählerischen Gestus; er wird aber bewußt chronologisch in der Schwebe gehalten, denn die Eltern Nasrettins stammen aus dem äußersten Ostanatolien, nahe der russischen Grenze, wo das Leben sich seit dem Mittelalter weder in Sitten noch Technik wesentlich weiterentwickelt hat. Blutfehde prägt den Alltag, und Nasrettin selbst ist Produkt des ersten Beischlafs seiner Eltern, nachdem sein Vater Oktay die damals erst dreizehnjährige Sevim kurzerhand entführt hat. Nur einzelnen Anzeichen kann man zunächst die ungefähre Handlungszeit entnehmen: nach dem Zweiten Weltkrieg. Endgültige Festlegung betreffs der Handlungszeit erfolgt erst jenseits der Mitte des Romans, als der bereits in West-Berlin lebende Nasrettin ein Plakat von Francis Ford Coppolas "Der Pate" sieht und der Vorführer davon schwärmt, daß dieser Film in zehn Jahren nichts von seiner Wirkung eingebüßt habe. Also befinden wir uns im Jahr 1981, Nasrettin ist fünfzehn, also muß er 1966 geboren sein.

Das allerdings läßt stutzen. Sosehr die ostanatolischen Passagen über Nasrettins Zeugung und Kindheit den Zauber der Zeitlosigkeit oder besser: eines außereuropäischen Zeitstillstands vermitteln, so sehr scheint auch Becker dieser Magie verfallen zu sein. Denn mehr als dreihundert Seiten zuvor gab er bereits ein anderes konkretes Datum: den 31. Oktober 1966, und da soll Nasrettin bereits in der Lage gewesen sein, im Lebensmittelladen der Familie zu arbeiten. Orientalische Erzähler mögen sich Freiheiten herausnehmen, aber die subtilen Zeitsignale, die Becker setzt, laden zur Überprüfung auf Genauigkeit ein. Dann jedoch entlarven sie sich als irreführend.

Das Buch ermüdet leider wie die Kämpfer im Ring. Da greift ein Jahrzehnte zuvor erschossener Kulhan plötzlich persönlich in die Vendetta ein, die seinen Tod rächen soll. Was nach magischem Realismus klingen könnte, ist leider lediglich eine Figurenverwechslung; Becker hat sein ausuferndes Personal nicht immer im Griff. Daß ihm etliches davon zu Klischees gerinnt, sei nachgesehen, daß aber auch die jüngere türkische Geschichte vom Erzähler durch eine rosarote Brille betrachtet wird, ist nicht verzeihlich. Wenn man will, kann man derzeit Atom Egoyans Spielfilm "Ararat" mit seinen Schilderungen der Morde an den Armeniern neben jene Passagen stellen, die Becker den furchtbaren Ereignissen widmet. "Ararat" spielt zu weiten Teilen in der ehemals überwiegend armenischen Stadt Van, die auch Oktay Öztürk und sein Sohn bereisen. Nichts erfährt man im Roman von den Massakern des Jahres 1915, außer daß die Armenier mit russischer Unterstützung sich zuvor erhoben und massenhaft Muslime ermordet hätten. Die überfällige Strafaktion der türkischen Regierung mündete in der Vertreibung. Die Ermordung aber, so weiß Becker zu berichten, sei dann nahezu ausschließlich Sache der Kurden gewesen, die sich dadurch ihre bis heute bestehende Vormachtstellung im Südosten Anatoliens gesichert hätten.

Das, mit Verlaub, ist nichts anderes als türkische Geschichtsklitterung, und wo man es Beckers Figuren verziehen hätte, so zu reden, sollte der Historiograph, als der er sich geriert, es besser wissen. Im himmlischen Dreiergespräch hatte Gott es ja ausgesprochen: "Mit den Türken habe ich etwas Besonderes vor. Dieses Volk habe Ich Mir ursprünglich zu dem Zwecke geschaffen, andere Völker, die Meinen Mißmut erregen, zu demütigen." Allerdings lautet der letztgültige göttliche Ratschluß dann: "Nun wird erst einmal dieses türkische Volk selbst gezüchtigt. Ich werde ihm alles wegnehmen, was es sich unter Berufung auf Meinen Namen unter den Nagel gerissen hat."

Deshalb mußten die Türken sich aus eigener Kraft neu staatlich und privat verfassen. Nasrettin Öztürk gelingt dies erst als Dealer, dann als Boxer, und in dieser Aufsteigergeschichte ist Becker als Schriftsteller wieder exzellent. Am Schluß, wenn der vom Kampf völlig ausgelaugte Deutschtürke in der Kabine die Vision einer Siegesfeier hat, die Gang für Gang dieselben Leckereien bietet, die auf jenem Hochzeitsfest gereicht wurden, von dem sein Vater ein Vierteljahrhundert zuvor seine Mutter entführt hat, verschwimmt die Realität. Und dann wird Nasrettin doch noch als Sieger ausgerufen - nach Punkten, weil die vorzeitige Beendigung des Kampfes nicht den Regeln entsprach. Man mag, ja man will es glauben, denn neunhundert Seiten Lektüre, die brillante Kombinationen, geschürzte Schwinger und auch Tiefschläge enthielt, wollen durch ein Happy-End belohnt sein. Sonst läge am Ende die Vermutung nahe, der eigentliche Sieger nach Punkten seien die Türken in der europäischen Geschichte. Soweit aber geht Thorsten Becker denn doch nicht.

Thorsten Becker: "Sieger nach Punkten". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 928 S., geb., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2004

Unbedingt beitrittsfähig
Ein orientalischer Geschichtenerzähler: Thorsten Becker hat einen leidenschaftlichen Türkei-Roman geschrieben
Was man in Thorsten Beckers imposantem Roman „Sieger nach Punkten” allein vermisst, ist ein Verzeichnis der Quellen, aus denen der Autor seine vielfältigen Kenntnisse geschöpft hat. Selten hat man in den letzten Jahren einen deutschen Roman gelesen, der so randvoll mit Wissen wäre; und zwar mit Wissen über die türkische Geschichte von der Islamisierung des Landes bis zu Atatürks Reformen, mit Wissen über die Geheimnisse des Boxsports und schließlich mit genauester Kenntnis der Lebensbewandtnisse einer türkischen Sippe, deren vorerst letzter Spross am Anfang des Romans den Boxring besteigt, um ihn zwölf Runden und 928 Seiten später als Europameister im Superfedergewicht zu verlassen.
Ein Mann von Leidenschaft
Auch wenn der Klappentext den Autor als „Weltenbummler” und „polyglott” ausweist, kann Thorsten Becker der Stoff seines Epos nicht einfach zugefallen sein. Er muss ihn sich, wovon schon das vielseitige türkisch-deutsche Glossar Zeugnis ablegt, mit immensem Fleiß erarbeitet haben. Nun ist aber auch auf dem literarischen Feld Fleiß nicht mehr als eine Sekundärtugend. Zu Beckers Primärtugenden zählt, dass er seines Fleißes literarisch Herr geworden ist - mit Hilfe einer leger zwischen den Ebenen wechselnden Romanform und dank einer Sprache, zu der einem das Attribut „blumig” einfällt, nur ausnahmsweise in positiver Bedeutung. Ein weniger anmutiger Erzähler hätte sich dem thematischen Volumen womöglich nicht gewachsen gezeigt.
Becker hingegen schafft es spielend, dem Leser die osmanischen Zustände im Großen wie im Kleinen auf eine Weise begreiflich und anschaulich zu machen, dass man von Stund an die Türkei mit anderen Augen sieht. Hält Becker ein Plädoyer in der Frage des türkischen EU-Beitritts? Das zwar nicht, aber seine Sympathien sind von Beginn an klar verteilt. In Thorsten Becker haben wir einen bekennenden Turkophilen vor uns, einen Mann mit einer Leidenschaft, die nur ganz gelegentlich sein Urteil trübt. Im Grunde betrachtet er das Verhältnis der Türkei zu ihren historischen Widersachern ringsum nicht anders als den Boxkampf im Ring von Beausoleil bei Monaco: Er ist parteiisch und hofft auf einen Sieg, mindestens nach Punkten.
Die Idee, einen Roman entlang den Runden eines Boxkampfes zu strukturieren (wobei allerdings ein K.O. fatal für die Konstruktion wäre), ist nicht ganz neu, entfaltet aber auch bei Becker ihre Vorzüge. Wann immer die Exkurse zu ausführlich und die Rhetorik zu floral werden könnten, schwenkt die Erzählung zurück in den Ring, wo ständig frische Prügel verabreicht werden. Hier begegnen sich der franko-karibische Titelverteidiger Sandol und sein Herausforderer Nasretttin Öztürk, Deutscher Meister aus Berlin. „Worauf es ankam”, lautet die taktische Marschrichtung, „war, möglichst bald Sandols Schwachpunkt zu finden, ihn herauszulocken aus seiner Panzerung und ihn einige Male zu verwunden an seiner kritischen Stelle, die, wie Nasrettin glaubte, die Leber sein würde.”
Zwölf Runden lang wird Nasrettin auf Sandols Leber los gehen, und wenn sein Gegner nicht schon früher fällt, dann hat das mit der Widerstandsfähigkeit seiner Leber ebenso zu tun wie mit Nasrettins Ungestüm und den Einflüsterungen von Funktionären an den Ringecken, die den Favoriten gewinnen sehen wollen und nicht den Außenseiter. Aber welche Rolle passte auf den jungen Türken besser als die des Underdog. Auch wenn ihn sein Vorname als Nachfolger des türkischen Eulenspiegels Nasrettin Hoca ausweist, hat sich Nasrettin im Leben bislang vor allem mit den Fäusten durchgeboxt. Was Becker am Beispiel des Boxers erzählt, ist eine wohl zwar ins Idealische und Spektakuläre gesteigerte, aber vielleicht in manchem auch exemplarische türkische Gastarbeitersaga. Es ist die Geschichte von Nasrettins Vater Oktay, der irgendwo in einem Dorf im östlichsten Anatolien um die junge Sevim freit und sie schließlich entführt, womit er sich den nie verlöschenden Hass ihrer Sippe einträgt. Eine Flucht zieht die nächste nach sich, und irgendwann, inzwischen sind die sechziger Jahre angebrochen, tun sich für Leute wie Oktay Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland auf. Später, als Oktay schon lange eine deutsche Freundin hat, ziehen Frau und Kinder nach und landen nach einigen Umwegen in Berlin, wo der junge Nasrettin rasch Karriere macht, nicht in der Schule, aber als Dealer und in anderen einträglichen Rollen in der türkischen Halbwelt. Nasrettin hat Talente genug, flinke Fäuste und eine flinke Zunge gehören dazu, und er kennt nur eine Richtung: geradeaus.
Will er ein Deutscher werden, sich anpassen, weiter und tiefer, als es sein bäuerlich geprägter Vater je vermocht hätte? Nasrettin hat andere Pläne: „Nein, ein Deutscher wird aus mir nicht werden, wiederholte er sich, aber ein Berliner werde ich doch! (. . .) Zu eigen machen würde er sich diese Stadt, schwimmen in ihr wie im Wasser der Fisch.” Ein Partisan will er sein, aber einer, der auf eigene Rechnung wirtschaftet. Raus aus dem Jungsrudel, und rein in den Ring, wo wertvolle Preise winken und spendable Gönner in der ersten Reihe sitzen; in einem von ihnen, dem Malerfürsten Rufus Mompertz, hat Becker ein reales Vorbild verewigt.
Ein arbeitsamer Saubermann
Im Boxring das wehrhafte Familienerbe verteidigen und ihm frisches Kapital zuführen, der Mutter und den Mädchen imponieren, dabei reichlich Börse machen, welcher Traum könnte lockender sein? Ihn zu realisieren, bedarf es allerdings eines Lebenswandels, der wenig glamourös ist. Jahrelang arbeitet Nasrettin in der Strackschen Armaturenfabrik in Spandau, schindet sich am Abend im Gym und scheint schon „auf dem besten Wege, ein arbeitsamer Saubermann und gesetzestreuer Vorzeigesportler zu werden. Aber seine Jugendsünden sollten ihn einholen”, was aber insofern sein Gutes hat, als Nasrettin zu den Profis wechselt und dann zwar nicht mehr Olympiasieger, aber Millionär werden kann.
So gern man die unterhaltsame und atmosphärisch stimmige Geschichte vom Aufstieg des Faustkämpfers Nasrettin liest: die eigentliche pièce de résistance des Romans, sein ambitioniertes Hauptstück ist Beckers allein wohl um die 500 Seiten lange und gewissermaßen in den Gefechtspausen dargebotene Geschichte des türkischen Staats, der Osmanen und Seldschuken von ihren Anfängen bis beinahe in die Gegenwart. Ihre Qualität als Geschichtswerk müssen Fachleute beurteilen, ihre Vorzüge als erzählerische „Abrollung” (wie es einmal heißt) eines komplexen historischen Verlaufs liegen auf der Hand. Trotzdem wundert man sich auch als Laie bisweilen über einzelne (Miss)-Deutungen (war Atatürk tatsächlich ein Alevit?) wie auch über eine allgemeine Betrachtungsweise, die die Schuld für Völkermorde, Massaker und andere Greuel in aller Regel bei den Feinden des Osmanischen Reiches sucht. So stellt Becker den berüchtigten Genozid an den Armeniern als geradezu zwangsläufige Folge des armenischen Nationalismus dar und ist auch sonst mit Tiraden gegen christlichen Imperialismus und die religiöse Intoleranz islamfeindlicher Mächte schnell zur Hand. Sie erst hätten, meint er, in der Türkei und anderswo die Ideologie des Panislamismus heimisch gemacht. Darin muss man Becker nicht folgen, aber vielleicht redet ja auch in solchen Momenten kein Historiker, sondern ein orientalischer Geschichtenerzähler aus ihm, ebenso wie in jener Passage, wo Gottvater, Jesus und Mohammed gemeinsam nach einer politischen Lösung für die Türkei ringen und Gott einen Erlöser in Aussicht stellt. Unter seiner Anleitung würden die Türken der Welt zeigen, dass man sich bessern kann. Der Name des Erlösers und Mustafas ist Kemal Atatürk. Hat sich die Türkei unter seiner weisen Führung nicht tatsächlich „gebessert”? Wenn sie diesen Test vor Gott und den Menschen bestanden hat, und wenn außerdem ein Türke für Deutschland Europameister im Superfedergewicht werden kann, dann dürfte es auch an der EU-Tauglichkeit der Türkei keinen Zweifel geben.
CHRISTOPH BARTMANN
THORSTEN BECKER: Sieger nach Punkten. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 928 Seiten, 22,90 Euro.
Wir werden der Welt zeigen, wie wir immer besser werden: Blick von der Altstadt auf Ankara
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Dirk Fuhrig ist sich sicher: Wer nach Literatur "voller Ironie und feinem Humor" sucht, ist hier richtig. Ebenso alle, die sich einfach nur eine richtig gute Geschichte erzählen lassen wollen, und selbst die historisch Interessierten unter den Lesern. Denn Thorsten Becker lässt seinen deutsch-türkischen Roman auf drei Ebenen spielen: Den Rahmen bildet ein Boxkampf, in dem der Held Nasrettin Öztürk für Deutschland um die Europameisterschaft kämpft, in den Schlagabtausch geschoben ist eine Familiensaga, die von Anatolien ins Rheinland führt, und dazu taucht der Roman noch "in die lange Geschichte des türkischen Staats, der Osmanen, Seldschuken und der Janitscharen-Heere ein". Und siehe da: "Die Verknüpfung der drei Erzählebenen ist hervorragend gelungen." Auch sonst ist Fuhrig voll des Lobes und sieht "Sieger nach Punkten" allein auf weiter Flur, wenn es um das "Leben und die Kultur" türkischer Einwanderer geht. Becker sei ein "über alle Maßen origineller, geistreicher und kluger Erzähler" und komme zudem völlig ohne Klischees aus. Ein Glücksfall also, dieser Roman - "ein glänzend geschriebenes und konzipiertes Stück Gegenwartsliteratur."

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