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karl Kraus: Dramatiker, Satiriker und radikaler Humanist - prangerte in seinen Schriften die bürgerliche Doppelmoral, die skrupellose Kriegsverherrlichung und die Presse seiner Zeit an und wurde so zur moralisch-künstlerischen Autorität. Bert Brecht nannte ihn "den ersten Schriftsteller unserer Zeit".

Produktbeschreibung
karl Kraus: Dramatiker, Satiriker und radikaler Humanist - prangerte in seinen Schriften die bürgerliche Doppelmoral, die skrupellose Kriegsverherrlichung und die Presse seiner Zeit an und wurde so zur moralisch-künstlerischen Autorität.
Bert Brecht nannte ihn "den ersten Schriftsteller unserer Zeit".
Autorenporträt
Friedrich Rothe, geboren 1939 in Duisburg, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Er lehrte dreißig Jahre an der FU Berlin und betreibt heute eine Galerie in Berlin. Mit seiner Karl Kraus-Biographie (2003) machte er sich auch als Autor einen Namen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Eine Feder hat er, das muß man ihm lassen
Nicht lang gefackelt: Die Karl-Kraus-Biographie von Friedrich Rothe / Von Burkhard Spinnen

Es gibt sie ja, die Sympathie auf den ersten Blick; Verhaltensfachleute verstehen sich sogar mehr und mehr dazu, sie zur einzig dauerhaften zu erklären. Es gibt freilich auch das Gegenteil; und genau das habe ich nach wenigen Seiten Lektüre dieses Buches empfunden und bin es bis zum Schluß trotz aller Bemühungen nicht losgeworden. Wenn nun aber ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es dabei irgendwie falsch klingt, dann kann das nach Lichtenberg mindestens zwei Gründe haben.

Fangen wir beim ersten an, also bei mir. Ich bin mit dem Werk von Karl Kraus, wie soll ich sagen, literarisch und intellektuell sozialisiert worden. Wohlgemerkt: mit dem Werk, also insbesondere mit der "Fackel" als dem Niederschlag aus siebenunddreißig Jahren des unausgesetzten Kampfes gegen Presse und Phrase. Man liest ja, wenn man Kraus mit Emphase liest, weniger einzelne Texte, vielmehr stets Teile eines sprach- und medienkritischen Mammutunternehmens; die "Fackel" ist das Protokoll einer lebenslangen Anstrengung, sich gegen die Attacken aus vorsätzlichem Sprachmißbrauch und unbewußter Sprachverhunzung zur Wehr zu setzen. Seltsam daher, dann aber wieder verständlich, daß ich als "Fackel"-Leser weniger ein Bild dieses unermüdlichen "Menschen" Karl Kraus und vielmehr eines der "Instanz" K. K. imaginierte. Offen gesagt, in all den Jahren meiner Kraus-Lektüre habe ich (als ein zumindest durchschnittlich neugieriger Mensch) nie das Bedürfnis verspürt, eine Kraus-Biographie zu lesen. Tatsächlich war doch dieses "Leben" in den Satiren und Glossen, in den Polemiken und Essays vollständig aufgegangen.

"Ich" heißt es zwar immer wieder in siebenunddreißig "Fackel"-Jahren. Ich, ich, ich. Aber dieses Ich bezeichnet ja nicht eine Person, etwa den 1874 in Böhmen als Sohn eines Unternehmers geborenen, in Wien aufgewachsenen und später als freier Kritiker arbeitenden Herrn Kraus, lange Zeit wohnhaft Lotharinger Straße - es bezeichnet vielmehr die "persona", das figürliche Zentrum der satirischen Entrüstung, das von der Phrase verletzte Bewußtsein und endlich die sprachrichtende Instanz. Sich dazu einen zu denken, der Körpergröße und Gewicht, Wohnung und Liebesaffären und ökonomische Verhältnisse hat, das kam mir nicht in den Sinn. Oder anders gesagt: das wurde mir bei der Lektüre mit Vorsatz und gründlichem Erfolg ausgetrieben!

Kein Wunder also, daß ich auf jedes Ansinnen, den sogenannten Menschen hinter diesem sprachkritischen Jahrhundertwerk zu rekonstruieren, reagieren muß, als würde ich (das heißt mal wieder: meine Leseerfahrung) grob beleidigt. Und wenn nun der Berliner Literaturwissenschaftler Friedrich Rothe seine Kraus-Biographie auch noch damit beginnt, ausgerechnet die politischen Verwerfungen zu beschreiben, in die Karl Kraus in den letzten drei Jahren seines Lebens geriet, von der Machtergreifung der Nazis bis zu seinem Tod im Sommer 1936, wenn er hier ausführlich schildert, welche Klientel Kraus verschreckte, als er den Dollfußschen Ständestaat als Bollwerk gegen den Nazismus verteidigte - ja, dann bin ich nicht nur beleidigt, sondern regelrecht aufgebracht. Ausgerechnet mit einer Phase beginnen, in der alles ins Chaos geriet, und nach über sechzig Seiten noch immer nicht damit begonnen, dem vielleicht nicht ganz einschlägig vorgebildeten Leser ein bisserl zu erklären, was der Herr Kraus denn so gemacht hat und wie er dazu gekommen ist in den letzten paarunddreißig Jahren, das fand ich geradezu empörend. Was reitet diesen Mann? habe ich mich gefragt. Haben ihn die Verlagslektoren vielleicht gezwungen, eine Biographie mit dem Ende zu beginnen, weil an diesem Ende mit dem Nazismus etwas im Leben von Kraus auftaucht, womit größere Bevölkerungsschichten sich (via Guido Knopp) besser auskennen als mit der Sprachkritik und der literarischen Welt um 1900?

So! Und jetzt beruhige ich mich wieder. - Es ist ja ein durchaus legitimes Unterfangen, eine Biographie zu schreiben ("eine" übrigens, nicht "die", wie hier der Untertitel verkündet). Und wer eine Biographie schreibt und wirklich eine Biographie, nicht eine Hagiographie, der muß auch ins Privatleben einer Instanz schauen dürfen, der muß mit dem "Menschlichen" auch bisweilen das Halbherzige und das Unausgewogene oder gar das Banale zur Kenntnis nehmen und geben. Rothe tut das, im gebotenen Maße. Seine Biographie hat etwas im guten Sinne des Wortes Biederes; sie stützt sich fast ausschließlich auf die teils längst bekannten Quellen, auf die "Fackel" also und auf die veröffentlichten Briefwechsel. Keineswegs unternimmt sie den so risikoreichen Versuch, einen "unbekannten" oder gar den "anderen" Kraus zu konstruieren. Der Versuch, Werk und Leben gleichmäßig zu gewichten, bestimmte Höhepunkte des Werkes auszumachen und sie bestimmten Lebensphasen zuzuordnen, bewegt sich in den Bahnen der bisherigen Forschung. Schließlich werden nach der verkorksten Einleitung auch Kraus' sprachkritische Grundlagen und sein intellektuelles Umfeld so erläutert, wie es eine auf den größten gemeinsamen Nenner gebrachte Kraus-Forschung wahrscheinlich ganz ähnlich tun würde. Ein besonderes Interesse widmet Rothe dem Vorleser Karl Kraus; wo das Werk in der Stimme des Autors Gestalt annimmt, verspricht ja eine besondere Einheit von Leben und Werk zu erscheinen. Und natürlich fehlt auch nicht das Kapitel über Kraus' Beziehung zu seinem Judentum und dem der anderen.

Kurzum, daß dieses Buch den Kraus-Jüngern wenig vermittelt, was sie nicht schon kennten, ist völlig richtig; doch dieses in einem Publikumsverlag erscheinende Buch hat vielleicht auch eher das Ziel, sich an einen weiteren Kreis von Interessierten zu wenden, an die vielen zumal, die sich Werke und Epochen am liebsten durch Lebensbeschreibungen erschließen.

Damit wäre die Sache also wieder einigermaßen ins Gleichgewicht gebracht. In meinem Kopf geht es nun einmal ein bißchen arg kraus zu, und die Biographie von Friedrich Rothe hat am Anfang einen Knacks und bohrt keine allzu dicken Bretter. Ich sollte mich jetzt daran gewöhnen, daß die Instanz K. K. sich einmal privatim in eine böhmische Gräfin verliebte und dabei hinnahm, wie seine verehrte Sidi nicht genug moralische Selbständigkeit besaß, um das etwas Unstandesgemäße einer solche Beziehung in Kauf zu nehmen. Gut. Und daß es den immerhin deutschsprachigen Schriftsteller Kraus auch einmal aus dem Wiener Reservat in die deutsche Metropole und zu den deutschen Lesern gezogen hat, darf mich auch nicht verschrecken. Es wollen ja immer noch alle nach Berlin.

Aber: nein! Auf so ein Wiegel-Wagel darf meine Rezension nicht hinauslaufen - mein Kraus würde mir im Traum erscheinen und ein Urteil verlangen. Und das fälle ich auch. Es lautet, wie gesagt: Nein! Denn letzten Endes bin ich doch überzeugt, daß man es eben nicht so machen darf wie Friedrich Rothe. Kaum ein Autor hat so wie Kraus sein "Leben" in ein Periodikum von Texten verwandelt; seine Entrüstung: Satiren; seine größte Handgreiflichkeit: eine Plakataktion; seine Weltanschauung: ein Weltkriegsdrama; seine Liebe: Gedichte. Und also - davon bin ich überzeugt - darf es keine "Biographie" geben, die so tut, als ließe sich das Produkt dieser Metamorphose ohne größere Schwierigkeiten in Werk und Leben auseinanderdividieren.

Wären da nicht die paar Briefwechsel, besonders der mit Frau Nadherny, wir wüßten ja gar nichts über den "privaten" Kraus, wir wüßten nicht einmal, wie wir danach fragen sollten. Friedrich Rothe aber sammelt diese wenigen Schlüssellochbilder - den unglücklichen Liebhaber, den begeisterten Vorleser, den gescheiterten Konvertiten und den verkannten Parteiwechsler Kraus - und klebt sie auf einen Passierschein, der den Weg hinter das Werk und hinein in das Leben frei machen soll. Worauf dann freilich über weite Strecken nichts als die übliche Kartographie des sprachkritischen Werkes betrieben wird, weil ja bei gegebener Materiallage nichts anderes möglich ist.

Schwindel ist das nicht, Blauäugigkeit allemal. Ich muß mir nur Karl Kraus als Leser dieser seiner Biographie vorstellen. Er würde sie wahrscheinlich unter die Garderobengespräche zählen, die die Zuhörer seiner Lesungen führten, um den unerhörten Eindruck schnell wieder abzuschütteln und in das Mittelmaß ihres Alltags zurückzukehren. "Eine Feder hat er, das muß ihm der Neid lassen", sagten damals die leicht indignierten Bildungsbürger. "Er is doch e Jud", sagten die beleidigten Juden. Und was sagen heute die Literaturwissenschaftler? "Ooch son Dichta!" - Aber das trifft es nicht.

Friedrich Rothe: "Karl Kraus". Die Biographie. Piper Verlag, München 2003. 423 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2003

Wie der Menschenfresser zum Oberlehrer wurde
So ein sympathischer Kerl, vor allem im Umgang mit den Frauen: Friedrich Rothe widmet Karl Kraus eine Biografie
Karl Kraus ist ein Autor, in den sich von außen ganz besonders schlecht einführen lässt; hingegen wird man feststellen, dass er sich wunderbar selbst erklärt. Die beste Methode, sich ihm zu nähern, dürfte darin bestehen, einen der Reprint-Bände der „Fackel” zur Hand zu nehmen und einfach das Blättern anzufangen, irgendwo zwischen den Jahrgängen 1905 und 1911, als Kraus die antikorruptionistische Frühzeit bereits hinter sich gelassen hatte, aber das Zeitschriftenwerk noch offen genug bleibt, den Quereinstieg zu erlauben.
Man sollte allerdings etwas Zeit mitbringen, denn man wird bald feststellen, dass man, obwohl man von den mitgeteilten Wiener Sachverhalten zunächst nicht viel versteht, mit dem Schmökern nicht mehr aufhören kann. Der Qualm beginnt sich nach und nach zu lichten, nach hundert Seiten weiß man, was eine „Eisenbahnbeschwerde” ist und dass es sich beim „Wolf im Gersthof” um eine dem Verfasser unsympathische Gaststättenreklame handelt. Man sollte beginnen bei der mitreißenden Keckheit des Jünglings (Kraus bleibt lang ein Jüngling), dann erst übergehen zum Zorn des Mannes, der im Ersten Weltkrieg reift, und ganz zum Schluss erst wird man bereit sein für die Bitterkeit des Greises (Kraus wird früh zum Greis). Eigentlich ist das auch die Reihenfolge, die sich für eine Biographie anbietet; es fügt sich der Struktur des Lebens.
Ungeschickt fängt es darum Friedrich Rothe an, der seine Biographie mit einem Bild des Grabsteins und den Zwanziger- und Dreißigerjahren beginnen lässt. Sicher, hier gewinnt ein „anderer” Kraus Umriss, ein erst linker, dann zunehmend isolierter und vereinsamter, und Rothe will seinen Akzent setzen. Auch der Grund für diese Umkehrung lässt sich mutmaßen: Aus Kraus’ Kindheit und früher Jugend ist wenig überliefert, meist von Kraus selbst, der es aber im Nachhinein paradiesisch verdichtet und nachbearbeitet hat, dass ein redlicher Biograph dem nicht trauen kann, oder höchstens als deutungsbedürftiger Deckanekdote.
Aber kennt der Leser denn schon den „einen” Kraus, den eigentlich berühmten der Vorkriegs- und Kriegszeit? Rothe hat sich zu wenig Gedanken gemacht, auf welche Art von Leser es rechnen will. Kennt er Kraus bereits einigermaßen, wird er das Meiste von dem, was Rothe ihm mitteilt, entbehrlich finden; kennt er ihn nicht, wird er damit wenig anzufangen wissen. Dass es sich bei „Zisleithanien” um einen spöttisch gefärbten Ersatznamen für die kaiserliche Hälfte des Habsburgerreiches diesseits des Grenzflusses Leitha handelt, welches sich keinen eigentlichen Namen geben konnte, ohne dass sofort neue nationaler Hader aufbräche: Rothe müsste es erläutern, wenn er dem Neuling helfen möchte.
Das Gedicht des Achilles
Freilich hätte das Buch, wollte es auf solche Details eingehen, bedeutend umfänglicher werden müssen und geriete dann zu groß für den einführenden Zweck, dem es doch offenbar dienen soll; besser, es wäre kleiner geworden, etwa so, wie die zwar leicht veraltete, doch knappe, verlässliche und vom Geist der Liebe getragene rororo-Monographie von Paul Schick. So wie sich Rothes Buch darbietet, bewegt es sich in einem unglücklichen Mittelformat; und nicht leicht lässt sich angeben, warum sich der Autor denn der Mühe unterzogen hat.
Der Geist der Liebe war es jedenfalls nicht, der ihn geführt hat; aber auch nicht die besondere intellektuelle Anstrengung, die sich vom satirischen Werk des Karl Kraus herausgefordert fühlt. Manchmal betet Rothe einfach eingeführte Klischees nach, etwa die, Kraus’ Lyrik sei seine „Achillesferse”, und er neige in seinem lyrischen Geschmack zu „oberlehrerhaftem Traditionalismus”, ohne dass er die Geduld hätte, zu lauschen, was in Gedichten wie „Nächtliche Stunde” oder „Flieder” winzige Variationen aus der Starre der Form machen. Wo er für Kraus zentrale Begriffe wie „Ursprung” oder „Phrase” erklären soll, kommt wenig heraus, womit der Nicht-Eingeweihte etwas anfangen könnte. Und wenn er Kraus’ Abneigung gegen alles, was „Bildung” heißt, betont, und ein paar Seiten später ebenso zurecht die ungeheure Rolle, die die Klassiker und ihre geflügelten Worte für Kraus spielen, dann bleiben diese zwei verschobenen Blickpunkte einfach als Widerspruch stehen; Rothe schafft es nicht, das Verhältnis Kraus’ zur Tradition daraus als räumliches Bild hervorspringen zu lassen.
Generell legt Rothe seine Figur des Karl Kraus ziemlich platt an. Die besondere Qualität von dessen Schreiben setzt er als gegeben voraus, tut aber wenig, um sie sinnfällig zu machen – das sollen die Zitate für sich selbst besorgen, die er auf dem gepflasterten Hof seines Texts so wild durcheinander parkt, dass oft kein Durchkommen mehr ist.
Sein Kraus ist sympathisch, besonders – dies stellt vielleicht Rothes einzigen halbwegs originellen Beitrag dar – in seiner Begabung für den vertrauten Umgang mit Frauen; hier, wo der schmächtige und unter einer leichten Rückgratverkrümmung leidende Kraus dank seiner Fähigkeit zur behutsamen Zuwendung die Nähe der schönsten Schauspielerinnen genießen darf, scheint einmal eine Ahnung für vergangene Möglichkeiten des Glücks auf. Aber Rothe tut Kraus doch unrecht, indem er die Schattenseiten dieser einzigartigen Persönlichkeit verschweigt. Immerhin gab es nicht nur Annie Kalmar, die von Kraus bewundert wurde und die ihn betrog und dafür von ihm noch viel mehr bewundert wurde, bis über ihr frühes Grab hinaus; und nicht nur Berthe Marie Denk, die sich zwischen Kraus und Wedekind mit der ironischen Souveränität der Hetäre bewegte; sondern auch unter anderem, erst vor kurzem von dem amerikanischen Germanisten Leo Lensing aufgefunden, die Kindfrau Irma Karczewska, die über diesen erotischen Ballspielen wahnsinnig wurde und zugrundeging.
Die rasende Meute
Getreulich registriert Rothe zwar, dass Walter Benjamin in Kraus den Dämon erblickt, und dass Kraus selbst mit einer tief doppeldeutigen Befriedigung von seiner Beziehung zu dem „Weib” Publikum spricht; aber es gleitet an ihm ab, er hat kein Organ für das, bei aller humanistischen Fundierung, Inkommensurable des sich auslebenden Hasses, das „Menschenfresserische” am Satiriker, das Benjamin so scharf sieht. Musil verglich ihn immerhin in seiner Fähigkeit, tausend Intellektuelle im Saal in eine rasende Hetzmasse zu verwandeln, mit Hitler; das war ein Urteil, qualitativ ungerecht (denn es kommt doch zuletzt auf die Sache an, für die sich einer ereifert), quantitativ aber ein Kompliment wider Willen. Selbst wenn Rothe das einzige von Kraus erhaltene Stück Film kommentiert, wo dieser mit krallenhaft zitternden Fingern und schier überschnappender Stimme den Gesang der leichenfressenden Raben auf dem Monte Gabriele rezitiert, fühlt er sich höchstens von Ferne an einen Schamanen erinnert, ohne dass ihn vor der haaraufstellenden Intensität dieses Vortrags schauderte. Wenn er nicht einmal darauf reagiert - was hat Rothe von Kraus eigentlich wahrgenommen?
Nur ungern wird, wer Kraus’ Vorliebe für das stützenlose Gedächtnis teilt, das ungenaue Zitat verdammen. Und doch ist es nötig, darauf hinzuweisen, dass Rothe, der ausführlich über Kraus’ (verlorene) Prozesse wegen eines vergessenen Kommas im Wiederabdruck berichtet, bedenklich viele Fehler unterlaufen. Ich habe beileibe nicht alle Zitate nachgeprüft. Und bin erstaunlich fündig geworden, in fünf oder sechs Fällen, wovon hier nur einer genannt sei. „An Alle, die die Wahl haben”, hatte Kraus unmittelbar nach Errichtung der österreichischen Republik, am 2. Februar 1919, als Handzettel verbreiten lassen. Das war als politisches Programm gedacht, als Sympathie-Erklärung für die Sozialdemokraten. Die Formulierung richtete sich unausdrücklich, aber deutlich genug, gegen die Bolschewisten, gegen Lenin, dessen Manifest den Titel trug: „An Alle”, ohne Erwähnung einer Wahl. Bei Rothe wird daraus, unter Verlust des Appells: „Alle, die die Wahl haben”. So etwas sollte nicht passieren.
Bedauerlich ist auch, dass Rothe eine Bibliographie für überflüssig hält. Es gibt ja bereits eine ganze Reihe von Schriften über Karl Kraus, genug jedenfalls, dass der Untertitel „D i e Biographie” irreführend und anmaßend wirkt; und, so möchte ich hinzufügen, es gibt bessere, das heißt solche, die in irgendeiner unverwechselbaren Weise ihre Beziehung zu dem unverwechselbaren Autor Karl Kraus bekunden. Rothe hält gewisse Standards ein und arbeitet, im Großen und Ganzen, ordentlich. Das ist zu wenig.
BURKHARD MÜLLER
FRIEDRICH ROTHE: Karl Kraus. Die Biographie. Mit 49 Abbildungen. Piper 2003, 423 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Die Bezeichnung "Biografie", die der Verlag dem Buch angeheftet hat, findet Willi Jasper etwas "irreführend", denn dem Autor gehe es im vorliegenden Werk nicht um eine vollständige Lebensbeschreibung von Karl Kraus, sondern vielmehr um Kraus als Herausgeber und Verfasser der Zeitung "Fackel", die 1899 erstmals erschien. Jasper findet es nicht immer leicht, sich durch das "Labyrinth" von Quellentexten und Erörterungen hindurch zu finden. Auch die Kapitelüberschriften können seiner Ansicht nach den Text nicht gliedern. Trotzdem sei Rothe nicht nur ein "erregendes Zeitbild", sondern zudem ein lebendiges Porträt Kraus' gelungen, lobt der Rezensent nachdrücklich. Er findet es bewundernswert, dass Rothe nicht der unbequemen Frage ausweicht, ob Karl Kraus ein "jüdischer Antisemit" gewesen ist, wie ihm mitunter vorgeworfen wurde. Alles in allem, so Jasper abschließend, bleibt Kraus ein "stiller, ein schwieriger Klassiker", und er rechnet es dem Autor als "Verdienst" an, ihn mit seinem Buch wieder "zum Reden gebracht" zu haben.

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