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Die Reihe "Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland" schließt nahtlos an das vierbändige Werk "Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik" an. Ziel ist es, die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland und den Aufbau ihrer Streitkräfte seit dem Bündnisbeitritt 1955 darzustellen. Auf der Basis einer intensiven Quellenauswertung in nationalen und internationalen Archiven kann damit die ganze Bandbreite westdeutscher Bündnis- und Streitkräftegeschichte analysiert werden. Der Zusammenhang von NATO-Vorgaben und nationaler Verteidigungsplanung wird dazu ebenso…mehr

Produktbeschreibung
Die Reihe "Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland" schließt nahtlos an das vierbändige Werk "Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik" an. Ziel ist es, die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland und den Aufbau ihrer Streitkräfte seit dem Bündnisbeitritt 1955 darzustellen. Auf der Basis einer intensiven Quellenauswertung in nationalen und internationalen Archiven kann damit die ganze Bandbreite westdeutscher Bündnis- und Streitkräftegeschichte analysiert werden. Der Zusammenhang von NATO-Vorgaben und nationaler Verteidigungsplanung wird dazu ebenso eingehend erschlossen wie die Integration der aufwachsenden Streitkräfte in Staat und Gesellschaft und das Innenleben der Bundeswehr. Bruno Thoß beschreibt ein dramatisches Stück deutscher Geschichte: Mit dem Beitritt zur NATO suchte die Bundesrepublik Deutschland über politischen Statusgewinn hinaus erhöhte Sicherheit zu erzielen. Die NATO-Strategie der "massiven atomaren Vergeltung" enthielt jedoch das Dilemma, dass im Falle eines Scheiterns der Abschreckung auf deutschem Boden atomar zerstört würde, was man eigentlich verteidigen wollte. Erst die Strategiereform 1967/68 führte aus diesem Dilemma heraus.
Autorenporträt
Dr. Bruno Thoß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rundum zufrieden zeigt sich Rainer Blasius mit Bruno Thoß "vorzüglicher Studie" über den Aufbau der Bundeswehr und die atomare Vergeltungsstrategie der Nato in den Jahren 1952 bis 1960. Der Autor untersuche die Strategiedebatten während der Aufbauphase der Streitkräfte mit dem Ziel, die Sicherheitsinteressen der BRD im Spannungsfeld zwischen nuklearer Abschreckung seitens der Verbündeten und konventioneller Verteidigung durch die Bundeswehr auszuloten. Das ist ihm nach Einschätzung von Blasius bestens gelungen. Ausführlich zeichnet er die auf "breiter Quellengrundlage" erarbeiteten Ergebnisse der Arbeit nach. Dabei verschweigt er nicht, dass die präsentierten Atomszenarien auch noch nach Jahrzehnten "Erstaunen und Entsetzen" beim Leser hervorrufen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2006

Verwüstete Siege?
Der Aufbau der Bundeswehr und die massive atomare Vergeltungsstrategie der Nato / Von Rainer Blasius

Wie war es um den Schutz der eingeschränkt souveränen jungen Bundesrepublik bestellt? Bruno Thoß, Leiter der Forschungsabteilung am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, nimmt die Strategiedebatte während der Aufbauphase der westdeutschen Streitkräfte unter die Lupe, um Bonns Sicherheitsinteressen im Spannungsfeld zwischen nuklearer Abschreckung durch die Verbündeten und konventioneller (Mit-)Verteidigung durch die Bundeswehr auszuloten. Vom Frontstaat, ja vom denkbaren und gedachten Schlachtfeld Deutschland ist auf Hunderten von Seiten die Rede. Damals erschien trotz enormer sowjetischer Überlegenheit an Flugzeugen und Landstreitkräften im Fall der Fälle aufgrund des amerikanischen Nuklearpotentials der Sieg als sicher, allerdings das Überleben als unwahrscheinlich. Generalmajor Albert Schnez, Chef des Führungsstabes der Bundeswehr, führte dies Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß im August 1960 drastisch vor Augen: Bei der Bereitschaft der Nato, Atomwaffen frühzeitig und mit aller Konsequenz einzusetzen, könne der Westen einen europäischen Krieg zu seinen Gunsten entscheiden. Der Weg dahin führe jedoch "über ein Golgatha des deutschen Volkes".

Auf breiter Quellengrundlage zeichnet Thoß zunächst die Ausgangslage nach: Noch vor dem Ende der Besatzungsherrschaft, das durchaus von Bundeskanzler Adenauers Zusagen für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag abhing, entschloß sich die Nato 1953/54 zur Strategie der massiven Vergeltung mit Atomwaffen als "Schwert" der Allianz. Zum einen sollte der westlichen Unterlegenheit gegenüber der Sowjetunion im klassischen Rüstungsbereich Rechnung getragen werden, zum anderen auch Geld und Truppen eingespart werden, um außereuropäischen Verpflichtungen der Alliierten nachkommen zu können. Die Nato-Planer gaben zu, einen sowjetischen Angriff erst auf der Rhein-Ijssel-Linie stoppen zu können, wobei beide Seiten ihre Atomwaffen sofort zum Einsatz brächten, jedoch die Nato ein klares Übergewicht besäße. In der Anfangsschlacht von etwa dreißig Tagen könnte die Kreml-Führung nicht in die Knie gewungen werden. Dazu Thoß: "Deshalb hatte sich der Westen auf eine nachfolgende Phase von unbestimmter Dauer einzustellen, in der bis zur Rückeroberung verlorenen eigenen Territoriums und der endgültigen Niederlage des Gegners weitergekämpft werden mußte."

Der Stellvertretende Nato-Oberbefehlshaber und britische Feldmarschall Bernard Law Montgomery, der legendäre Sieger von El-Alamein (1942), stellte sich für Mitteleuropa Feuerzonen vor, die bis zu einer Tiefe von 20 Meilen durch atomare Artillerie und Lenkraketen und bis 500 Meilen durch atomar bewaffnete taktische Luftstreitkräfte überwacht wurden. In dem Maße, wie Divisionen der Bundeswehr verfügbar waren, sollten allmählich die Verteidigungslinien nach Osten vorgeschoben werden. Die aus der massiven Vergeltung resultierenden Konsequenzen brachte Bernard Brodie, einer der führenden strategischen Denker in den Vereinigten Staaten, Ende 1954 auf den Punkt: Durch einen allzu freizügigen Einsatz atomarer Waffen drohe eine Zerstörung Europas. Anfang Januar 1955 gestand sich selbst die amerikanische Regierung unter Führung von Präsident Dwight D. Eisenhower - des Oberbefehlshabers der westalliierten Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg - bei einer sicherheitspolitischen Bestandsaufnahme ein, daß bei den Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks eine "wachsende Furcht vor dem Atomkrieg" festzustellen sei.

Damals drohte "statt Abschreckung beim Gegner mithin Selbstabschreckung im eigenen Lager um sich zu greifen", wie Thoß richtig bemerkt und was er als eine Art Leitmotiv für seine Studie noch stärker hätte herausarbeiten können. Wollte Washington jenen Einschätzungen entgegensteuern und die Einsatzmöglichkeiten der Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) mittels zusätzlicher taktischer Atomwaffen effizienter gestalten, mußten Überlegungen über eine Abwehr der - in naher Zukunft vielleicht drohenden - sowjetischen Nuklearangriffe gegen den nordamerikanischen Kontinent umgehend auf Westeuropa ausgedehnt werden. Vordringlich waren eine Luftverteidigung, die eine lückenklose Frühwarnung, eine zentralistische Einsatzplanung und eine integrierte Führung umfaßte, sowie eine gemeinsame Bevorratung der Nato-Mitglieder mit kriegswichtigen Gütern schon im Frieden, um im Ernstfall nach atomaren Zerstörungen und Beschädigungen die militärische und zivile Grundversorgung gleichermaßen zu garantieren.

Adenauer gab sich im Bundeskabinett Ende Februar 1955 zweckoptimistisch: "Solange wir nicht zur Nato gehören, sind wir im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrußland und den Vereinigten Staaten das europäische Schlachtfeld . . . Und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr." Wenn alles so einfach gewesen wäre, hätten sich mit dem Nato-Beitritt am 9. Mai 1955 alle Probleme wie von selbst erledigt. Jetzt aber traten sie klarer denn je zutage, weil Bundeswehroffiziere an Nato-Übungen, auf denen regelmäßig Einschläge von mehreren hundert eigenen wie gegnerischen Atomsprengkörpern auf deutschem Boden "eingespielt" wurden, und an amerikanischen Kursen, die Einsatzgrundsätze für taktische Atomwaffen und Maßnahmen gegen unmittelbare Schadens- wie radioaktive Nachwirkungen erläuterten, teilnehmen durften. Damit waren keinerlei Einblicke in die konkrete atomare Zielplanung verbunden. Nicht einmal die beiden ersten deutschen Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte Europa Mitte, die Generale Hans Speidel und Johann Adolf Graf von Kielmansegg, kannten die jährlich angepaßten Atomic Strike Plans.

Die deutschen Militärs, insbesondere Generalinspekteur Adolf Heusinger, standen einer allzu einseitigen nuklearen Ausrichtung der Nato sehr skeptisch gegenüber. Daher mußten sie sich von den neuen Verbündeten (und einstigen Gegnern) sogar sarkastische Bemerkungen über ihre längst überholten operativen Ansichten gefallen lassen. Montgomery meinte im April 1957 bei einem Deutschland-Aufenthalt: "All depends on the full acceptance of four words: ,Don't march on Moscow.'" Und auch der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Josef Kammhuber, der wie Strauß für einen Bündnisbeitrag Bonns "mit der größtmöglichen Zahl an Stärke und Waffen" - also für eine Ausrüstung der Bundeswehr nicht nur mit Trägersystemen, sondern gleich mit Atomwaffen - plädierte, meinte Ende der fünfziger Jahre in einer Stellungnahme zu Studien des Heeres und der Marine zynisch, daß durch die Revolutionierung der Kriegsmittel "herkömmliche Landoperationen eine Illusion" seien, weil es nach dem atomaren Schlagabtausch "nichts mehr zu operieren gibt - außer in den Krankenhäusern".

Während sich die Heeresführung beim zähen und langwierigen Bundeswehraufbau gegen einen weitgehenden Bedeutungsverlust der Landstreitkräfte stemmte, reagierte der Bundeskanzler auf Kritik an der angestrebten atomaren Umrüstung der Streitkräfte schlicht mit einer Bagatellisierung der tödlichen Gefahren: "Die taktischen Atomwaffen", so Adenauer vor der Presse am 5. April 1957, "sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie, und es ist ganz selbstverständlich, daß bei einer so starken Fortentwicklung der Waffentechnik, wie wir sie leider jetzt haben, wir nicht darauf verzichten können, daß unsere Truppen - das sind ja beinahe normale Waffen - die neuesten Typen haben und die neueste Entwicklung mitmachen." Die Äußerung lag, wie Thoß hervorhebt, mit der "Unterscheidung von strategischen und taktischen Atomwaffen, um die es in der deutschen Debatte allein gehen konnte, voll auf der Linie der Nato". Empört war daraufhin nicht nur die SPD-Opposition, sondern auch achtzehn führende Atomwissenschaftler. In ihrem "Göttinger Manifest" vom 12. April 1957 empfahlen sie der Bundesregierung, ausdrücklich auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art zu verzichten, und erteilten Adenauers Kriegsbild eine klare Absage: "Taktische Atomwaffen haben die zerstörerische Wirkung normaler Atombomben . . . Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr zu schützen." Die folgende öffentliche Kampagne "Kampf dem Atomtod" handelt Thoß nur kurz ab, weil die Unionsparteien ihr unter dem Motto "Keine Experimente!" zu trotzen vermochten und im September 1957 bei der Bundestagswahl die absolute Mehrheit gewannen. Dafür räumt der Verfasser den kaum bekannten internen Diskussionen um eine "Schadensbegrenzung" im Atomkriegsfall großen Raum ein, insbesondere dem Thema Bevölkerungsschutz.

Panikartige Massenflucht

Die Nato-Strategen stellten den Grundsatz des "stay at home" auf, um auf diese Weise einen Mindestschutz und eine Mindestversorgung der Zivilbevölkerung am jeweiligen Wohnort zu erreichen. Verteidigungsminister Strauß vertrat ebenfalls diese Linie vor dem Verteidigungsausschuß des Bundestages: Weil eine "panikartige Massenflucht" die Gefährdung nur erhöhe, bleibe nichts übrig, als an Ort und Stelle zu bleiben. Außerdem müsse man Klarheit gewinnen über die Zuständigkeiten, insbesondere hinsichtlich des Bundesministeriums des Innern (BMI) und der Länder, und eine baldige Notstandsgesetzgebung in die Wege leiten (die erst 1968 unter der Großen Koalition verabschiedet wurde). Die "Bevölkerungsbewegungen im Kriege" würden nach damaligen Schätzungen zwischen dreieinhalb und zwölf Millionen Personen umfassen, so daß die Bundesregierung wenigstens Hoffnungen auf eine Grenzöffnung der Nachbarstaaten setzte. Offizielle Vereinbarungen über die Aufnahme eines bestimmten Kontingents ließen sich Ende der fünfziger Jahre nicht erreichen.

Die Nato-Führung befürchtete im Kriegsfall ein riesiges Chaos auf dem gesamten Ostufer des Rheins, total verstopfte Brücken und eine stark eingeschränkte Operations- und Versorgungsführung der Truppen. Um die Bewegungsfreiheit der Nato-Verbände in der deutschen Hauptkampfzone zu gewährleisten, gab es demnach keine andere Möglichkeit als das Verbleiben am Wohnort. Dennoch auftretende Flüchtlingsströme sollten aus der Nato-Perspektive durch nationale Behörden in Schach gehalten beziehungsweise gelenkt werden. Das BMI widersetzte sich in diesem Zusammenhang der Tendenz, den Befehlshabern allzu weit gehende Kompetenzen zu gewähren. Es vertrat die Auffassung, daß die in den Entwurf einer Nato-Vereinbarung aufgenommene "Verwendung von Feuerwaffen gegenüber Flüchtlingen unter allen Umständen ausscheiden" müsse. Am Ende übten sich alle Beteiligten in der hohen bürokratischen Kunst des Ausklammerns beziehungsweise Nichterwähnens, wie Thoß nüchtern beschreibt: "Bei den abschließenden Verhandlungen zwischen einem Vertreter von SHAPE und den Beteiligten des BMI und BMVg fand man schließlich Anfang 1963 einen Kompromiß. Die deutsche Seite erkannte an, daß es für einen Nato-Kommandeur Situationen im Einsatz geben konnte, in denen er im Extremfall auch Schußwaffen einsetzen würde, wenn er seinen militärischen Auftrag anders nicht erfüllen konnte. Eine ausdrückliche Erlaubnis dazu wollte man in dem Dokument aber nicht fixiert sehen, da ,dies zumindest politisch unklug und gefährlich sei'. Man einigte sich deshalb darauf, die entsprechende Passage ganz aus dem Text zu streichen, also über die Frage möglicher Gewaltanwendung bei der Räumung von Militärstraßen letztlich gar nichts auszusagen. Damit würde es faktisch in das Ermessen eines Kommandeurs gestellt bleiben, welcher Mittel er sich bediente, um seinen verbindlichen Einsatzauftrag im äußersten Falle auch mit Gewalt durchzusetzen."

Die Forderung, daß die Bundesbürger in den besonders bedrohten Städten ausharren sollten, konnte nicht wirklich greifen, solange der Bunkerbau sowie die Vorkehrungen für die Lebensmittel- und Trinkwasserversorgung derart weit hinter den Gefahreneinschätzungen zurückblieben. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, schlug der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes sogar vor, statt des "stay at home" vorab besser ein flächendeckendes Netz unverteidigter Orte auszuweisen, das mit den militärischen Operationsplänen abzustimmen und völkerrechtlich festzuzurren sei. Thoß stellt dazu fest: "Noch Anfang der achtziger Jahre existierten in der Bundesrepublik gerade einmal 1,8 Millionen Schutzplätze, also für etwa 2,9 Prozent der Bevölkerung, von denen bestenfalls 400 000 in einem Zustand waren, daß sie effektiven Schutz versprachen und außerdem auch von der Allgemeinheit benutzt werden konnten. Deshalb mußte man wie in der Vergangenheit davon ausgehen, daß die Masse der Bevölkerung weitgehend ungesteuert aus Kampfzonen zu flüchten versuchen . . . Die Hoffnung auf völkerrechtlich abzusichernde ,Fluchtburgen' erschien dagegen mindestens ebenso illusionär wie alle Versuche zu einem rigorosen Durchsetzen des ,stay at home', so daß aus militärischer Sicht letztlich nur die fortdauernde Forderung nach ausreichendem Schutzraumbau übrigblieb. Nur bei Schutzvorkehrungen, die für die betroffenen Menschen erkennbar waren und von ihnen als hinreichend empfunden wurden, mochte vielleicht zu erwarten sein, daß sich eine Mehrheit von ihnen dazu bewegen ließ, an ihren Wohnorten zu verbleiben und sich nicht dem dann wesentlich unberechenbareren Risiko einer Massenflucht auszusetzen." Genau dafür aber konnte und wollte die Bundesrepublik nicht die Mittel aufbringen, so daß Thoß die Frage stellt, ob die angelsächischen Analytiker nicht recht behalten hätten: Schon Mitte der fünfziger Jahre hatten sie den massenhaften Schutz der Bevölkerung für nicht finanzierbar erklärt und statt dessen auf den allein verbleibenden Ausweg einer wirksamen Abschreckung gesetzt, die Krieg mit allen seinen unberechendaren Konsequenzen zu verhindern anstatt ihn zu führen suchte.

Totale Kriegführung

Die vorzügliche Studie von Thoß endet mit dem Jahr 1960, weil unter Eisenhowers Nachfolger John F. Kennedy eine Strategiereform weg von der "massive retaliation" hin zur "flexible response" angepeilt und während der Präsidentschaft von Lyndon B. Johnson 1967/68 eingeführt wurde. Die zwischen 1954 und 1957 implementierte totale Kriegführung unter den Bedingungen der massiven Vergeltung hatte seit den Weltraumerfolgen der Sowjetunion ab 1957, die sogleich die Verletzbarkeit des nordamerikanischen Kontinents aufzeigten, und des sich anbahnenden atomaren Patts zwischen den Supermächten Washington und Moskau zu ersten Modifizierungen geführt. Einhergegangen war damit eine nie mehr gänzlich überwundene Vertrauenskrise im Bündnis über die Glaubwürdigkeit atomarer Zusagen der Vereinigten Staaten an die Nato. Außerdem konnte die Bundesrepublik auf die Einsatzplanung der Nato um so stärker Einfluß nehmen, je weiter der Aufbau der Bundeswehr an Tempo gewann. Immerhin kam es zu einer Vorverlegung der Verteidigungslinien vom Rhein an Weser und Lech (1958) und dann an die innerdeutsche Grenze (1963) - und zur Strategie der abgestuften Abschreckung bei flexiblen Reaktionsmöglichkeiten des Nato-Bündnisses auch unterhalb der nuklearen Schwelle.

Thoß stellt in seiner Schlußbetrachtung als besondere Stärke des westlichen Bündnisses die Erkenntnis heraus, "daß es die Überforderung aus der totalen Kriegsvorsorge rechtzeitig erkannt hatte. Am Anfang dieser Entwicklung hatten die politischen Annahmen von einer vermeintlich billigeren und damit systemverträglicheren Verteidigungsplanung der reinen nuklearen Abschreckung gestanden. Es waren nicht zuletzt die Militärplaner und Strategiedenker gewesen, die frühzeitig auf Trugschlüsse solcher vermeintlichen Plausibilitäten hingewiesen hatten. Politik hatte solches Denken einer vorrangig atomaren Ausrichtung westlicher Verteidigungsplanung Anfang der fünfziger Jahre in Gang gesetzt und anschließend in Allianzvorgaben umgesetzt. Es konnte denn auch nur die Politik sein, die seit Ende dieses Jahrzehnts solches Denken und Planen in die Bahnen einer wieder wesentlich stärker politisierten Bündnisstrategie zurücklenkten." Insgesamt bestätigen die präsentierten Atomszenarien, die selbst nach Jahrzehnten beim Leser noch Erstaunen und Entsetzen hervorrufen, eine Beobachtung des Historikers Detlef Bald über jene "Vernichtungswelten", in denen sich hohe Offiziere - wenn auch nach den Forschungen von Thoß längst nicht alle - eine Verteidigung der Bundesrepublik vorstellten. Diesbezüglich traf bereits der Titel des 1957 erschienenen eindrucksvollen Atomkriegsromans des "08/15"-Erfolgsautors Hans Hellmut Kirst den Nagel auf den behelmten und den unbehelmten Kopf: "Keiner kommt davon".

Bruno Thoß: Nato-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen der massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960. R. Oldenbourg Verlag, München 2006. 774 S., 39,90 [Euro].

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"beeindruckend kenntnisreiche Synthese" (Susanne Schrafstetter, in sehepunkte, 7/2007). "Die Arbeit besticht durch ihren Reichtum an neuem Material, Perspektiven und Ergebnissen, welche die Forschung nicht nur auf dem Sektor der Militärgeschichte weiterbringen. Im Lichte der hier ausgebreiteten Resultate kann auch die Geschichte der frühen Bundesrepublik besser und deutlicher geschrieben werden." (Jost Dülffer, in Militärgeschichtliche Zeitschrift, 65/2006) "Thoß kommt in seiner materialreichen Studie zu einer Reihe von Schlussfolgerungen und Ergebnissen, die überzeugend sind." Mathias Stein, H-Net Book Reivew, Nov. 2007