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Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre vollzog in den 1960er Jahren einen tief greifenden Bruch mit ihrer Vergangenheit. Zunächst waren im Rahmen des neuen Verfassungskonsenses vor allem etatistische Traditionen wieder belebt worden. Anders als etwa die Staatsrechtslehrer aus dem Umkreis von Carl Schmitt hatten jedoch die Schüler von Rudolf Smend schon bald begonnen, das traditionelle Denken vom Staat her durch eine entschieden pluralistische Grundhaltung zu ersetzen. Seit Ende der fünfziger Jahre übernahmen sie Professuren und forderten nunmehr auch ihre Kollegen zu einem radikalen Umdenken…mehr

Produktbeschreibung
Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre vollzog in den 1960er Jahren einen tief greifenden Bruch mit ihrer Vergangenheit. Zunächst waren im Rahmen des neuen Verfassungskonsenses vor allem etatistische Traditionen wieder belebt worden. Anders als etwa die Staatsrechtslehrer aus dem Umkreis von Carl Schmitt hatten jedoch die Schüler von Rudolf Smend schon bald begonnen, das traditionelle Denken vom Staat her durch eine entschieden pluralistische Grundhaltung zu ersetzen. Seit Ende der fünfziger Jahre übernahmen sie Professuren und forderten nunmehr auch ihre Kollegen zu einem radikalen Umdenken auf. Am Ende der damit angestoßenen Entwicklung steht eine Staatsrechtslehre, die auf den Begriff des Staates kaum mehr zurückgreift und die versucht, auf den politischen Prozess direkten Einfluss auszuüben.
Autorenporträt
Dr. Frieder Günther, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2004

Verfassungsbau und Überschau
Frieder Günther untersucht die bundesdeutsche Staatsrechtslehre

Es ist mythologisch nicht ganz korrekt, aber doch ein sprechendes Bild: Chronos verschlingt seine Kinder. Der forteilenden Zeit folgt die Historisierung auf dem Fuß. Früher oder später wird alles Geschichte. Seit Jahrzehnten schon ist die frühe Bundesrepublik Gegenstand umfassender historischer Studien geworden. Die Geschichte der Rechtswissenschaft hinkt etwas hinterher; sie war lange mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, und sie ist es noch. Nun erwacht aber über dessen subkutanes Fortwirken nach 1945 das Interesse an der Wissenschaftsgeschichte der frühen bundesrepublikanischen Jahre. Die Fragen werden drängender, zumal in der Nachwirkung der Wiedervereinigung und im Kontext der Erosion des klassischen Nationalstaats: Welches Bild vom "Staat" ist uns - verpackt in dogmatische Figuren und Metaphern - aus dem neunzehnten Jahrhundert überliefert worden, welche Bedeutung hat der in den zwanziger Jahren heiß diskutierte Methodenstreit, und was haben die Staatsrechtslehrer zur Zeit des "Wirtschaftswunders" daraus gemacht?

Frieder Günther, Historiker aus der Tübinger Schule von Anselm Doering-Manteuffel, hat hierzu ein aufregendes und anregendes Buch geschrieben. Er hat sich in den staatsrechtlichen Stoff eingelesen, hat Akten und Briefwechsel befragt und auf diese Weise ein kommunikatives Netzwerk mit zwei Schwerpunkten rekonstruiert. Es sind dies der öffentlich in Göttingen wirkende Rudolf Smend (1882 bis 1975) und der von Plettenberg aus im Hintergrund präsente Carl Schmitt (1888 bis 1985). Um Smend bildete sich ein berühmt gewordenes Seminar mit Peter von Oertzen, Horst Ehmke, Wilhelm Hennis, Konrad Hesse und anderen. Dort sah man Staat und Gesellschaft eher als dialektisch aufeinander bezogene und sich durchdringende Größen, rückte die Verfassung ins Zentrum und öffnete sich anglo-amerikanischen Einflüssen. Der Gesamtduktus war eher prozedural und integrativ. Schmitt wirkte aus seinem "Exil" Plettenberg gleichermaßen auf einen großen Schüler- und Sympathisantenkreis, dem etwa Werner Weber, Ernst Forsthoff sowie die Jüngeren Joseph H. Kaiser, Roman Schnur, Helmut Quaritsch und Ernst-Wolfgang Böckenförde angehörten, ganz abgesehen von den ausländischen "Schmittianern" (siehe dazu auch Jan-Werner Müller, "A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought", Yale University Press 2003). Dort zog man die Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft schärfer, kritisierte Pluralismus, Verbandswesen und Parteienstaat, um den Staat als neutrale, der Gesellschaft übergeordnete und entscheidungsfähige Macht zu erhalten. Weniger Integration als vielmehr Grenzziehung und Dezision waren angesagt. In den Zeitschriften "Archiv des öffentlichen Rechts" und, seit 1962, "Der Staat" stellte sich die Spannung zwischen Lagern exemplarisch dar.

Natürlich weiß Frieder Günther, daß das facettenreiche Bild von zwei Jahrzehnten Wissenschaftsgeschichte nicht ohne Rest auf die beiden "Lager" reduziert werden kann. Viele ganz unabhängige Personen und Werke lassen sich nicht so einordnen, aber er sieht richtig, wie sich unter demokratischen Prämissen ein neues Muster durchsetzte, das die Frontlinien der Weimarer Auseinandersetzungen nur noch verwischt erkennen ließ. Stand damals die Opposition gegen den traditionellen staatsrechtlichen Positivismus im Vordergrund, ging es nun um die Selbstfindung eines 1949 geschaffenen Teilstaates, der sich als das Ganze verstand, es ging um die großen Streitigkeiten der Bundesrepublik (Wiederbewaffnung, Reichskonkordat, KPD-Verbot, Fernseh-GmbH, Notstand), um die theoretische Einarbeitung des Verbandswesens und der Parteien sowie um eine neue Positionierung der Kirchen. Gerade das Staatskirchenrecht, das bei Günther nur gestreift wird, könnte ein Testfall für die unterschiedlichen Denkstile sein, etwa die katholische, schärfer konturierte Linie von Paul Mikat und Ernst Friesenhahn über Böckenförde und Isensee, daneben die evangelische, weicher gezeichnete von Rudolf Smend und Konrad Hesse, Ulrich Scheuner und Axel von Campenhausen. Aber auch hier gehen bei näherem Zusehen die Linien ineinander über, etwa bei wichtigen Autoren wie Martin Heckel einerseits, Alexander Hollerbach andererseits.

Die fesselnde und durch viele Briefzitate manchmal schmerzliche Deutlichkeit gewinnende Darstellung hört leider um 1970 auf. Man wüßte gerne, wie das Fach auf die immer noch als Phantomschmerz spürbare Zäsur von 1968 reagierte und wie sich nun die Neuorientierung der letzten dreißig Jahre bündeln läßt. Auch das parallel sich ausdifferenzierende Verwaltungsrecht mit seinen nur ähnlichen, aber nicht identischen Verlaufskurven wäre historisch sehr ergiebig, wie Günther in knappen Seitenkapiteln zeigt. Schließlich: Wie werden seit einer Generation Europäisierung und Globalisierung verarbeitet? Aber man darf fairerweise von einem Buch nicht mehr verlangen, als sein Autor sich selbst vorgenommen hat. Vielleicht weil Frieder Günther nicht selbst Staatsrechtslehrer ist, konnte er seinen Gegenstand unbefangen und deutlich wahrnehmen und dessen Vielfalt auf ein lesbares Maß reduzieren. Außerdem ist er jung genug, die meisten der hier besprochenen Akteure schon geschichtlich zu sehen. Sein Buch hat eine wertvolle Grundlage für die voranschreitende Historisierung gelegt, eine Historisierung, die nicht etwa "Entsorgung" bedeutet, sondern unvoreingenommene Analyse und damit auch Aneignung.

MICHAEL STOLLEIS

Frieder Günther: "Denken vom Staat her". Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970. R. Oldenbourg Verlag, München 2004. 364 S., geb., 69,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Frieder Günther, Historiker aus der Tübinger Schule von Anselm Doering-Manteuffel, habe hier ein "aufregendes und anregendes" Buch über die Geschichte der Staatsrechtslehre in der frühen und mittleren Bundesrepublik geschrieben, lobt Michael Stolleis. Vielleicht gerade, dass Günther selbst kein Staatsrechtler sei, habe dabei außerdem dafür gesorgt, lobt der Rezensent weiter, dass der Autor seinen Gegenstand "unbefangen und deutlich wahrnehmen" und dessen Vielfalt "auf ein lesbares Maß reduzieren" konnte. Mit seinem Buch habe Günther, so Stolleis weiter, eine "wertvolle Grundlage" für die "Historisierung" der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen am Ausgang der Bundesrepublik gelegt; für eine Historisierung, die dann, bei solchen Grundlagen, zudem durch "unvoreingenommene Analyse und damit auch Aneignung" geprägt wäre. Die Fragestellungen, die das Buch bearbeitet, fasst der Rezensent so zusammen: Was ist vom Staatsbild des 19. Jahrhunderts in das verfassungsrechtliche Denken der Bundesrepublik eingegangen, was vom Methodenstreit der 20-er Jahre, und was haben die Staatsrechtslehrer der Bundesrepublik dann daraus gemacht?

© Perlentaucher Medien GmbH
"... ist dem Verfasser zu bestätigen, eine äußerst instruktive und für das Verständnis der bundesrepublikanischen Entwicklung wichtige Analyse geliefert zu haben. Seine Darstellung ist das beste, was wir derzeit zur Geschichte der staatsrechtlichen Disziplin besitzen." Hans Boldt, Historisch-Politisches Buch 2/2005 "Das bemerkenswerte Werk ist als Dissertation an der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Tübingen zustande gekommen; doch seine Qualität reicht über das normale Niveau dieser Klassifikation hinaus." Rolf Grawert, Der Staat 1/2005 "Wer sich künftig über die deutsche Staatsrechtslehre und ihre Strömungen im 20. Jahrhundert ein Bild machen will, kann und darf an dieser Arbeit nicht vorübergehen." Ernst-Wolfgang Böckenförde, Rechtsgeschichte 6/2005 "Gerade weil der Diskurs um den Staat weitergeht, wird Günthers Untersuchung für alle, die sich mit dem Bezugsfeld von Staat und Politik in Deutschland befassen, ein unverzichtbares Standardwerk werden." Daniel Hildebrand, Historische Zeitschrift 279,3/ 2004 "Die Arbeit ist eine Pionierleistung. Eine Wissenschaftsgeschichte des bundesdeutschen Staatsrechts hat es bislang nicht gegeben. [...] Mit tadelloser Fachkompetenz zeichnet Günther die wesentlichen staatsrechtlichen Debatten nach, und er vermag auch die personellen und inhaltlichen Hintergründe der Kontroversen aufzudecken. Auch beim juristischen Detail bleibt die Arbeit immer zuverlässig." Oliver Lepsius, sehepunkte 5/2004 "Vor diesem Hintergrund erhält die vonFrieder Günther am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen angefertigte Dissertation ihre besondere Relevanz; sie schließt eine Lücke historischer Forschung zur '"Westernisierung" der Bundesrepublik. [...] In der Rekonsturktion dieser zeitgeschichtlichen Zusammenhänge ist Günthers Arbeit gut recherchiert und spannend zu lesen; seine Beweisführung und konkreten Schlussfolgerungen erfolgen immer "hart" am Archivmaterial." Robert Chr. van Ooyen, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 2006 "Die Arbeit besticht vor allem durch Materialreichtum und Lebendigkeit in der Darstellung." Barbara Remmert, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 3-4/2007 "Günthers Arbeit kann dahingehend in der Tat als eine Pionierleistung angesehen werden, zumal eine Wissenschaftsgeschichte dse bundesdeutschen Staatsrechts bislang ausständig war." , "die gleichermaßen präzise wie tiefschürfende Rekonstruktion einer gesamten Wissenschaftsdisziplin über ein Vierteljahrhundert hinweg.", "ein äußerst lebendiges und 'persönliches' Bild des Faches und insbesondere seiner Mitglieder, weit über die rein fachliche Dimension hinaus.", "Sie überzeugt in inhaltlicher und wie stilistischer Hinsicht, ist eingängig geschrieben und repräsentiert ohne Zweifel einen grundlegenden (Innovations-)Beitrag in der jüngeren deutschen Wissenschaftsgeschichte im allgemeinen und Staatrechtsgeschichte im besonderen. Von daher kann dem Werk nur gewünscht werden, als Inspiration für weiterführende Studien wahrgenommen zu werden." Markus J. Prutsch, H-net Book review…mehr