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Nach Unterwelt, dem großen politischen Roman, hat Don DeLillo in Körperzeit die intimsten und elementarsten zwischenmenschlichen Regungen genau beobachtet und unter die Haut gehend dargestellt. Ein neues Meisterwerk des großen amerikanischen Autors. Ein Mann und eine Frau, der Filmregisseur Rey und die Konzeptkünstlerin Lauren, sitzen sich beim Frühstück in einem Haus gegenüber. Jede alltägliche Bemerkung, jede kleine Bewegung wird registriert. Es ist der Terror eines normalen Tages, der Wahnsinn der Routine.
An diese Routine, aber auch an die Nähe und die Entfremdung erinnert sich Lauren,
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Produktbeschreibung
Nach Unterwelt, dem großen politischen Roman, hat Don DeLillo in Körperzeit die intimsten und elementarsten zwischenmenschlichen Regungen genau beobachtet und unter die Haut gehend dargestellt. Ein neues Meisterwerk des großen amerikanischen Autors. Ein Mann und eine Frau, der Filmregisseur Rey und die Konzeptkünstlerin Lauren, sitzen sich beim Frühstück in einem Haus gegenüber. Jede alltägliche Bemerkung, jede kleine Bewegung wird registriert. Es ist der Terror eines normalen Tages, der Wahnsinn der Routine.

An diese Routine, aber auch an die Nähe und die Entfremdung erinnert sich Lauren, nachdem ihr Mann sich umgebracht hat. Immer wieder hört sie ihre gemeinsamen, auf Band aufgenommenen Gespräche ab, die Protokolle dieser verstörenden Liebe.

Ihre Einsamkeit teilt sie nun mit dem geheimnisvollen Mr. Tuttle, einem irren kleinen Mann, den sie schon vor Reys Tod durch das Haus hat geistern hören. Er wird zum Spiegel und zum Echo ihrer Gespräche und ihres Lebens mit Rey.

Mit erbarmungsloser Selbstdisziplin entwickelt Lauren die Choreografie eines Stücks, in das ihre Erinnerungen und die Gespräche mit den beiden Männern, ihre tiefe Einsamkeit eingehen. Allein stellt sie auf der Bühne in Körperzeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in verschiedenen stummen Rollen dar und wächst bei der Aufführung über ihre Erfahrungen hinaus.

Körperzeit ist ein stilistisch prägnanter und intensiver Roman, der Don DeLillo von einer völlig neuen Seite zeigt.
Autorenporträt
DeLillo, DonDon DeLillo, 1936 geboren in New York, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Theaterstücken. Sein umfangreiches Werk wurde mit dem National Book Award, dem PEN/Faulkner Award for Fiction, dem Jerusalem Prize und der William Dean Howells Medal from the American Academy of Arts and Letters ausgezeichnet. 2015 erhielt Don DeLillo den National Book Award Ehrenpreis für sein Lebenswerk.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Ich bin Laura. Aber immer weniger
In der Innenwelt der Trauer: Don DeLillo erkundet die "Körperzeit" / Von Verena Lueken

Es heißt, daß eine Welt zusammenbricht beim Tod des geliebten Menschen. Oder daß man den Boden unter den Füßen verliert. Oder daß die Zeit stillsteht. Der Wirklichkeit kommt das Gerüst abhanden. Die Gewißheit, daß es ein Vorher und ein Nachher gibt, ein Hier und ein Dort, versinkt in Leere. Die Welt geht in uns verloren. Das ist es, was mit Laura geschieht, nachdem ihr Mann Rey sich getötet hat. Eigentlich wollte er nur Scheuermittel kaufen, doch dann fuhr er den ganzen Weg nach New York, ging in die Wohnung seiner ersten Frau und erschoß sich.

Laura, seine zweite Frau, geht zurück in das Haus auf einem einsamen Ödstreifen an der neuenglischen Küste, in dem sie mit Rey einige Monate gelebt hatte. Der Mietvertrag gilt für sechs Monate, zwei sind noch übrig. In einem ungenutzten Zimmer unterm Dach findet sie einen Mann, der in Stimmen spricht, vornehmlich in Reys und ihrer eigenen. Sie nennt den Findling Mr. Tuttle, und sie unterläßt alles, um herauszufinden, wer er sei. Was ihr in seiner Gegenwart widerfährt, ist eine Art Gespenstergeschichte, am Anfang manchmal noch komisch, zum Ende hin zunehmend verstörend, beobachtet von einem Spezialisten für Bewußtseinsströme, erzählt von einem poetischen Pessimisten, der mit Sprache alles machen kann.

Der ihren Klang liebt und ihre Dynamik, wenn die richtigen Wörter aufeinandertreffen, der aber auch, wie Beckett oder Gertrude Stein, ihr manchmal jede Bedeutung austreibt und uns dennoch in die Lektüre fesselt, fasziniert von der Bewegung der Wörter, die uns mitunter verführt, zu schnell zu lesen. Weil wir erwarten, daß sie auf ein Ereignis zufließen. Weil wir nicht glauben wollen, daß auch die Sprache die Welt nicht mehr trägt.

Es war schwer vorstellbar, was für ein Buch Don DeLillo nach "Unterwelt" schreiben könnte, dieser tausendseitigen nomadischen Grabungsreise durch die verdrängte Geschichte Amerikas im Kalten Krieg, die vor vier Jahren herausgekommen war. "Körperzeit" ist vielleicht die klügste, möglicherweise die einzige Antwort: ein Roman von provozierender Kürze, der sich ganz auf eine Figur konzentriert. Er wird geübte DeLillo-Leser verblüffen, weil er keine Politik enthält und keine Verschwörungen, keine Bombe und keine Werbung, kein Fernsehen, keinen Sport. Immerhin schaut Laura nachts oft im Internet auf eine Straßenkreuzung in Kotka, Finnland, auf die eine bewegungslose Webkamera gerichtet ist. Manchmal taucht ein Auto aus der Nacht auf oder auch nicht.

Doch es gibt, wie fast immer bei DeLillo, eine grandiose Eröffnung. Sie ist im Verhältnis zum Umfang des Buchs - nach ihr ist ein knappes Viertel des Romans bereits vorbei - länger noch als das Baseballspiel, mit dem "Unterwelt" beginnt, und sie ist, wiewohl nur für zwei Personen geschrieben, nicht weniger kunstvoll komponiert. Laura und Rey frühstücken. Sie leben noch nicht lange zusammen, und so ist dies eine erst kürzlich erworbene Routine zwischen ihnen mit einigen Hängern und Stoppern, die gerade zum Teil ihrer Gewohnheiten werden.

Außerhalb von Laura und Rey gibt es keine Welt, die Zeitung, die sie sich teilen, ist viele Tage alt, und wir erfahren nicht, was sie da lesen, nur, daß Laura über den Geschichten aus der Zeitung manchmal in Tagträume fällt, über die wir ebenfalls nichts wissen. Weil es einmal heißt "an diesem letzten Morgen" wird jede banale Einzelheit so bedeutungsvoll, daß DeLillo die Anstrengung unternimmt, sie mit phantastischen Wortkombinationen zu beschreiben.

Zum Beispiel das Schauspiel, wenn Rey gedankenverloren und viel länger als nötig den Orangensaftkarton schüttelt, dreht und wendet, "weil es irgendwie dumpf und harmlos befriedigend war, ein kindischer Selbstzweck, das Rumpeln und Plätschern und Papporangenaroma". Im Original heißen diese letzten Wörter des Absatzes "bounce and slosh and cardboard orange aroma", und sie klingen, als habe DeLillo vor allem um ihretwillen diese Szene geschrieben.

Frank Heibert ist für Autoren, deren Sprache in solchen Erfindungen lebt, ein zuverlässiger und phantasievoller Übersetzer. "Körperzeit" ist ein Buch voller Doppelgänger- und Geistermotive, die bis in einzelne Silben kriechen, aus denen das Echo von schon einmal Gesagtem klingt in Sätzen, aus denen jeder Sinn verschwunden scheint. Die Sprache befreit sich von den gewohnten Metren zeitlicher Abfolgen, und die ekstatische Absurdität, die daraus folgt, hat Heibert auch im Deutschen aufgespürt. Um DeLillos Bücher muß man sich bei ihm keine Sorgen machen. Einzig die "Performancekünstlerin" für "Body Artist" - das ist der Originaltitel von "Körperzeit" und Lauras Berufsbezeichnung - scheint nicht zwingend. Es hätte schon die Körperkünstlerin sein können, die im Deutschen auch nicht ungewöhnlicher ist als im Englischen und ein ganzes Stück rätselhafter und zugleich präziser. Lauras Kunst ist die Verwandlung. Sie kann auf der Bühne eine alte Japanerin sein oder ein sprachgestörter Mann. Sie kann jeder werden, weil es ihr durch eine Trainingsroutine, die Rey einmal totalitär genannt hat, gelingt, den eigenen Körper abzuschütteln. Sie macht mit ihm, was DeLillo mit der Sprache tut, sie biegt ihn und streckt ihn, und sie schrubbt ihn blank von allen Resten vergangener Zeit, bürstet Talgkügelchen und tote Zellen aus den Poren, rubbelt Schuppen aus den Beugen, reißt Haare und Härchen heraus, bleicht die Pigmente, bis ihre Haut eine leere Fläche ist, bereit aufzunehmen, was hier ist und jetzt, unberührt vom Fluß der Zeit.

"Körperzeit" ist ein Buch über die Trauer, doch kein psychologischer Roman. Jenseits des wenigen, das geschieht, erfahren wir über Laura und ihren seltsamen Gast nichts. Rey, so informiert uns ein Nachruf, war vierundsechzig, ein Filmemacher mit einer Vorliebe für "Menschen in Landschaften der Entfremdung". Aber Rey ist ja tot und kommt im Folgenden nur in seiner imitierten Stimme mit Äußerungen ohne Kontext zu Wort, die von jeder Verbindung zu einer Situation, in der sie ursprünglich einmal gesagt wurden, abgeschnitten sind. DeLillo rekonstruiert eine Gefühlswelt voller absurder Gleichzeitigkeiten, einen fließenden Zustand, in dem die Trauer die Grenzen zersetzt, die Grenzen des eigenen Ichs, die Grenzen zwischen den Zeiten, die Grenzen des Körpers, die Grenzen zwischen den Wirklichkeiten der Gegenwart, des Traums und der Erinnerung, die sich zu überlappen beginnen. "Ich bin Laura. Aber immer weniger." Da ist das Buch fast zu Ende.

Wir definieren uns in der Zeit. In "Körperzeit" lesen wir, was passiert, wenn das nicht mehr möglich ist und wenn die Zeit ihre erzählerische Qualität verliert. DeLillo beschreibt nicht die Ereignisse, sondern wie sie in das Bewußtsein hineingleiten, manchmal fallen, mal mit großer Leichtigkeit, so daß sie kaum registriert werden, andere Male mit voller Wucht, unter der der Körper zusammensackt, und wie sie dort auf Fragmente von Erinnertem treffen oder auf Bruchstücke von gleichzeitigen Eindrücken. Laura reagiert darauf mit dem Versuch, wenigstens in ihrer Kunst die Zeit stillstehen zu lassen, sie zu strecken, zu öffnen, "ein Stilleben herzustellen, das lebt". Man möchte sich das auf einer Bühne nicht wirklich vorstellen, von DeLillo beschrieben aber hat es eine überwältigende Logik.

Zwar als Roman ausgewiesen, ist "Körperzeit" im strengen Sinn eine Novelle, die von einem merkwürdigen und unerhörten Ereignis erzählt, dem etwas Unheimliches anhaftet, für das es auch am Ende keine Erklärung gibt. Es stellen sich Korrespondenzen her, wo man sie nicht erwarten kann, zwischen den Geräuschen, die Rey und Laura in den Wänden des alten Hauses hören und die klingen, als würde jemand an dem Hohlraum hinter ihnen herumraspeln, und den Bewegungen von Mr. Tuttle, die abrupt und eckig sind, aber gleichzeitig vorsichtig, als sei die Luft voller unsichtbarer Senken und Hindernisse. Immer wieder stellen einzelne Sätze den ihnen vorangegangenen in Frage, bis sich jede Bedeutung verflüchtigt hat: Ob er sie verstanden habe, fragt Laura den Findling. "Er machte eine Handbewegung, die auszudrücken schien, daß sie nichts weiter sagen mußte. Natürlich verstand er. Aber vielleicht auch nicht." Mr. Tuttle kennt den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht und auch nicht den zwischen sich und anderen. "Er erinnert sich an die Zukunft."

Er tut alles als ob, denkt Laura einmal, und so erfahren wir nie, wer er eigentlich ist. Die Erscheinung von Mr. Tuttle ist unvermeidlich. Damit lebt Laura, und damit muß sich auch der Leser zufriedengeben. Nur einmal macht er uns glücklich. "Das Wort für Mondschein ist Mondschein", sagt er, und obwohl auch dies nur die Wiederholung eines Satzes von Laura ist, steht er wie ein Fels, wo alle anderen Sicherheiten zerschmolzen sind.

Don DeLillo: "Körperzeit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 140 S., geb., 29,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2001

Wühlen im Sprachmagma
Zwischen Spieldosenbasteleien und Textgeburten: Frank Heibert, der deutsche Übersetzer von Don DeLillo
Ein Morgen am Pazifik; ein Liebespaar, Rey und Lauren, sitzen mit Toast und Müsli in der Küche: Don DeLillos neuer Roman „Körperzeit” beginnt mit der Beschreibung eines Frühstücks. Zwanzig Seiten, auf denen eingefangen ist, was an den Rändern der Wahrnehmung stattfindet, der feine Spinnweb aus Traumresten und nebenher Gesehenem, aus dem Gemurmel im Kopf und subkutanen Empfindungen. Abgebrochene Sätze und Blaubeerduft, das Rascheln der Tageszeitung und die Spatzen vor dem Fenster: „In den Kiefern tönt der Wind, die Welt beginnt zu sein, unwiderruflich, und die Spinne reitet auf ihrem windgewiegten Netz. ”
Frank Heibert springt auf, sein Finger fährt über die Zeilen und vernetzt einzelne Wörter miteinander, und es ist zu spüren, wie das sein muss, wenn der Sinn eines Wortes in einem zappelt, aber man ihn nicht zu fassen kriegt: „,The world comes into being’ – wie bringst Du das ins Deutsche? Die Welt kommt zur Welt? Zu verspielt. ,The world comes into being’, das ist ein Schöpfungsakt: Die Welt beginnt zu sein. ”
Seit drei Jahren bringt Frank Heibert Don DeLillos Welten ins Deutsche: Die deutsche Fassung der „Unterwelt” stammt von ihm, und kürzlich hat Heibert einen kleinen Text übersetzt, in dem DeLillo über den Alltag und die Arbeit eines Schriftstellers schreibt: „Er will sich in die Hirnströme anderer Menschen hinein imaginieren”, heißt es da. Heibert sagt umgekehrt, er habe während der 14 Monate im Bergwerk „Unterwelt” bisweilen das Gefühl gehabt, „fast körperlich in den Kopf Don DeLillos zu schlüpfen. ” Dabei spannt sich seine glatte Haut über die prägnanten Wangenknochen. Er zeigt auf einen Hemdknopf aus Messing: „DeLillo hat diesen Tunnelblick, ganz aufs Detail fixiert, um daran das Große zu erkennen. Man übernimmt diese intensive Art der Weltwahrnehmung. Ich hätte mich damals an diesem Knopf festgesaugt. ” Am Ende, als Heibert „Underworld” endlich in flüssiges Deutsch umgeschmolzen hatte, sagte sein Freund am Frühstückstisch: „Das war’s dann wohl mit unserer Menage à trois”.
Diesen Winter hatte Heibert DeLillo wieder als unsichtbaren Gast im Haus. „Körperzeit”, der Roman, der mit dem Frühstück von Lauren und Ray anhebt, kommt dieser Tage in die Buchläden. Lauren hat an dem Morgen in der Küche plötzlich ein fremdes Haar im Mund, und später – Rey ist längst tot und Lauren hat sich in dem Haus am Pazifik der Einsamkeit und Disziplin verschrieben – stellt sich heraus, dass sie einen Fremden unter ihrem Dach beherbergt, Mr. Tuddle, einen Jungen, der nur rätselhaft leere Sätze von sich geben kann, ein identitätsloses Echo fremder Stimmen. Wie in einer Höhle habe er sich in diesem Buch manchmal gefühlt, sagt Heibert, immer nach verborgenem Sinn tastend. DeLillo schreibt in seinem Text über den Schriftsteller: „Der Schriftsteller arbeitet an Kommas und Gedankenstrichen. Er tastet sich im Nahbereich voran. ”
Vor dieser Höhlenarbeit hatte Heibert einige Monate frei, zum ersten Mal seit zwölf Jahren: Heibert kam als erster Übersetzer in den Genuss des Barthold-Hinrich-Brockes-Stipendiums, benannt nach dem Hamburger Dichter und Übersetzer, der dank seines Vermögens ausgedehnte Bildungsreisen unternehmen und sich entspannt dem Studium der schönen Künste widmen konnte.
Dreigroschenopfer
Von ausgedehnten Reisen, Studien und einem Vermögen können Übersetzer nur träumen. 30 bis höchstens 40 Mark verdienen sie pro übersetzter Seite. Dass man dazu auf der Jagd nach dem verborgenen Sinn oftmals Branchenverzeichnisse wälzen und Spielzeuggeschäfte anrufen muss, interessiert die Verlage nicht. DeLillo schreibt bei all seinen Figuren aus der Innenperspektive heraus. Da reicht es nicht, einfach nur ein paar Fachbegriffe als Lokalkolorit einzusprengseln. Heibert musste Leute finden, die in den jeweiligen Sprachspielen zu Hause sind. Zum Beispiel die Baseballpassagen in „Unterwelt”: Die hat er zunächst „im Halbwissenblindflug binnenlogisch am Text entlang” übersetzt. Dann kam das ‘Tasten im Nahbereich’, all die feinen Verschiebungen, die Farben, die aus einer Übersetzung wieder Literatur machen. Heibert setzte sich zwei Nachmittage lang mit dem Präsidenten des Berliner Baseballverbandes zusammen um herauszubekommen, wie ein überschnappender deutscher Radiomoderator der 50er Jahre in der Hitze eines Spieles reden würde. Heibert muss ins Schlachthaus, um sich zeigen zu lassen, wie man Tierkadaver zerlegt, oder er muss einen alten Leuchtturmwärter am Ende der Kieler Förde ausfindig machen, weil der der einzige ist, der noch weiß, wie man eine bestimmte Petroleumlampe seinerzeit bezeichnete. Ein Wort, das ist eine Tausendstel Seite, für die Suche nach der richtigen Lampe gibt es also 3 Pfennig.
Und so muss man sich nach jedem Buch sofort ins nächste stürzen, wenn man vom Übersetzen leben möchte. Die Leser freilich sollen von der ganzen Plackerei nichts spüren. Kein Wunder, dass man sich Übersetzer als lichtscheue Wesen vorstellt, die alleine ums rechte Wort ringen und ansonsten still am Pullisaum des Lebens knispeln.
Semantischer Zauberwürfel
Und dann sitzt einem Frank Heibert gegenüber, der wie ein Impresario seiner selbst wirkt, smart und ungemein eloquent. Eine helle Wohnküche, ein knalliger Yves-Klein-Fleck an der Wand, auf einem Stuhl liegt ein Buch über Body-Building für den Männerbauch. Heibert sitzt da und erzählt, wie quälend das ist, wenn der Sinn eines Satzes in einem zappelt, man weiß, was ein Autor in seiner Sprache sagt, aber wie man den Satz auch umformt, man bekommt die Bedeutung nicht unverfälscht von der einen Sprache in die andere. Heibert springt auf und rennt zu seinem Bücherregal – im Verlauf des Nachmittags sammeln sich elf Bücher auf dem Tisch im Wohnzimmer an – und kommt mit „Unterwelt” und „Underworld” zurück. Schlägt auf und liest den ersten Satz der 827 englischen Seiten: „He speaks in your voice, American. ” Was heißt dieser Zusatz – „auf amerikanisch” oder wird da der Amerikaner angeredet? Und wie ist dieses Wort „voice” zu übersetzen? Als Sprache? Als Stimmlage oder doch als Stimme? Heißt es dann in Deiner Stimme, mit Deiner Stimme oder, freier, an Deiner Stelle? Heibert lässt den Satz wie einen Zauberwürfel in immer andere semantische Ebenen kippen, bis er schließlich bei seiner Übersetzung einrastet: „,Er spricht wie Du, mit amerikanischer Stimme’. Das war’s, da schwingen alle Rätsel des Originals mit. ”
Man muss als Übersetzer wohl ein unbedingtes Mitteilungsbedürfnis haben, eine Liebe zu dem, was geschrieben steht. „Es gibt Texte”, schreibt Georges-Arthur Goldschmidt, „die einen derart angehen, es gibt eine solche Intensität des Verstehens, dass man sozusagen vom Bedürfnis, es weiter zu geben überwältigt wird: Man kann es einfach nicht für sich behalten; damit fängt ja das Übersetzen an. ” Bei Heibert fing es damit an, dass er verliebt war. Zu Beginn seines Studiums wollte er einem Freund Yourcenars „Alexis” schenken, die Übersetzung aus den Fünfziger Jahren war vergriffen, „da hab ich’s ihm selbst übersetzt. ” Der erste Satz aus Heiberts Gesamtwerk, nur mehr erhalten in zwei selbst gebundenen Exemplaren, lautet: „Dieser Brief, liebe Freundin, wird sehr lang werden. ”
Seither sind 19 lange Jahre vergangen, und Heibert hat mittlerweile knapp 80 Bücher aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen übersetzt. Bei manchen dieser Texte arbeitet er als „Feinmechaniker: Das ist so, als nähme ich jeden Tag einen kleinen Apparat auf den Schreibtisch und zergliederte den vorsichtig. ” Was zu einem anderen Bild passt, das Heibert im Verlauf des Gesprächs benutzt: „Texte sind wie eine Spieldose: Die möchte man aufmachen, auseinander nehmen, ihr Innenleben begreifen, und dann baut man sie so zusammen, dass es auch wieder funktioniert. ”
Spieldosenbastelei – das klingt nach wohltemperiertem Schaffen. Aber dann gibt es Texte, die man „rauspresst wie eine Geburt”. Tristan Egolfs „Monument für John Kaltenbrunner”, das im Herbst erschienen ist, war so ein Fall, ein atemloser, wüster Text vom Aufstand eines Outlaws, der es zusammen mit seinen Kollegen von der Müllabfuhr gegen eine ganze Stadt aufnimmt und am Ende zu Grunde geht. „Da habe ich wochenlang im Sprachmagma gewühlt und musste nach jedem Absatz das Fenster aufreißen. ”
Ob er denn auch mal Fehler mache. Wieder schlägt Heibert DeLillo auf. Eine Studentin rief ihn an und fragte, warum er zehn Seiten vor Schluss „World” mit „Wort” übersetzt habe. Heibert hatte das kleine l einfach übersehen. Die Welt als Wort, ein Fehler, fast zu schön um wahr zu sein: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei DeLillo. „The word comes into being” – in einer leichten Abwandlung des Satzes aus „Körperzeit” könnte man Heiberts Arbeit so umschreiben.
ALEX RÜHLE
Eine ausführliche Besprechung von Don DeLillos „Körperzeit” finden Sie in unserer heutigen Literaturbeilage.
Frank Heibert
Foto: Christian Topp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Damit wir es uns merken, sagt es der Rezensent gleich zweimal: Don DeLillo hat sich überboten. Von Rezensent Martin Lüdke indessen möchte man das nicht unbedingt behaupten. Zwar gelingt es ihm, uns den Brennglaseffekt der allenthalben zitierten und gelobten Frühstücksszene des Romans zu demonstrieren. Auf welche Weise genau es dem Autor jedoch gelingt, "den ungeheuerlichsten aller ästhetischen Ansprüche" - die Überwindung des Todes durch die Aufhebung der Zeit, dies das Thema des Buches - zu transportieren, vermag uns Lüdke auch mit Unterstützung durch das herbeizitierte Dreamteam Horkheimer/Adorno kaum zu vermitteln. Die folgenden auf den Roman bezogenen Zeilen der Besprechung gelten deshalb auch für sie selbst: Die Leser, heißt es da, sind nicht einmal klüger geworden. Aber mächtig irritiert.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Don DeLillo beweist mit seinem neuen Roman Körperzeit erneut, dass er einer der größten Schriftsteller unserer Zeit ist.« Michael Althen Süddeutsche Zeitung