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"Der Kaufmann von Venedig" ist eines der am meisten gespielten Stücke William Shakespeares. Weshalb also sollte es neu gelesen werden? Das Stück ist voll zwiespältiger Charaktere, Beweggründe, Handlungen, die einander und oft sich selbst widersprechen. Alle vier Protagonisten scheint es doppelt zu geben: Shylock als grotesken Bösewicht und leidenden Verfolgten; Antonio als selbstlosen Freund und todessüchtigen Homosexuellen; Bassanio als Liebhaber und Mitgiftjäger; Portia als Heldin eines Feenmärchens oder eines realen Entwicklungsromans: vom verwöhnten Schloßfräulein über die selig Verliebte…mehr

Produktbeschreibung
"Der Kaufmann von Venedig" ist eines der am meisten gespielten Stücke William Shakespeares. Weshalb also sollte es neu gelesen werden? Das Stück ist voll zwiespältiger Charaktere, Beweggründe, Handlungen, die einander und oft sich selbst widersprechen. Alle vier Protagonisten scheint es doppelt zu geben: Shylock als grotesken Bösewicht und leidenden Verfolgten; Antonio als selbstlosen Freund und todessüchtigen Homosexuellen; Bassanio als Liebhaber und Mitgiftjäger; Portia als Heldin eines Feenmärchens oder eines realen Entwicklungsromans: vom verwöhnten Schloßfräulein über die selig Verliebte bis zur Frau, die ihren Streit um den Geliebten kämpft und gewinnt. Die buchstabengenaue Lektüre des Stücks durch den Theatermann und Literaturforscher Ivan Nagel führt zu einem erstaunlichen Ergebnis. Shakespeare hat in diesem Stück zwei Stücke geschrieben: eines für sein Publikum von (laut Magistrat von London) »entlaufenen Dienern, Beutelschneidern, Pferdedieben, Zuhältern, Falschspielern« - ein anderes für die Wachsamsten seiner Zeit und der Nachwelt. Das Buch geht dem Stück bis in Shakespeares Probenarbeit als Theaterunternehmer, Autor und Regisseur nach. Er erscheint hier nicht als »ein Elisabethaner« - sondern als der Dichter-Dramatiker, der Genaueres vom Menschen wußte als irgendein anderer.
Autorenporträt
Nagel, IvanIvan Nagel, 1931 in Budapest geboren, von 1972 bis 1979 Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, später Schauspielchef in Stuttgart. Er war zuletzt Professor für Geschichte und Ästhetik der Darstellenden Künste an der Universität der Künste in Berlin. Er verstarb am 9. April 2012 in Berlin.Zu seinen Büchern gehören: Autonomie und Gnade - Über Mozarts Opern, Der Künstler als Kuppler - Goyas Nackte und Bekleidete Maja, Kortner Zadek Stein, Falschwörterbuch.Seit 2010 erscheint sein Gesamtwerk im Suhrkamp Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2013

Zwei Stücke wohnen, hach, in Shakespeares Brust

Schwulentragödie und Judenkomödie: Ivan Nagel liest den "Kaufmann von Venedig" mit kriminalistischem Spürsinn als Doppelspiel und feiert ihn als eine virtuose Verteidigung der Männerliebe.

Das ist ein seltsames Buch. Einerseits überfertig. Mit Thesen und Beweisen geradezu überbaut. Andererseits unfertig. Fünf Kapitel insgesamt, wobei das fünfte in Notizen, Zettelfunden, Satzresten fragmentarisch auströpfelt. Aber selbst das final Fragmentarische untermauert das in vier Kapiteln Festgebaute noch einmal wie in Schnipseldogmatik gegossen.

Ivan Nagel, der Autor, war Theaterkritiker ("Süddeutsche Zeitung", "Theater heute"), Dramaturg (Münchner Kammerspiele), zeitweise Kulturkorrespondent dieser Zeitung (New York), Schauspiel-Intendant (Hamburg und Stuttgart), zuletzt Ästhetikprofessor (Universität der Künste, Berlin), zeitlebens aber ein passionierter Theatergedankenmacher. Über der peniblen, fertig-unfertigen Verfertigung seiner Gedanken zu "Shakespeares Doppelspiel" im "Kaufmann von Venedig" ist er im Frühsommer letzten Jahres gestorben. Sein Verlag druckt hiermit sozusagen Nagels "Unvollendete".

Man kann das lesen als eine Art großsymphonischer Enigma-Variationen. Wort für Wort, Satz für Satz sprachlich durchmusiziert und durchmotiviert. Wobei deren Rätsel und thematischer Urgrund nicht verborgen und versteckt bleibt, sondern prunkvoll und stolz Punkt für Punkt enthüllt, einem sorgfältig inszenierten Dunkel entrissen wird. Elegant und wuchtig und mit jener Emphase und intellektuellen Schärfe und hochgemuten Unnachgiebigkeit geschrieben, für die Ivan Nagel berühmt war.

Er zerlegt genau lesend, forschend und tüftelnd William Shakespeares "Kaufmann von Venedig". Jenes Theaterstück, in dem der Jude Shylock dem christlichen Kaufmann Antonio laut Schuldschein ein Pfund Fleisch "nahe dem Herzen" herausschneiden darf. Wenn nämlich der Kaufmann seine Schulden nicht zurückzahlen kann (was dann so auch eintrifft) - die er beim Juden, den er abgrundtief hasst, machte, um seinem jungen Freund Bassanio die Brautfahrt zur reichen Erbin Portia zu finanzieren.

Dass diese Komödie eine bittere Komödie ist, in der dem Juden (Aber bitte kein Tröpfchen Blut vergießen beim Fleischherausschneiden! Von Blut steht nichts im Schuldschein!) von seinen christlichen antisemitischen Gegnern und Richtern eine fast talmudisch gefinkelte Falle gestellt wird, durch deren doppelten Boden all sein konfisziertes Vermögen und durch eine finale Zwangstaufe auch sein jüdischer Glaube ins höhnisch Existenz-Leere stürzen, das weiß jede bessere Stadttheaterinszenierung inzwischen auch. Und auch, dass in dieser Komödie wie noch in jeder wahren Komödie naturgemäß eine Tragödie steckt.

Es geht Ivan Nagel aber nicht um das eine im anderen. Es geht ihm, was er mit akribisch kriminalistischem Spürsinn und einer fast forensisch-philologischen Wort-, Szenen- und Textabwägung zu wissen und zu beweisen glaubt und es den Leser in verführerischer Emphase zu glauben nötigt, darum: dass Shakespeares "Kaufmann von Venedig" ein Drama in zwei voneinander völlig getrennten Stücken sei. Das eine, das romantic play, das süßleidige Lustspiel mit Brautwerbung, Judentochter-Entführung, Kästchenwahl, Schuldschein-Affäre und einer Braut, die sich als Richter verkleidet und den Juden hereinlegt - diese offen zutage tretende und an der Oberfläche alles abmachende Vorlage mit all ihren möglichen antisemitischen oder je nach Spiel- oder Aufführungsverständnis anti-antisemitischen Implikationen - habe Shakespeare sozusagen für den heterosexuellen Pöbel geschrieben. Der Held heißt hier: Shylock, Jude.

Der ganz andere "Kaufmann von Venedig" hat den wahren Titelhelden - schon weil er im Titel steht. Antonio, Kaufmann, Christ und - Sodomit. Nagel verwendet sehr sorgfältig und kurios historisch korrekt den alten Begriff, mit dem bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert die gesellschaftlich geächtete Liebe zwischen Männern bezeichnet wurde. Antonio tritt hier als verzweifelt in seinen himmlisch geliebten Bassanio Vernarrter auf, der alles, sein Geld, sein Leben, sein Fleisch, hinzugeben bereit ist für seinen jungen Freund. Dieses problem play als wahres secret play habe Shakespeare für die Kenner, die Eingeweihten, die homoerotische Elite im England um 1600 geschrieben. Sie reichte bis zum homosexuellen König Jakob I., für dessen jungen Geliebten Southampton Shakespeares "Sonette" und "Venus und Adonis" als Liebes- und Lebens- und Begehrensanleitung herzuhalten gehabt hätten.

Genauso, wie Ivan Nagel in seiner vorletzten größeren historischen Essay-Arbeit "Gemälde und Drama. Giotto, Masaccio, Leonardo" die wegweisenden Bau- und Mal-Meister der Renaissance als "Renaissance des in Freiheit handelnden Männerkörpers", als Inbegriff der "Liebe des Menschen zum Menschen" feierte - genauso feiert er hier im Feuer und Furor einer großen Verteidigungsschrift die Würde und den Wert einer tragischen Männerliebe. Als dramatische Kulturleistung. Als Gipfeldichtung.

Abgesehen davon, dass bei Nagel nicht nur Antonio in den bisexuellen Hallodri, Mitgiftjäger und g'wissenswurmlosen Männer- und Mädchenabsahner Bassanio unsterblich verliebt scheint, sondern Nagel selbst sich offenbar auch in diesen "fluchbeladenen Liebhaber", in diesen Parasiten und Tagedieb, diesen unmoralischen, verschwenderischen "Gigolo der Luxusklasse", der Männer wie Weiber einfach bezaubert, schreiberisch verguckt hat; abgesehen auch davon, dass man die Promotion des "Kaufmanns von Venedig" zu einem Projekt erstklassiger homoerotischer Underground-Dramatik weder glauben noch die scharfe Konstruktion eines zweiten Stückes in dem einen als Gewissheit nachvollziehen muss (es genügt, wenn man mit der Idee ein wenig mitspielt) - ist Nagels Buch jenseits allen Sexualdiskurses: ein großes analytisches Vergnügen. Seine Methode ist dabei wichtiger und erregender als sein Ergebnis. Ihm beim Denken und Nachhaken zuzuschauen macht mehr Spaß, als seinen Thesen zuzustimmen.

Dass Bassanio drei lange Monate auf Belmont zum Minnedienst bei seiner Portia weilt, während sein Liebhaber Antonio bankrottgeht und ihm der Tod droht; dass Portia am Ende es in der Hand hat, ihren Mann Bassanio für sich zu behalten, als sie Antonio dem Messer Shylocks ausliefern könnte, bevor ihr in ihrer Richter-Verkleidung der Trick mit dem Blutströpfchen einfällt; dass Bassanio die Nacht, die seine Hochzeitsnacht mit Portia hätte sein sollen, im Bett von Antonio verbringt - das alles arbeitet Nagel mit der Nüchternheit eines sorgfältig alle Zeitangaben und Wortnuancen Shakespeares miteinander kriminalistisch vergleichenden, verborgene Spuren erschnüffelnden Philologen klug heraus. Federnd unterm Spannungsbogen Schritt und Tritt wägend.

Außerdem erfährt man über die Gesellschaft (die Cliquen), die Klatschbasengesellschaft in Venedig, die Nagel ganz modern als "Rating-Agenturen" bezeichnet (Was gibt es Neues auf dem Rialto? Sind Antonios Schiffe noch sicher? Ist sein Kredit perdu?), so Nützliches wie über die Theaterbauten und den neuen Schauspielertyp, mit denen Shakespeare im Herbst 1598 sein neues "Theater der Dichtung" das alte "Theater der Aktion" ablösen lässt. Und dies in einem Ton, den der Gesellschaftskritiker Nagel als Verlebendigungsmoment immer so rührend virtuos pflegte: Das Alte und längst Vergangene wird ihm zur "stachelnden" (eines seiner Lieblingsworte) Gegenwart. Und die ganze Welt ist Bühne. Und Ivan Nagel ist ihr kritischer Inspizient.

GERHARD STADELMAIER

Ivan Nagel: "Shakespeares Doppelspiel". "Der Kaufmann von Venedig" neu gelesen.

Insel Verlag, Berlin 2012. 333 S., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein seltsames Buch, findet Gerhard Stadelmaier. Aber auch ein fantastisches Buch, meint er. Dass Ivan Nagel es nicht abschließen konnte, scheint dabei kaum ins Gewicht zu fallen. Bedenkenswerte Thesen und Gedanken des passonierten Theatermannes Nagel findet Stadelmaier darin mehr als genug. Wenn der Autor sich also Shakespeares "Kaufmann" widmet, lesend, philologisch forschend, wuchtig, musikalisch, verführerisch wie gewohnt, und mit kriminalistischem Spürsinn, wie Stadelmaier feststellt, fällt dabei etwas ab für den Rezensenten. Am Ende hat ihn der Autor beinahe eingewickelt in seine Vorstellung von den zwei Stücken in einem Drama und von der Idee eines homoerotischen Underground-Dramas. Analytisch ein Vergnügen, gibt Stadelmaier zu. Dem Ergebnis braucht er dabei nicht mal zuzustimmen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Elegant und wuchtig und mit jener Emphase und intellektuellen Schärfe und hochgemuten Unnachgiebigkeit geschrieben, für die Ivan Nagel berühmt war.« Gerhard Stadelmaier Frankfurter Allgemeine Zeitung 20130220