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In seinem großen historischen Epos inszeniert Mo Yan eine farbenprächtige Pekingoper aus der deutschen Kolonialgeschichte seines Heimatlands. Vor der Kulisse einer untergehenden Epoche treten fünf Figuren auf die Bühne der Geschichte und kämpfen für das, was sie bewahren wollen, und für die, die sie lieben.
Viel Neues geschieht im China des Jahres 1899: Von überall her drängen fremde Menschen in das zuvor verschlossene Reich. Sie bringen etwa die Eisenbahn, die bei der Provinzstadt Gaomi über die Gräber der Ahnen verlaufen soll. Vieles geht aber auch zu Ende in diesen letzten Tagen des
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Produktbeschreibung
In seinem großen historischen Epos inszeniert Mo Yan eine farbenprächtige Pekingoper aus der deutschen Kolonialgeschichte seines Heimatlands. Vor der Kulisse einer untergehenden Epoche treten fünf Figuren auf die Bühne der Geschichte und kämpfen für das, was sie bewahren wollen, und für die, die sie lieben.

Viel Neues geschieht im China des Jahres 1899: Von überall her drängen fremde Menschen in das zuvor verschlossene Reich. Sie bringen etwa die Eisenbahn, die bei der Provinzstadt Gaomi über die Gräber der Ahnen verlaufen soll. Vieles geht aber auch zu Ende in diesen letzten Tagen des Jahrhunderts: Das Kaiserreich liegt in Agonie, ebenso wie Sun Bing, der Opernsänger und Anführer des Aufstands gegen die Trasse und deren Erbauer. Um seinen Ungehorsam zu ahnden, bündelt die Staatsmacht all ihre Kräfte und verordnet ein letztes Mal die Sandelholzstrafe, die grausamste und zugleich kunstvollste der überkommenen Foltermethoden. Leib und Leben nicht allein des Opfers, sondern auch seiner Tochter, ihres Ehemanns, ja selbst des Henkers und des Richters stehen mit diesem Urteilsspruch auf dem Richtplatz der Geschichte.In einem der bedeutendsten chinesischen Romane der jüngsten Zeit spielt Mo Yan virtuos das Spiel der Masken, Perspektiven und Kontraste. Gewalt und Poesie, Empathie und schwarzer Humor, Derbheit und Feinsinn, die Fülle des westlichen Romans und die Eleganz der chinesischen Oper gehen in seiner bilderreichen und suggestiven Sprache Hand in Hand.
Autorenporträt
Yan, MoMo Yan, 1955 in Gaomi geboren, schrieb seit den achtziger Jahren zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher für international bekannte Filme wie Das rote Kornfeld, Judou und Happy Times. Sein Werk wurde mittlerweile in knapp 20 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen aus Ost und West geehrt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2009

Wie sich die Leute niedermachen
Der chinesische Autor Mo Yan seziert in seinen Romanen das bestialische Jahrhundert aus Krieg, Gewalt und Elend
Die Provinzstadt Gaomi, im Jahre 1899. Die deutschen Kolonialherren bauen die erste Eisenbahn durch die chinesische Provinz. Zhao Jia ist Foltermeister, der letzte von Kaisers Gnaden. Er wurde extra aus Beijing herbeigerufen, um einen Aufrührer möglichst kunstvoll, das heißt langwierig, zu Tode zu foltern. Während er sich darauf vorbereitet, sein Opfer mittels Sandelholzstrafe fünf Tage lang minutiös zu quälen, erinnert er sich an einen anderen Höhepunkt seines Schaffens, die Hinrichtung eines Mannes durch die Strafe der 500 Schnitte: „Als Zhao Jia den fünfzigsten Schnitt machte, war Qian Xiongfeis Brustmuskelfleisch vollständig aufgebraucht. Zehn Prozent seines Werkes waren bereits vollendet. Der Lehrling reichte ihm ein neues Messer, und er räusperte sich zweimal kräftig, um seine Atemwege frei zu machen. Er sah Qians Rippen aus seinem Brustkorb hervortreten, um die Rippen legte sich eine dünne Membran, unter der das Herz pochte. Es sah aus wie ein in Stoff gewickeltes Kaninchen.”
Paul Valéry definierte Literatur einmal als „Kunst der Sprache” und fügte hinzu, man könne die Sprache auf zweierlei Weise beherrschen: „entweder wie der Athlet seine Muskeln oder wie der Anatom die Muskeln. Zweierlei (Er)Kenntnis. Man muss Anatom und Athlet vereinigen”.
Der chinesische Romancier Mo Yan ist zunächst einmal Athlet. Er lässt die Muskelberge spielen und ist sichtbar stolz auf seine scheinbar unerschöpfliche erzählerische Potenz. Für ihn geht der Spaß erst ab 600 Seiten los, immer wieder sagte Mo, die eigentliche Kraft des Erzählens liege im langen, epischen Roman. In einem Interview zu „Die Sandelholzstrafe” sagte er, ein Roman müsse fließen, „breit wie der Yangtse”. Und im Nachwort von „Der Überfluss”, Mos jüngstem Roman, schreibt er, er habe das Buch, 800 Seiten auf deutsch, 430000 Zeichen auf chinesisch, in exerzitien- und zugleich rauschhaften 43 Tagen geschrieben. Handschriftlich. Mo Yan schlief drei Stunden pro Nacht. „Es tut mir leid, weil ich so überhastet geschrieben habe. Es tut mir auch leid, dass ich immer zu viel schreibe. Aber es ist, als wollte man ein Kind davon abhalten zu wachsen.” Das klingt nun wirklich nach Schreiben im Zustand natürlicher Unschuld.
John Updike erklärte sich Mos thematische Überfülle, das Bastardhafte aus magischem Realismus und Historienschinken, Martial-Arts, Naturbeschreibungen, Bauernromantik, Geilheit, Folterszenen und üppig barocker Metaphorik damit, dass die chinesische Literatur keine viktorianische Blüte erlebt habe, „die sie hätte Etikette lehren können”. „Welche Etikette”, fragte Mo Yan auf diese doch recht hochmütige Erklärung knurrend, „das letzte Jahrhundert bestand für China aus Krieg, Gewalt und Elend”.
Mo wurde 1955 in einem armen Bauerndorf geboren, ging nur wenige Jahre auf die Schule und „erlebte pausenlos, wie sich die Leute gegenseitig niedermachten, mal mit Worten, mal mit körperlicher Gewalt”. Er heißt eigentlich Guan Moye, Mo Yan, sein Künstlername, bedeutet „Sprich nicht!”, ein Befehl, den ihm seine Mutter während der Kulturrevolution zischend einschärfte. Mos Familie war selbst so arm, dass er zeitweise von Baumrinde und Regenwasser lebte. Vielleicht auch deshalb kommt das Essen so frenetisch oft vor bei ihm, ähnlich wie im Werk Charlie Chaplins, der den Hunger seiner Kindheit immer neu in seinen Filmen verarbeitete.
Es gibt mehrere Geschichten von Mo, in denen detailliert erzählt wird, wie man Menschenfleisch zubereitet; und Hundefleisch, für die, die es noch nicht probiert haben, schmeckt am besten, wenn man beim Kochen Ingwer, Blütenpfeffer, Sternanis und einen Schuss Wein hinzugibt. Man lernt das in der „Sandelholzstrafe”, ist Zhao Jia, der Foltermeister, doch Vater eines hochgeschätzten Hundemetzgers. Zhaos Schwiegertochter, das macht die Sache pikant, ist die Tochter des charismatischen Aufrührers Su Bing, des letzten großen Meister der Katzenoper, den Zhao Jia hinrichten soll: Su Bing hatte es gewagt, die deutschen Ingenieure, die die Eisenbahn bauen, anzugreifen.
Und so treffen hier vor dem historischen Hintergrund des Boxeraufstands ein letztes Mal zwei Große ihres Fachs aufeinander, der letzte Vertreter einer untergehenden Kunstform und der grausamste Handlanger der Kaiserin-Witwe Cixi. Lachender Dritter bei dieser Versuchsanordnung ist Mo Yan, kann er in seinem Roman doch sowohl seinen Hang für blutrünstige Szenerien und effektvolle Showdowns als auch seine Liebe zur volkstümlichen Burleske der sogenannten Katzenoper befriedigen. Wem das zuweilen zu drastisch oder zu dick aufgetragen wirkt, dem stößt er im Nachwort Bescheid, er habe diesen Roman nicht „für Liebhaber westlicher Literatur, insbesondere solche mit hochintellektuellem Anspruch” geschrieben.
„Der Überdruss” setzt fünfzig Jahre später ein, kurz nach der Machtergreifung durch die Kommunisten, und spielt auch wieder in Mos Heimatdorf Gaomi – was kein Zufall ist, Gaomi ist erklärtermaßen Mos Pendant zum kolumbianischen Macondo, dem Dorf, in dem all die Geschichten des von Mo hochverehrten Gabriel Garcia Marquez lokalisiert sind. Ximen Nao, ein wohlhabender Landbesitzer, wird nach der Machtergreifung der Kommunisten während der ersten Landreform von einem der Dorfbewohner erschossen und kommt in die Hölle.
Er empört sich Yama, dem Gott der Unterwelt, gegenüber derart über diese Ungerechtigkeit, dass dieser ihn zurückschickt auf die Erde, freilich nicht in Menschengestalt, sondern als Tier. So erlebt Ximen Nao jede Dekade als anderes Tier, er wird als Esel, Ochse, Schwein, Affe geboren und wird zum stummen Zeugen der jüngsten chinesischen Geschichte. „Überdruss” fängt an in der Unterwelt, mit Folterspäßen einiger Höllenschergen am unschuldig dort gelandeten Ximen Nao, „Die Sandelholzstrafe” endet mit der tagelangen Folterprozedur an Su Bing, beschrieben mit bestialisch kühler Präzision, und ist man mit beiden Romanen durch, hat man den Eindruck, eine Dantesche Durchquerung aller Höllenkreise hinter sich zu haben, so krass sind die Schicksalsschläge, so grausam fegt die Geschichte über die Menschen hinweg; „Überdruss” erzählt unter anderem von der wahnsinnigen Hungersnot, die Mao durch den „Großen Sprung nach vorne” über sein Land brachte und der 30 Millionen Menschen zum Opfer fielen, von der frenetischen Zerstörungskraft der Kulturrevolution und des nicht minder zerstörerischen Tsunami des Turbokapitalismus unserer Tage, der die Menschen wahrlich nicht besser zu machen scheint: „In den fünfziger Jahren”, so heißt es einmal recht summarisch, „waren die Leute unschuldig, in den Sechzigern waren sie fanatisch, in den Siebzigern hatten sie Angst vor ihren eigenen Schatten, in den Achtzigern wogen sie vorsichtig ihre Worte und Taten ab und in den Neunzigern waren sie einfach nur böse.”
Mo Yan wurde für dieses Buch in der chinesischen Presse scharf angegriffen, ein Kritiker schäumte, das Buch sei „ein liebedienerisches, schamloses Machwerk, das die Geschichte verfälscht, nur aus Lügen besteht und die japanischen Faschisten verherrlicht.” Die schäumende Wut dieser Rezension zeigt, wie absurd es ist, Mo Yan vorzuwerfen, er sei ja schon ein toller Romancier, aber bitte, warum flüchte er sich immer feige in die Geschichte, wo sei denn nun sein politischer, sein Tiananmen-Roman. Mo Yan nimmt in seinen Romanen die chinesische Geschichte auseinander wie kein anderer, ähnlich dem Foltermeister Zhao Jian setzt er Schnitt um Schnitt an, kraftvoll wie ein Athlet, kühl wie ein Anatom. Zurück bleibt das Skelett eines bestialischen Jahrhunderts. ALEX RÜHLE
MO YAN: Die Sandelholzstrafe. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2009. 655 Seiten, 29,80 Euro.
MO YAN: Der Überdruss. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Horlemann-Verlag, Bad Honnef 2009. 815 Seiten, 29,90 Euro.
Sein Künstlername bedeutet „Sprich nicht!”
Erste Fahrt der deutschen Eisenbahn nach Kiautschou am 13. Oktober 1900. Foto: Scherl
Der Autor als Athlet und Anatom: Mo Yan Foto: Andersen-Gaillarde/ laif
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2010

Streitgespräch in der Hölle

Sein Name heißt übersetzt "Spricht nicht", doch der chinesische Autor Mo Yan hat viel zu sagen: Zwei große Romane von ihm liegen nun auf Deutsch vor.

Er wird mit Kafka und Faulkner verglichen, manche sehen ihn gar als Nobelpreiskandidaten - der chinesische Autor Mo Yan genießt Ansehen im Literaturbetrieb. In Wirklichkeit heißt er Guan Moye, doch spätestens seit Zhang Yimous preisgekrönter Verfilmung seines Romans "Das Rote Kornfeld", die 1988 auf der Berlinale den Goldenen Bären erhielt, ist Mo Yan auch im Westen bekannt. Übersetzt bedeutet seine Name "keine Sprache" oder "spricht nicht". Doch der "Sprachlose" hat im Gegenteil viel zu sagen. Gerade wurden zwei seiner Romane ins Deutsche übersetzt: "Der Überdruss" und "Die Sandelholzstrafe".

"Der Überdruss" beginnt in der Hölle mit einem Streitgespräch zwischen dem Fürsten der Unterwelt Yama und dem verstorbenen Großgrundbesitzer Ximen Nao. Nao, was so viel wie "laut" bedeutet, macht seinem Namen alle Ehre und beschwert sich unablässig darüber, zu Unrecht als "Klassenfeind" von aufgebrachten Kleinbauern ermordet worden zu sein. Yama ist der Wehklagen überdrüssig und schickt Nao zurück zu den Lebenden, spielt dabei aber Nao einen Streich: Nicht als Mensch wird der Großgrundbesitzer wiedergeboren, sondern nacheinander als Esel, Ochse, Schwein, Schäferhund und Affe. Immer wieder wird der Verstorbene zurück in sein Heimatdorf Gaomi geschickt, um als Tier seinem ehemaligen Diener zu dienen.

Mo Yan präsentiert mit Hilfe der vielen Wiedergeburten die dramatischen Entwicklungen Chinas während der vergangenen fünfzig Jahre. Es sind die Jahre der chinesischen Massenkampagnen: Die fünfziger Jahre sind bestimmt von der großen Landreform. Großgrundbesitzer wie Ximen Nao werden enteignet und ihr Land in Kollektiven den Bauern zugänglich gemacht. Im Jahr 1958 initiiert Mao Tse-tung dann die Kampagne "Der Große Sprung nach vorn", um China in den Rang einer wirtschaftlichen Großmacht zu erheben. Die Folge ist eine Hungersnot, die schätzungsweise bis zu sechzig Millionen Chinesen das Leben kostet - auch den mittlerweile als Ochsen wiedergeborenen Ximen Nao.

In wechselnder Gestalt durchlebt Nao die Kulturrevolution der Jahre 1966 bis 1976 und die Reform-Ära unter Deng Xiaoping von 1978 bis hin zu den aktuellen Entwicklungen Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Mo Yan kennt das enge Zusammenleben der Landbevölkerung mit den Tieren aus eigener Erfahrung. Der 1955 geborene Autor wuchs in einer Bauernfamilie in der chinesischen Provinz Shandong auf und hat in seiner Jugend selbst Esel, Ochsen und Schweine gehütet. Seine bevorzugte literarische Form ist der magische Realismus, der oft im Zusammenhang mit der modernen lateinamerikanischen Literatur genannt wird. Yans Schilderungen durchbrechen die realistische Darstellung: Da haben Menschen Sex in einer Baumkrone, der als Schwein wiedergeborene Großgrundbesitzer turnt mühelos durch die Dorflandschaft, und die Hunde feiern einmal im Monat eine wilde Party auf dem Marktplatz der Stadt.

"Der Überdruss" ist ein Mammutwerk gleich in mehrfacher Hinsicht: Schon der pure Umfang des Werks wirkt erdrückend. Auf 812 Seiten beleuchtet die deutsche Übersetzung das halbe Jahrhundert chinesischer Geschichte; die Handlung wird zum Parforceritt durch stürmische Zeiten. Vor allem gegen Ende scheint es, als habe der Autor den Umfang selbst unterschätzt. Die Schilderungen werden kürzer, die jüngeren Entwicklungen oberflächlicher behandelt, und die Erzählstruktur wirkt gedrängt. In seinem Nachwort schreibt Mo Yan, er habe den Roman innerhalb von nur 43 Tagen geschrieben; das bedeutet, dass er innerhalb dieser Zeit insgesamt 490 000 chinesische Schriftzeichen mit dem Pinsel gemalt hat. Auch thematisch macht es der Autor seinen Lesern nicht einfach. Er benennt die Missstände, die Chinas rasante Entwicklung hervorgebracht hat. Allein deshalb sind Mo Yans Romane für chinesische Verhältnisse politisch unkorrekt. Dennoch wirkt die Kritik subtil. Sie beschränkt sich auf individuelle Schicksale. Sie ins große Ganze einzuordnen bleibt dem Leser überlassen. Wer daher auf direkte, offen vorgetragene Kritik an der Staatsführung hofft, wartet vergeblich. "Der Überdruss" hätte sonst auch keine Chance gehabt, in China veröffentlicht zu werden.

Mo Yans zweiter jetzt auf Deutsch erschienener Roman "Die Sandelholzstrafe" ist nur geringfügig kürzer, dafür beschränkt er sich auf einen einzigen Themenkomplex: Es geht um das Eindringen westlicher Kolonialmächte in China. Die Handlung spielt im Jahr 1899. Das chinesische Kaiserreich der Qing-Dynastie ist zerfressen von Korruption und Machtmissbrauch. Es liegt in den letzten Zügen, das Ende naht. Dieses Machtvakuum machen sich die Deutschen zunutze, um ihr Interesse in China, den Bau einer Eisenbahnlinie, rücksichtslos zu verfolgen.

Hauptperson ist der Opernsänger Sun Bing, ein eigentlich unauffälliger Mann, der sich kaum für die Politik und die Machenschaften der Herrscher interessiert. Dann vergewaltigen deutsche Soldaten seine Frau; Sun fordert Gerechtigkeit. Da aber der Provinzpräfekt und auch der chinesische Herrscherhof in Peking auf Seiten der Deutschen stehen, schwört er Rache. Er vereint die Bauern der Provinz Shandong hinter sich und führt einen Aufstand gegen die Invasoren an. Sun und seine nur mit Holzstöcken und Sensen bewaffneten Mitstreiter sind den Deutschen hoffnungslos unterlegen. Er selbst wird gefangen genommen, an ihm soll ein abschreckendes Exempel statuiert werden. Er wird mit der Sandelholzstrafe grausam gefoltert. Als wäre diese seit Jahren nicht mehr vollstreckte Methode nicht furchtbar genug, kulminiert die Erzählung in einer familiären Tragödie: Sun Bings Tochter ist die Geliebte des befehlshabenden Präfekten, der Folterer ist ihr Schwiegervater, ihr Ehemann dessen Assistent.

Mo Yan widmet sich in der "Sandelholzstrafe" einem entscheidenden historischen Moment in der chinesischen Geschichte. Die offensichtliche Hilflosigkeit der Chinesen gegenüber den westlichen Eindringlingen ist für viele Chinesen bis heute ein traumatisches Erlebnis. Die Deutschen besetzten das Gebiet um die Stadt Qingdao und deklarierten es als "Pachtgebiet" des deutschen Kaiserreichs. Die dort lebenden Deutschen waren der chinesischen Gerichtsbarkeit übergeordnet.

Mo Yan beschäftigt sich jedoch nicht mit der großen Politik, er malt keine Szenerie des bevorstehenden Untergangs der Qing-Dynastie. Er widmet sich vielmehr dem kulturellen Untergang: Das Kaisertum, der Konfuzianismus, die Katzenoper - sie alle sind dem Untergang geweiht. So erscheint Sun Bings Aufstand gegen die Deutschen wie ein letztes Aufbäumen einer zu Ende gehenden Ära. Ein Land, das sich über Jahrhunderte systematisch dem Ausland verschlossen hat, wird nun gewaltsam "geöffnet" und muss hilflos mit ansehen, wie die technische Überlegenheit der Eindringlinge die Traditionen hinwegspült.

Diesen Dualismus zwischen eindringender Moderne und aussterbender Tradition setzt Mo Yan auch sprachlich um, indem er auf traditionelle Ausdrucksformen zurückgreift und so versucht, den westlichen Einfluss gering zu halten. Hier dient die Katzenoper als Schablone: Bitterer Humor und sehnsüchtige Wehklage bilden die Leitplanken der sprachlichen Ebene. Die Katzenoper ist die Ausdrucksform der Bauern, um ihre Sorgen und Nöte lyrisch und vor allem verklausuliert zu artikulieren.

Die Struktur des Romans ist ebenfalls in der Kunstform der Katzenoper gehalten: Von den drei Teilen sind der erste und der dritte aus der Ich-Perspektive geschrieben. Es geht um die persönlichen Gefühle und Verstrickungen der Protagonisten. Vor allem das individuelle, charakteristische Sprachvermögen der einzelnen Charaktere ist ein Genuss.

Mo Yan ist mit der "Sandelholzstrafe" ein dreifach dramatisches Werk gelungen: weil es bei Folter um die Verletzung der menschlichen Würde geht, die Verletzung von Mitgliedern der eigenen Familie ausgeführt werden soll und weil Mo Yan sich dem Abschnitt der chinesischen Geschichte widmet, der für die Chinesen bis heute für die Hilflosigkeit ihrer Heimat gegenüber den westlichen Invasoren steht.

MICHAEL MÜLLER

Mo Yan: "Der Überdruss". Roman. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2009. 812 S., geb., 29,90 [Euro].

Mo Yan: "Die Sandelholzstrafe". Roman. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009. 651 S., geb., 29,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mindestens genauso sehr wie den Konventionen eines westlichen Romans folgt Mo Yans "Die Sandelholzstrafe" denen einer chinesischen Oper, beobachtet der in seinem Urteil gespaltene Rezensent Andreas Breitenstein. Mo Yans um 1900 in der Endzeit der chinesischen Monarchie angesiedelte Geschichte handelt, wie Breitenstein informiert, von einem Provinzaufstand, dessen Anführer brutal hingerichtet wird. Dabei gelingt es dem Autor, seine Figuren überaus lebendig werden zu lassen, wobei sie gleichzeitig Prinzipien wie Zynismus oder Gerechtigkeitssinn verkörpern, beobachtet der Rezensent. Indem Mo Yan die Handlung teils von den handelnden Personen und teils von einem über den Dingen stehenden Erzähler berichten lässt, verleiht er dem Geschehen eine gewisse Leichtigkeit - sonst wäre sie wohl in ihrer "düsteren Schwere" unerträglich, mutmaßt der Rezensent. Schwer tut sich Breitenstein allerdings mit Mo Yans ausgeprägtem Hang zur Gewaltdarstellung, mit der er durchaus voyeuristische Gelüste seiner Leser bediene.

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