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Eine literarische Tour de force von einem der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Englands. 1918: Audrey Death, Feministin, Sozialistin und Arbeiterin in einer Londoner Munitionsfabrik, fällt der Europäischen Schlafkrankheit zum Opfer, eine Epidemie, die sich in ganz Europa ausbreitete, ein Drittel seiner Opfer tötete und ein zweites Drittel in die Irrenhäuser jener Zeit verbannte. 1971: Zachary Busner, Psychiater, entdeckt bei seinem Antrittsbesuch im Friern Mental Hospital eine ältere Frau, die dort seit 49 Jahren vor sich hin dämmert, kann ihre Krankheit richtig behandeln und holt sie ins…mehr

Produktbeschreibung
Eine literarische Tour de force von einem der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Englands.
1918: Audrey Death, Feministin, Sozialistin und Arbeiterin in einer Londoner Munitionsfabrik, fällt der Europäischen Schlafkrankheit zum Opfer, eine Epidemie, die sich in ganz Europa ausbreitete, ein Drittel seiner Opfer tötete und ein zweites Drittel in die Irrenhäuser jener Zeit verbannte.
1971: Zachary Busner, Psychiater, entdeckt bei seinem Antrittsbesuch im Friern Mental Hospital eine ältere Frau, die dort seit 49 Jahren vor sich hin dämmert, kann ihre Krankheit richtig behandeln und holt sie ins Leben zurück - mit ungeahnten Folgen.
Audreys Erinnerungen an eine untergegangene Welt, ihre Familie, die sie vergaß, ihre Liebhaber und ihr Engagement für die Sozialisten, verwebt Will Self mit Busners Versuchen, Licht in ihre verschattete Welt zu bringen, und mit den Erinnerungen, die der Jahrzehnte später pensionierte Psychiater an jene Zeit und seine Patientin hat, die er in ein Leben zurückgeholt hat, das nicht mehr ihres werden konnte.
Autorenporträt
Self, WillWill Self ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Englands. Auf Deutsch erschienen von ihm zuletzt die Romane Dorian: Eine Nachahmung (2008), Die Kippe (2011) sowie bei Hoffmann und Campe Regenschirm (2014), der für den Man Booker Prize nominiert war, und Shark (2016). Will Self lebt in London.

Hens, GregorGregor Hens wurde 1965 in Köln geboren und lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Zuletzt erschien von ihm Nikotin (2010). Er übersetzte Werke von Marlon Brando, Leonard Cohen, Rawi Hage und Kurt Vonnegut.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Das barock Ausschweifende in den Texten von Will Self hat Angela Schader zu fürchten gelernt. Nun aber, in diesem bereits 2012 erschienenen neuen Roman des Autors kann Schader aufatmen. Self, versichert sie, ist hier in der Lage, den Leser zu fordern, nicht nur zu provozieren, und seine sprachlichen Mittel stehen im Dienst von Themen und Personal. Was bedeutet, dass sich Schader abrupte Perspektiv- und Epochenwechsel, literarische Zitate, hakenschlagende Erinnerungen, Liedzeilen, Floskeln, Slogans sinnvoll erschließen. Etwa wenn sie in den prägnanten Kriegsszenen im Buch Bezüge zu "The Time Machine" erkennt, Referenzen zu Oliver Sacks und seiner Arbeit oder die drei Zeitebenen des Textes zu unterscheiden weiß. Überflüssiges enthält der Roman laut Schader kaum; für sie stellt er ein "faszinierendes" Stück Literatur dar.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2014

Patienten auf dem Fließband
Was für eine Explosion der Sprache! Will Selfs Roman "Regenschirm" taucht ein in die Geschichte der Psychiatrie

Es ist ein Anrennen gegen die Vergangenheit, gegen die Einsamkeit, gegen den Irrsinn, der hinter jeder Ecke lauert. Durch die weitläufigen Korridore der Nervenklinik Friern, die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, die Arbeiterviertel des industriellen Londons geht dieser Lauf, rastlos, verzweifelt, benommen und übermütig, vor allem aber unaufhaltsam. Beständig drohen Orientierungsverlust und Kollaps. Die Protagonisten balancieren auf der Klippe zum Wahn, und der Erzählung geht es nicht anders: Will Self hat sich in seinem Roman "Regenschirm" einiges vorgenommen. Er spannt ein englisches Panorama des zwanzigsten Jahrhunderts auf, bricht mit jedem konventionellen Erzählstil und holt nebenbei zu einem Rundumschlag gegen die Psychiatrie aus.

Für seine Geschichte schickt der englische Autor sein bekanntes Alter Ego Dr. Busner in die Nervenklinik. Dort begegnet dem eigenbrötlerischen Psychiater im Jahr 1971 die Patientin Audrey Death. Die alte Dame zeigt eigenartige Symptome: Rapide Zuckungen durchfahren ihren Körper. Busner diagnostiziert: Death leidet an den Spätfolgen der europäischen Schlafkrankheit Encephalitis lethargica. Mit einem Medikament gelingt es ihm, Death und weitere Patienten, die ein halbes Jahrhundert im inneren Exil verbracht haben, für einige Wochen in die Welt zurückzuholen.

Dabei folgt Self einer Vorlage: "Bewusstseinsdämmerungen" heißt der Bericht des Neurologen Oliver Sacks, der in den sechziger Jahren tatsächlich einige Patienten mit dem entsprechenden Medikament aus ihrem Dämmerzustand befreite. Als "Zeit des Erwachens" wurden Sacks' Aufzeichnungen 1990 mit Robert De Niro und Robin Williams verfilmt.

Self bietet aber mehr als eine weitere Adaption von Sacks' Bericht. Er eröffnet zwei zusätzliche Perspektiven. Zum einen ist da mit Audrey Death eine Sozialistin und Suffragette, die als eigentliche Heldin des Romans inszeniert wird. Der Erste Weltkrieg zerriss ihre Familie, Audrey schuftete als Freiwillige in der Munitionsfabrik. Die repetitiven mechanischen Handgriffe verursachten einen Tick, der sich zum Nervenleiden ausweitet. Und dann gibt es da noch den alten Dr. Busner, der im heutigen London lebt und über seine Zeit als Psychiater sinniert.

Diese drei Erzählstränge, von denen sich weitere abspalten, laufen wild durcheinander. Er habe gelernt, dass es "unsinnig ist, die Zeiten mit Hilfe von Tempora zu unterteilen", bemerkt Busner einmal. Auch Self unterteilt nichts. Oft wechselt die Perspektive mitten im Satz. Der Autor macht es seinem Leser nicht leicht: Die Punktierung ist spärlich, Absätze ziehen sich über bis zu dreißig Seiten, Kapitel gibt es nicht. Kurzum: "die Wörter verbeißen sich ineinander mit gieriger Hast, Einstereokassettendeckeingrill! Ihrunseinbademantelundeinkuscheltier -! Aus." Fast fünfhundert Seiten, ohne klare Chronologie, häufig ins Assoziative oder Umgangssprachliche abgleitend, durchzogen von kursiv gedruckten Einschüben, bei denen oft weder ersichtlich ist, ob es sich um Ohrwürmer, Gedankenschnipsel oder direkte Rede handelt, noch, wem sie zuzuordnen sind. Eine sprachliche Explosion.

Kafkas "Verwandlung" habe ihn als Jugendlichen von der ungeheuren Macht der fiktionalen Erzählung überzeugt, hat Self einmal erzählt. Die herkömmliche englische Prosa dagegen sei ihm schon als Student so beengend vorgekommen wie die konventionelle britische Gesellschaft. Tatsächlich scheint Self auch mit Anfang fünfzig noch nicht viel für Konventionen übrigzuhaben.

"Ein Bruder wird so leicht vergessen wie ein Regenschirm." Dass Self seinem Roman dieses Zitat von James Joyce voranstellt, unterstreicht seinen Anspruch, an die radikalen Ursprünge des modernen Romans anzuknüpfen. Zugleich wird der Regenschirm zur Metapher für den Menschen. Die Schirme "finden auf geheimnisvolle Weise in unser Leben, erweisen sich kurzfristig als nützlich, stören bald, weil sie sperrig sind, und gehen verloren. Nicht einmal ihr Verlust bleibt in Erinnerung, weshalb am Ende nur die schirmförmige Lücke auffällt, an der er einst gestanden hat." Audrey arbeitete zunächst in einer Schirmmanufaktur. Dann kam der Krieg. Fortan schreiten einsame Menschen durch die Erzählung.

Selfs unbändiger amorpher Erzählstil überzeugt. Zwar dauert es eine Weile, bis der Leser sich an die Sprunghaftigkeit gewöhnt und die Rahmenhandlung identifiziert hat, doch dann erzeugt das beständige Überblenden der Erzählebenen beständige Spannung. Die Sprache Selfs ist angedickt mit umgangssprachlichem Slang und sorgt für ein opulentes sprachliches Gewitter. Manchmal wünscht man sich dennoch, Self hätte sich Kafkas klaren Stil zum Vorbild genommen. Etwa, wenn da steht: "Sie tritt in die respektable Umarmung ihres Hemdblusenkleids." Dem Übersetzer Gregor Hens kann man keinen Vorwurf machen. Er hat den anspruchsvollen Text großartig übersetzt und den Tonfall Selfs sicher getroffen.

Den meisten seiner komplexen Figuren begegnet Self dagegen mit angenehmer Zurückhaltung. Die Grenze zwischen psychisch Kranken und psychisch Gesunden stellt er grundsätzlich in Frage. "Wenn Busner morgens schlecht gelaunt war, diagnostizierte er Depression, wenn er außerdem noch zu viel Kaffee getrunken hatte, manische Depression." Irgendwann beginnt der Psychiater, auch Gesunden pathologische Störungen zu bescheinigen.

Auf den letzten Seiten kehrt Busner, mittlerweile ein alter Mann, zur Nervenklinik zurück. Immobilienhaie haben das Areal gekapert und in einen Komplex von Luxuswohnungen verwandelt. Es hat eine gewisse Ironie, dass die Maklerin in Busner einen ehemaligen Patienten sieht. Doch sind die neuen Bewohner weniger verrückt? Früher erschien Busner der Korridor der Klinik wie ein Fließband, auf dem ihm die Patienten zur Diagnose entgegenströmten. Nun erblickt er das Laufband eines Fitnessstudios. Die Beine schwingen "hin und her, hin und her . . ., ohne irgendwohin zu wollen. Festination."

FRIEDEMANN BIEBER.

Will Self: "Regenschirm". Roman. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 496 S., geb., 24,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2014

Die Herzenskälte im Hahnentrittmuster
Kürzlich hat der englische Autor Will Self der Kunstform des Romans den Totenschein ausgestellt – sein neuer Roman
„Regenschirm“ ist aber quicklebendig und entwirft mit halluzinatorischer Kraft ein Jahrhundertpanorama Londons
VON ULRICH BARON
Auf dem Weg zur Arbeit hat Will Selfs Protagonist Zachary Busner die Kinks mit ihrem im Winter 1970/71 gerade aktuellen Hit „Ape Man“ in den Ohren und den Scheitelpunkt seiner Karriere als Psychiater vor sich. Jahrzehnte später wird er an diesen Schauplatz zurückkehren, der gerade in ein Luxusquartier umgewandelt wird. Wird sich an Audrey Death erinnern, sein „Dornröschen“, das er aus langem Schlaf geweckt und dann dem Vergessen überlassen hatte.
  Als er sie das erste Mal wahrnimmt, ist Audrey eine uralte Frau – „tief gebeugt, extrem kyphotisch“, seit einem halben Jahrhundert in sich verkapselt. Sie ist ein Opfer der Encephalitis lethargica, jener Europäischen Schlafkrankheit, deren epidemisches Auftreten gegen Ende des Ersten Weltkriegs bis heute rätselhaft ist: „Ihr Gehirn … befindet sich außerhalb der Zeit“.
  In den Ausdruck „kyphotisch“ hat Will Self sich verliebt; er bezieht sich auf eine Verkrümmung der Wirbelsäule, die an den Griff des titelgebenden Regenschirms erinnert. Am Schluss wird sich für Zachary beides überlagern: Der Anblick eines Regenschirms und die Erinnerung an die „in den seidigen Faltenwurf ihrer alten fleckigen Haut“ gehüllte Audrey, in der die Welt von Gestern fortlebte, bis ein Prinz im weißen Kittel sie geweckt und enttäuscht hat.
  Als es Zachary gelingt, seine Patientin aus ihrem Stupor zu wecken, löst er eine „Zeitbombe“ aus, die das Kontinuum des Jahrhunderts aufsprengt, reißt er ein Hirn in die Gegenwart von 1971, das um 1916 herum einzuschlafen begonnen hatte. Ohne Absätze mischt sich sein Bewusstseinsstrom mit der Geschichte Audreys und ihrer Brüder: Dem älteren, hochbegabten, aber fühllosen Albert, der seine Karriere damit beginnt, die Produktion jener Granaten zu organisieren, die Audrey in einer Munitionsfabrik zusammenbaut, während ihr jüngerer Bruder Stanley im Krieg verschwindet.
  So entsteht ein perspektivisch gebrochenes Jahrhundertpanorama Londons: Jugend um Neunzehnhundert, Arm und Reich, Frauenbewegung, Sozialismus, reaktionäre Karrieren, Urbanisierung und Hospitalisierung. In den Klang der Zeit mischen sich Gossensprache und feines Parlando, Militär- und Fachjargon. Grenzen zwischen Schlachtfeldern und Golfplätzen verwischen sich.
  Maschinenwehrkugeln sirren, „wenn sie weiches Material durchriffeln – Fleisch Kleidung, Hirn“. Im Schattenland des Krieges stehen die „idiotischen Schilder“ mit Londoner Straßennamen, die Soldaten aus Bretterresten hergestellt haben: „Sie hatten, dachte Stanley, offenbar versucht, aus den Leichenhaufen, den Gräbern und Kratern eine Landschaft herzustellen, die sie an ihre Heimat erinnerte“.
  Dass diese Morituri aus den Gräbern ihrer Vorgänger etwas herzustellen versuchen, was sie an eine Heimat erinnern soll, die ihre Todgeweihten bald vergessen wird, hat Beckettsche Qualität. Will Self, 1961 in London geboren, Absolvent des Exeter College in Oxford, zitiert im Motto gar James Joyce: „Ein Bruder wird so leicht vergessen wie ein Regenschirm.“ Wann, wird sich Zachary fragen, wurde etwas, das seit Robinsons Crusoes Zeiten Sinnbild zivilisatorischen Überbaus war, wann, „wurde der Regenschirm zu einem Objekt, das man üblicherweise vergisst, statt sich seiner gewissenhaft zu erinnern?“
  „Regenschirm“ ist ein Buch vom Erwachen und Vergessen. Die Encephalitis lethargica erscheint darin auch als Reaktion auf die Mechanisierung und Verzifferung, die das Rechengenie Albert betrieben und die Digitalisierung fortgesetzt hat. Nachdem Zachary die Tics seiner Patientin gefilmt hat, liefert ihm ein Praktikant eine Erklärung – „voll unheimlich, da sitzt die Alte und bedient eine unsichtbare Revolver-Drehbank“. In ihr „schreckliches, unveränderliches Jetzt“ verkapselt, sitzt Audrey noch immer in der Munitionsfabrik, wartet sie noch immer auf eine Nachricht von Stanley.
  Aber Stanley ist verschollen, und Albert Death hat sich in Sir Albert De’Ath verwandelt, während Audrey, die Albert für Stanleys Schicksal verantwortlich gemacht hat, in einen Schlaf gefallen ist, in dem sie noch immer ihres Bruders Hüterin zu sein scheint. Dafür sprechen Passagen, in denen Stanley auf troglodytenhafte Weise im Boden unter den Schlachtfeldern fortlebt.
Das Erwachen Audreys mit Hilfe von Medikamenten erscheint zunächst unproblematisch, doch Zachary hat nicht bedacht, dass damit auch ihre Hoffnung auf Stanleys Rückkehr geweckt wird.
  Als er seiner Patientin den Besuch ihres Bruders ankündigt, ist sie voller Vorfreude, doch dann steht der falsche vor ihr: Ein „Turm von abertausend winzig schwarzen Fenstern“, vom Gesicht Alberts gekrönt, „durch dessen vorstehende graue Augen ein Blick auf sie fällt . . . Todesstrahlen.“ Sir Albert, der seine Schwester Jahrzehnte lang ignoriert hat, steht in einem Anzug vor ihr, dessen Hahnentrittmuster an dunkle Fensterhöhlen erinnert, aus denen ihr Herzenskälte entgegenstrahlt und sie in die Vergangenheit zurückstößt. Im Original fällt sie auch sprachlich zurück – „death rays“ werden dort zu „deff rays“.
  Dass auch er selbst die „Verbrechen des Vergessens“ begangen hat, nicht nur an Audrey, die nach diesem Schock einen Rückfall hatte, wird den alten Zachary bis ans Ende des Romans verfolgen. Eben noch die Kinks im Ohr, eben noch die futuristische Quarzuhr vor Augen, die seine Frau ihm zum einunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, ist er eines Tages aufgewacht und hat feststellen müssen, „dass er ein alter Mann ist“.
  Nicht nur alt, sondern „diesmal wirklich tot“ sei der Roman, hat Will Self unlängst in einem vom Guardian nachgedruckten Vortrag verkündet. Sein jüngster eigener Roman jedoch erinnert daran, dass Self sich zwei Jahre zuvor fasziniert von Oliver Sacks Buch „Hallucinations“ gezeigt hatte, in dem es um Wahrnehmungen von etwas geht, das nicht da ist. Die Möglichkeit Bilder, Eindrücke, Gedanken, Fantasien, Empfindungen, Begriffe und alles, was wie für die Welt halten, in Wörter und diese in einen übergreifenden Romanzusammenhang zu fassen, der zugleich abgeschlossen und offen ist, bleibt unausschöpfbar, weil jeder Leseakt eine neue Variante der Geschichte, eine neue Halluzination schafft.
  Jede Übersetzung auch. Wenn Zacharys Bewusstseinsstrom vor lauter fachlichen Überlegungen gerinnt, watet er bei Self nicht durch einen „Brei“, sondern durch -eine „Brown Windsor“, eine Art Gulaschsuppe, die mit ihrem Assoziationsspektrum vom Königlichen bis zum Unappetitlichen kein deutsches Gegenstück hat. Angesichts von Selfs polyphoner Mischung aus Psychiater- und Gassenjargon, literarischen Zitaten, Londoner Ortsnamen und historischen Soziolekten, angesichts der fliegenden Wechsel von Zeiten und Perspektiven kann man die Herkulesarbeit, die der Übersetzer Gregor Hens bewältigt hat, nur bewundern.
  Und manchmal auch anderer Meinung sein. Etwa dass der Regenschirm, der am Ende an Zacharys „Sleeping Beauty“ erinnert, ihm kein „klagendes“ Ende zeigt, sondern ihm ein „accusatory“, also ein anklagendes Ende zuwendet. Vergessen wir den Tod des Romans – in Will Selfs
„Regenschirm“ ist er auf bedrängende, bedrückende, anklagende, unvergessliche Weise lebendig.
Will Self hat sich in das Wort
„kyphotisch“ verliebt – es benennt
die Krümmung der Wirbelsäule
Hier wird ein Hirn, das um 1916
einzuschlafen begann, in die
Gegenwart von 1971 gerissen
Eben hat Zachary noch die Kinks
im Ohr und seinen 31. Geburtstag
im Kopf – da ist er schon alt
„Wann wurde der Regenschirm zu einem Objekt, das man üblicherweise vergisst?“ Der englische Autor Will Self in seiner Wohnung in London.
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Will Self: Regenschirm. Roman. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 496 Seiten, 24,99 Euro, E-Book
19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Das Epos eines Jahrhunderts, Liebesgeschichte und eine Art Märchen: dieser Roman zieht den Leser mit seinem anarchischen Erzählstrom fest in seinen Bann.« The New York Times Book Review