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"Es mag seltsam klingen, aber ich bin die einzige, die erzählen kann, wie ich endete." Es ist die Zeit der Diktatur des Militärs in Griechenland. Marys Bericht beginnt mit ihrer Liebe zu Dimos, einem Anführer der Studentenbewegung. Im November 1973 wird Mary festgenommen, in den Verliesen des Sicherheitsdiensts ist sie Hunger, Kälte und Folter ausgesetzt. Nur sie weiß von ihrer Schwangerschaft, dem Kind von Dimos. Aber Mary erzählt auch von der Solidarität unter den gefangenen Frauen, wie es ihr gelang zu überleben, ohne Verrat zu begehen. Mit großer literarischer Kraft beschreibt Aris…mehr

Produktbeschreibung
"Es mag seltsam klingen, aber ich bin die einzige, die erzählen kann, wie ich endete." Es ist die Zeit der Diktatur des Militärs in Griechenland. Marys Bericht beginnt mit ihrer Liebe zu Dimos, einem Anführer der Studentenbewegung. Im November 1973 wird Mary festgenommen, in den Verliesen des Sicherheitsdiensts ist sie Hunger, Kälte und Folter ausgesetzt. Nur sie weiß von ihrer Schwangerschaft, dem Kind von Dimos. Aber Mary erzählt auch von der Solidarität unter den gefangenen Frauen, wie es ihr gelang zu überleben, ohne Verrat zu begehen. Mit großer literarischer Kraft beschreibt Aris Fioretos, der Autor aus Schweden, die existentielle Krise einer jungen Frau, die vor einem unlösbaren Konflikt steht.
Autorenporträt
Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016), Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017) und Nelly B.s Herz (Roman, 2020). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen - er übertrug u.a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische - wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette-Schocken-Preis der Stadt Bremerhaven. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton der größten schwed

ischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Seit 2010 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; seit 2022 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Im Frühjahr 2024 hält er die Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main. Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensentin Jutta Person freut sich über den neuen Roman des schwedischen Autors Aris Fioretos, der ihr nicht nur unpathetische Einblicke in die grausame griechische Militärdiktatur der Jahre 1973 und 1974 gewährt, sondern auch von der Leidensgeschichte der schwangeren, inhaftierten und gefolterten Mary erzählt. Allein, wie Fioretos die körperliche und seelische Verfasstheit seiner so verletzlichen wie sich nach außen unverletzbar gebenden Ich-Erzählerin schildert, ringt der Kritikerin größte Anerkennung ab. Überhaupt weiß der Autor in seinen grandiosen Beschreibungen mit verschiedenen Aggregatzuständen, Farben, Formen und Körpern umzugehen, lobt Person, die dieses ebenso philosophisch grundierte wie poetische Buch unbedingt empfehlen kann.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.08.2016

Überleben
„Mary“ – Aris Fioretos blickt ins
Innere der griechischen Militärdiktatur
VON ULRICH RÜDENAUER
Die Welt liegt da in Grau gehüllt, ins Zementgrau der Uniformen, ins ruppige Grau des Meeres, und der Blick geht durchs schlierige Grau der Fenster, „dicht und schimmernd wie Grafit“. Der Tag ist spatzengrau, der Himmel stahlgrau und das Rattenfell glänzendgrau; ein Gesicht erscheint grauviolett im Morgenlicht. Die Nachbarinsel wird zur „schmalen Verdichtung im bleistiftartigen Dunst. Starrt man länger als ein paar Sekunden hin, löst sie sich im Grau auf.“ Grau, grau, grau sind alle Kleider nach Wochen der Gefangenschaft und der Folter.
  Die Farbe, deren tausenderlei Schattierungen Aris Fioretos vor gut zwanzig Jahren einen langen Essay gewidmet hat, spielt hinüber ins Grauen, in einen Zustand des Dazwischen, eine Zone, in der sich die Sekunden dehnen und die Verbindung zur Zukunft gekappt werden soll, in einen Nicht-Ort, an dem Körper malträtiert werden, um die Seele zu zerstören. „Tretet ein in die Verdammnis“, sagt ein Soldat an der Pforte zu diesem Purgatorium, in das es die Icherzählerin und Titelfigur in Aris Fioretos‘ neuem, grandiosen Roman „Mary“ verschlägt.
  Maria studiert Anfang der 1970er-Jahre Architektur in einem Land, das von einer Militärjunta regiert wird. Sie stammt aus einer Familie, die der Nomenklatura nahesteht – die Mutter, so erfahren wir in Rückblenden, ist die Leiterin der schwarzen Archive, des „bösen Gedächtnisses der Junta“. Der Vater zählt sich zu den Royalisten. Maria selbst hat sich immer weiter von ihrer Familie entfernt, verleugnet ihre Herkunft. Ihr Freund Dimos, der sie Mary nennt, gehört zu den Rädelsführern eines studentischen Protestes. Als Universitätsgebäude besetzt werden, schreitet die Armee ein und schlägt den Protest gewaltsam nieder. Viele Studenten werden festgenommen, und auch Mary gerät in die Fänge der Junta. Kurz vor ihrer Verhaftung hat sie erfahren, dass sie schwanger ist – niemand, noch nicht einmal Dimos, weiß davon. Zusammen mit anderen Frauen wird sie in einem Militärgefängnis inhaftiert und später auf eine der berüchtigten Gefängnisinseln verschifft.
  Auf dieser „Ratteninsel“, die ihren Namen nicht von ungefähr trägt, müssen die Frauen Zwangsarbeit verrichten. Die politischen Häftlinge werden schikaniert und erniedrigt. Zwar geht es auch darum, den Gefangenen ihre Geheimnisse zu entreißen – aber eigentlich ist die Insel ein Umerziehungslager. Ein Ort der Verbannung, der aus Individuen gefügige Wesen machen soll. Mary muss wochenlang ihre Schwangerschaft verheimlichen. Wüssten die Schergen des Systems davon, hätten sie das wirkungsvollste Druckmittel gegen die schweigende, unnachgiebige Frau in der Hand.
  Fioretos nennt den Namen des Landes, in dem sich all das ereignet, mit Bedacht nicht. Was geschildert wird, gehorcht universellen Prinzipien der Gewalt. Und doch sind die Bezüge zum Griechenland der frühen Siebzigerjahre offenkundig: Studenten protestierten damals in den Wintermonaten der Jahre 1973 und 1974 gegen die Militärregierung. Der Aufstand konzentrierte sich am Polytechnikum. Zwar reagierten die Machthaber mit aller Härte, Hunderte Studenten und Arbeiter wurden drakonisch bestraft, dennoch sorgte der Aufruhr für die entscheidenden Risse im System, das im darauffolgenden Sommer nach der Zypernkrise kollabierte.
  Das Buch spielt in dieser heiklen, heute heroisch verklärten Übergangsphase – noch ist nicht entschieden, in welche Richtung sich die Geschichte bewegen wird, ob das repressive Regime stürzt oder die bleiernen Jahre sich weiter dehnen werden. Maria und die anderen Frauen im Gefängnis aber sind bei Fioretos nicht nur Spielbälle der Willkür, Opfer von Vergewaltigung und Schlägen. Sie erproben Formen des Widerstands, die sich in kleinsten Handlungen ausdrücken können. Etwa, wenn eine der Gefangenen Mary dazu anhält, die Fingernägel in die hereingeschmuggelte Seife zu bohren, um den Geruch immer wieder einatmen zu können, wenn sie die Hände vors Gesicht hält. Fioretos spürt solche winzigen Überlebenstaktiken ebenso auf wie Gesten der Verbundenheit, die den Frauen helfen, ihre Würde zu bewahren. Mit Klopfzeichen an den Zellenwänden kommunizieren sie miteinander, sie schneiden sich gegenseitig die Haare, erzählen sich Kochrezepte gegen den Hunger. Der zynische Ratschlag eines Offiziers, sich doch besser zu biegen wie die Zweige, weil man sie sonst brechen werde, wird von Mary selbst in den einsamsten, qualvollsten Momenten ausgeschlagen.
  Es ist eine Passionsgeschichte, die Fioretos erzählt. Maria nimmt das Leiden an, stemmt sich gegen das Gefühl der Schwäche und gegen die Entmenschlichung, selbst als sie von den anderen Frauen isoliert wird. „Ich will gerade den Kaffeesatz vom Boden auflecken, als ich mich von außen sehe. Das ist mir zwar auch früher schon passiert, aber nie zuvor so roh und überwältigend. Ich sehe mich selbst auf den Knien, die Hände auf den Zement gestützt, die Zunge ausgestreckt – wie ein Scharrer.“ Nicht Ratte werden, nicht Tier, nicht Ding – Mary will den „Körper die Disziplin des Begehrens lehren“, will gegen den Entzug aller Rechte aufbegehren, will schweigen, während sie kleine Zettel mit Worten füllt.   
  Sie panzert sich gegen die männliche Gewalt, formt ihren Körper zur undurchdringlichen Hülle, passt sich der grauen Umgebung an, um ihr Inneres zu schützen, das umso farbiger blüht. Die „Sonne hinter dem Schleimpfropf“ wächst und wächst, hat die Größe einer Pflaume, einer Mandarine, schließlich die Dimension eines Granatapfels. Das Bild des Granatapfels spielt eine bedeutsame Rolle, nicht nur als christliches Symbol der Fruchtbarkeit – auf Tafelbildern ist diese Frucht häufig der Madonna beigegeben. Für Fioretos hat die „Kreuzung aus Herz und Kranium“ noch eine andere Bedeutung: Ihr Äußeres ist hart und fest, während in den Kammern Fülle herrscht. Dutzende von Kernen nebeneinander, keiner wichtiger als der andere – „das Zentrum ist überall“. So, als ein Nebeneinander des Gleichen, stellt sich die Architekturstudentin Mary die ideale Bauform von Mehrfamilienhäusern vor.
  Zugleich darf man das Bild des Granatapfels auch als poetologischen Hinweis lesen. In seinen unter dem Titel „Verabredungen“ erschienenen Gesprächen mit Durs Grünbein gesteht Fioretos, sein heimlicher Traum sei ein Text, „in dem sich das Zentrum überall befindet“. Tatsächlich hat man das Gefühl, dass sein neuer Roman, dessen Eindringlichkeit und Dichte Paul Berf brillant ins Deutsche übertragen hat, dieses Ideal verwirklicht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leid und Hoffnung, das Ich und die anderen sind hier Teile eines untrennbaren Ganzen.
  Aris Fioretos bezeichnet „Mary“ als Teil eines griechischen Triptychons. In „Der letzte Grieche“ (2011) und „Die halbe Sonne“ (2013) hat der 56-jährige schwedische Autor über seinen Vater geschrieben, der Griechenland in den Fünfzigern aus politischen Gründen verlassen musste, und über seine Mutter, die aus Österreich stammt. „Mary“ geht über diese Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft hinaus. Fioretos schafft hier eine emblematische Figur, eine Märtyrerin, die den Namen der Mutter Gottes trägt und zugleich an antike Göttinnen erinnert. Sie wird zum Gegenbild männlicher Heldenerzählungen, zum Denkmal beharrlicher Unbeugsamkeit. Anders als in früheren Romanen verzichtet der Autor auf erzählerische Zaubertricks. Aber dieses Buch, das einer Figur bis in ihr Innerstes folgt, ist von einem erzählerischen Reichtum, wie er in der Gegenwartsliteratur nur selten begegnet.
Nicht Ratte werden, nicht Tier,
nicht Ding, das ist Marys Ziel
  
  
  
  
Aris Fioretos: Mary. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2016. 352 Seiten, 24 Euro. E–Book 17,99 Euro.
Athen, 1973: Auf dem Dach der von Polizeikräften abgeriegelten Juristischen Fakultät demonstrieren Studenten gegen die Militärjunta. Auf ihren Plakaten fordern sie „Freiheit“. „Mary“ spielt in dieser Endphase der Militärdiktatur.
Foto: UPI
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2017

Die Schale hölzern, im Innern strahlende Lebendigkeit
Aus den Tagen der griechischen Junta: Aris Fioretos erzählt in "Mary" von Unmenschlichkeit und Widerstand

Mit "Die halbe Sonne" aus dem Jahr 2013 hat der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos nicht nur seinem griechischen Vater ein ebenso melancholisches wie komisches Denkmal gesetzt. In den Prosaminiaturen, aus denen das Buch nach und nach, entgegen der Chronologie, das Leben des Vaters zusammenfügt, wird darüber hinaus in einem grundlegenderen Sinne einerseits die Erfahrung des Exils literarisch verdichtet, wie auf der anderen Seite die prägende Erfahrung des Ich-Erzählers, dass zu der Vertrautheit des eigenen Vaters immer auch das Moment des Fremd- oder Andersseins innerhalb der schwedischen Umgebung gehört. So taucht auch die titelgebende halbe Sonne in dem schmalen Buch in verschiedenen Gestalten auf. Als Emblem auf einer Streichholzschachtel, als Orange, die der Vater schält, oder auch in dessen Bemerkung, in Schweden würde allenfalls eine halbe Sonne scheinen, im Gegensatz zu seiner griechischen Heimat.

Insofern ließe sich Fioretos' jüngster Roman "Mary" als eine Art Komplementärroman zu dessen Vorgänger genauso wie auch zu "Der letzte Grieche" aus dem Jahr 2011 lesen. Der Blick richtet sich nun nicht mehr auf das griechische Leben im Exil, sondern auf Griechenland selbst. Es ist allerdings alles andere als die fehlende Hälfte der Sonne, die Fioretos in "Mary" erstrahlen lässt, vielmehr berichtet er von einem der dunkelsten Kapitel der griechischen Geschichte: die Militärdiktatur, die von 1967 bis 1974 währte.

Wenngleich die historische Vorlage identifizierbar ist, verleiht Fioretos ihr durch die Aussparung von Ortsnamen eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung. Die Mechanismen politischer Repression, deren Auswirkungen der 1960 Geborene mit einer schwer erträglichen Ruhe und Detailliertheit ausbuchstabiert, gelten in ihrer menschenverachtenden Gewalt für Unrechtsregime jenseits von spezifischen historischen Konstellationen.

Mary, eigentlich Maria, hat sich längst von ihrer regimetreuen Familie losgesagt. Anders aber als ihr älterer Bruder, der das Land bereits verlassen hat, studiert die junge Frau Architektur in ihrer Heimatstadt und erlebt eine intensive Liebe mit Dimos, einem der Wortführer der Studentenbewegung, die sich gegen die Militärjunta auflehnt. Als die Studenten die Universität besetzen, wird Mary als eine von unzähligen jungen Menschen festgenommen, ohne dass sie direkt an den Aufständen beteiligt gewesen wäre. Nur leere Hefte hat sie gekauft, aus deren Seiten sich Flugblätter machen ließen.

Was ihr genau zur Last gelegt wird, ob die Junta von ihrer Verbindung zu Dimos weiß - Mary erfährt es nicht, von einer Auskunft über die Dauer, die sie im Gefängnis bleiben muss, oder über ein anberaumtes Verfahren ganz zu schweigen.

Das abrupte Geworfenwerden in umfassende Unsicherheit ist die subtile und perfide Zersetzungsmethode, mit der die Gefangenen traktiert werden, so dass den willkürlich anberaumten Verhören, den brutalen Folterungen, die das Fristen in den Einzelzellen unterbrechen, beinahe schon ein Hauch von Hoffnung beigegeben ist, weil sie das zeitlose Dunkel zumindest für eine kurze Zeit aufheben.

Es wäre ein Leichtes für Mary, sich freizukaufen durch Namen von Aufständischen, die man von ihr hören will. Vielleicht auch durch den Verweis auf ihre Familie. Aber die junge Frau schweigt, beharrlich, unerbittlich auch gegen sich selbst. Sie weiß, nun kann sie nur überleben, wenn es ihr gelingt, sich abzuschotten gegen den Schmerz, der ihr zugefügt wird, und sich zu zwingen, die immerfort zehrende Unsicherheit zu bändigen. Sie solle Schmerz und Person trennen, an diesen früheren Rat eines Kommilitonen erinnert sie sich, dann werde die Ungewissheit ihr Freund. Die junge Frau tritt gleichsam aus sich heraus, um das Unerträgliche zu überstehen.

Womöglich hat die Polioerkrankung, unter der Mary als Kind litt, sie darauf vorbereitet, Schmerz in ihren Alltag zu integrieren. Vor allem aber ist es ihre noch junge Schwangerschaft, von der sie dem geliebten Dimos an ebenjenem Tag erzählen wollte, als sie festgenommen wird, die ihr Denken und Handeln fortan bestimmt. Diese Schwangerschaft, die sie verletzbar und erpressbar macht und die ihr zugleich den unbedingten Willen verleiht, sich gegen den sukzessiven Entzug von Leben zur Wehr zu setzen, verleiht Fioretos' Geschichte eine zusätzliche tragische Wucht. Mary gleicht mehr und mehr dem Granatapfel, den Fioretos in diesem Roman ein ums andere Mal als Bild verwendet: die Schale hart, hölzern, vermeintlich undurchdringlich, im Innern süße, strahlende Lebendigkeit.

Es ist eine doppelte Gegenbewegung, die Fioretos erzählerisch vollzieht. Während immer mehr der Inhaftierten freigelassen werden, wird Mary mit einer Handvoll anderer Frauen auf eine Gefängnisinsel verbannt, ein von Ratten bevölkertes Eiland, das auf geradezu gespenstische Weise aus allen zivilisatorischen Rahmen herausgefallen ist, ein archaischer, unwirtlicher Ort, an dem die basalen Bedingungen des Daseins unterlaufen werden. Auch hier fällt der Name der griechischen Gefängnisinsel Gyaros nicht, aber die Nähe ist offensichtlich. Nicht nur formt sich hier durch die Solidarität der Frauen untereinander eine kleine, humane Enklave innerhalb der Drangsale der Machthaber. Auch wächst in Mary das neue Leben heran, das sie wahlweise als Sonne oder mit den Namen verschiedener Früchte bedenkt.

Zudem wird aus der jungen Frau eine Erzählerin, als sie schließlich auch noch aus dem Kreis der Frauen verbannt wird. Dass sie deren Müll nach Verwertbarem durchsuchen darf, ist das letzte unwürdige Ritual, das ihr gestattet ist.

Aus dem Hässlichen, Unmenschlichen entsteht bei Fioretos eine poetische Schönheit, ohne dass er die Grausamkeit verklären würde. Dass Mary selbst unter diesen Umständen ihr Schweigen nicht bricht und dem System gegenüber standhaft bleibt, gerät bei Fioretos nicht zu einer Heldenerzählung, sondern zur stummen Anklage an Unrechtsregimes. Die Besonderheit liegt dabei gerade in der Sachlichkeit, in der Genauigkeit der Beschreibung, die kein Pathos, sei es nun wahr oder falsch, benötigt.

Allein, schon der Prolog verrät, dass Fioretos so naiv nicht ist, dass er uns glauben machen würde, das Erzählen selbst könne die Rettung sein. Jedenfalls nicht für seine Figur. Auf einem der Zettel, die Mary sich aus weggeworfenen Zeitungen zurechtschneidet, um ihre Geschichte darauf aufzuschreiben, und die sie in einer Dose verwahrt, notiert sie es gleich zu Beginn: "Manchmal frage ich mich, was ich hier mache, dann verstehe ich, dass ich keine andere Wahl habe. Es mag seltsam klingen, aber ich bin die Einzige, die erzählen kann, wie ich endete."

Gerade angesichts des unbändigen, konzentrierten Überlebenswillens von Mary ist das Ende des Romans umso furchtbarer. Mary, die ihre Schwangerschaft irgendwann nicht mehr verbergen kann, wird mit einer brutalen Alternative konfrontiert, zwischen der sie unmöglich wählen kann. Der Vernichtungswille des Systems siegt. Und dennoch bleibt nach der Lektüre von Aris Fioretos' Roman das untergründige Wissen von einem Vermögen von Literatur, der politischen Repression und ihren Apparaten, für die kein Individuum einen Wert hat, etwas entgegenzusetzen: durch ihre Schönheit und ihre Menschlichkeit.

WIEBKE POROMBKA.

Aris Fioretos: "Mary". Roman.

Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2016. 352 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Aus dem Hässlichen, Unmenschlichen entsteht bei Fioretos eine poetische Schönheit, ohne dass er die Grausamkeit verklären würde." Wiebke Porombka, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.02.17

"Jetzt hat der schwedische Schriftsteller einen Roman vorgelegt, dessen Geschehen sich schmerzhaft in den Leser einschreibt und ihn in eine Schutzlosigkeit treibt, die zugleich eine Kraft hervorbringt, die mitten im Schrecken wächst... Bewegt legt man das Buch aus der Hand und beginnt, in sich selbst nach den Reserven politischer und moralischer Courage zu suchen." Gabriele von Arnim, Der Tagesspiegel, 09.01.17

"Für seine Ich-Erzählerin hat Aris Fioretos eine Sprache gefunden, die ungeschminkt und zugleich behutsam festhält, was der Protagonistin alles widerfährt auf der Gefängnisinsel. Diese verknappte, aufs Wesentliche reduzierte Sprache glänzt und funkelt auch in der deutschen Übersetzung von Paul Berf und lässt einen mit stockendem Atem weiterlesen." Sandra Leis, NZZ am Sonntag, 27.11.16

"'Mary' hat die Authentizität, die Dringlichkeit, die sie als Kassiber aus dem Fegefeuer der Diktatur an die freie Welt braucht. Als Menetekel, als Erinnerung daran, was es zu verhindern gilt. In Griechenland und überall. 'Mary' ist der Roman zur Zeit." Elmar Krekeler, Literarische Welt, 26.11.16

"Diese Passionsgeschichte ist nicht nur großartig erzählt, sondern zudem höchst politisch und aktuell. Weil sie zeigt, was Gefängnis und Folter anrichten können. ... Die Prinzipien der Gewalt sind universell und auf alle Unrechtsregime anwendbar. Was sich in den Folterkellern dieser Welt abspielt, wird hier auf eine stille Weise geschildert, die deshalb umso eindringlicher und erschütternder ist." Dorothea Westphal, Deutschlandradio Kultur, 15.09.16

"Dieses Buch, das einer Figur bis in ihr Innerstes folgt, ist von einem erzählerischen Reichtum, wie er in der Gegenwartsliteratur nur selten begegnet." Ulrich Rüdenauer, Süddeutsche Zeitung, 22.08.16

"Wenn Mary den Hunger mit schwarzen Aalen vergleicht, die sich in die Eingeweide fressen, oder die Wellen der winterlichen Ägäis sie an Vögel aus Blei erinnern, die vergebens abzuheben versuchen - dann spürt der Leser, dass es darum geht, um der Würde der eigenen Existenz willen die Grenzen des Sagbaren auszuweiten." Manuel Gogos, Neue Zürcher Zeitung, 10.09.16

"Überhaupt, Farben und Formen, Konsistenzen und Körper: Aris Fioretos, Jahrgang 1960, ist ein fantastischer Beobachter all dessen, was Philosophen in der Nachfolge von Aristoteles als Akzidentien bezeichnet haben. Nur dass das Flüssige, Farbige oder Runde der Substanz in seinem Werk eben keineswegs nachgeordnet ist ... 'Die Trauer ist ein Geschenk', sagt die älteste Mitgefangene zu Mary, und: 'Erzähl.' Diese bittere Pille des Erzählens und Erinnerns hat Aris Fioretos in eine wahrlich grandiose Form gebracht." Jutta Person, Die Zeit, 13.10.16

"Ein ehrenwerter, sprachlich hochdifferenzierter Roman, der auch vorführt, wie die Diktatur die Sprache missbraucht." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 17.11.16
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