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John, amerikanischer Jude und ehemaliger Freiwilliger der israelischen Armee, wird in San Francisco auf offener Straße niedergestochen. Wer war John? Diese Frage stellt sich dem österreichischen Autor Hugo, der um seinen Freund trauert. Auf den Spuren Johns reist er nach Kalifornien, wo sich die beiden vor einem halben Leben kennengelernt haben, und dann nach Israel. Dort findet er sich im jüngsten Gaza-Krieg auf beiden Seiten des Konflikts wieder. "In der freien Welt" wagt nun die Frage nach unserem heutigen Blick auf jüdische Identität, auf das Fortwirken deutscher Geschichte und die Politik Israels.…mehr

Produktbeschreibung
John, amerikanischer Jude und ehemaliger Freiwilliger der israelischen Armee, wird in San Francisco auf offener Straße niedergestochen. Wer war John? Diese Frage stellt sich dem österreichischen Autor Hugo, der um seinen Freund trauert. Auf den Spuren Johns reist er nach Kalifornien, wo sich die beiden vor einem halben Leben kennengelernt haben, und dann nach Israel. Dort findet er sich im jüngsten Gaza-Krieg auf beiden Seiten des Konflikts wieder. "In der freien Welt" wagt nun die Frage nach unserem heutigen Blick auf jüdische Identität, auf das Fortwirken deutscher Geschichte und die Politik Israels.
Autorenporträt
Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt u. a. den Alfred-Döblin-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Uwe-Johnson-Preis, den Österreichischen Buchpreis 2019, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Thomas-Mann-Preis. Bei Hanser erschienen Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013), In der freien Welt (Roman, 2016), Die kommenden Jahre (Roman, 2018), Als ich jung war (Roman, 2019), Der zweite Jakob (Roman, 2021), mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war, sowie zuletzt Vier Tage, drei Nächte (Roman, 2022).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Vielleicht schien das Thema seines neuen Romans Norbert Gstrein selbst dermaßen heikel, dass er es dick in Belangloses einwickeln musste, um Anstößigkeit zu verhindern, vermutet Rezensent Jens Jessen. "In der freien Welt" handelt von einem sogenannten "Muskeljuden", erklärt Jessen, einem israelischen Soldaten, dessen Mutter den Holocaust überlebt hatte, und der sich in der Armee jetzt auch noch sein ureigenes Trauma hinzudient, das er anschließend, dann in Kalifornien, in Gedichten und Bildern und Romanzen verarbeitet, fasst Jessen zusammen. Später darf er dann ins Westjordanland zurückkehren und sich vielleicht verlieben, verrät der Rezensent, der aber angesichts der sich häufenden Nebensächlichkeiten bereits das Interesse verloren hat. Dass Gstreins irgendwann toter Protagonist ein reales - und noch lebendes - Vorbild hat, den amerikanischen Lyriker Alan Kaufman, scheint er ihm auch übel zu nehmen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2016

Der amerikanische Freund
Von Erzählskepsis keine Spur mehr: Nach der Parole "Get real, man!" präsentiert Norbert Gstrein einen actiongeladenen Roman um den Palästina-Konflikt

"In der freien Welt", der neue Roman des 1961 geborenen Norbert Gstrein, ist ein Erzähl-Requiem im Cinemascope-Format. Es spielt, über knapp fünfhundert Seiten hinweg, zu erheblichen Teilen in der unmittelbaren Gegenwart - gegen Ende wirft der Gaza-Krieg vom Sommer 2014 noch seine Schatten auf die Handlung. Im Zentrum des Geschehens steht die Freundschaft zweier Männer, die zwar denselben Beruf haben - sie sind Schriftsteller -, ansonsten aber unterschiedlicher kaum sein könnten: hier John, dort Hugo.

John ist ein zum Pathos und zur großen Gebärde neigender Dichter, der allmählich auch als Maler reüssiert, aus der Bronx stammt, in San Francisco lebt, sich als Nachfahre der Beatniks vom Schlage eines Burroughs, Ginsberg oder Kerouac inszeniert, hemmungslos autobiographisch schreibt und, bei aller Liebe, heftig unter seiner jüdischen Mutter leidet, die einst mit knapper Not dem Holocaust entrann. Hugo hingegen, etwa zehn Jahre jünger, stammt aus der tiefen Tiroler Provinz und rettet sich, stets angekränkelt von des Gedankens Blässe, aus jeder neuen Schreibkrise ins garantiert nächste Stipendium, existiert also komfortabel. Sein einträglichstes Werk trägt erst gar nicht seinen Namen: Es ist ein unter Pseudonym verfasster Schlüsselroman über den Wiener Staatssekretär Karl Hermanski, eine österreichische Von-und-zu-Guttenberg-Variante. Jetzt aber gibt Hugo den seriösen Ich-Erzähler, der Johns Leben recherchiert, rekapituliert und für uns aufzeichnet. Denn John, so beginnt das Buch, ist tot - mit 61 Jahren auf dem nächtlichen Heimweg von einem Fest in einer dunklen Seitengasse von San Francisco ermordet, aber erstaunlicherweise nicht ausgeraubt. Und keine Zeugen weit und breit.

Der Autor Norbert Gstrein hat Ende der achtziger Jahre mit Erzählungen debütiert, die sich das Signum "Anti-Heimat-Literatur" verdienten, um sich in der Folge dann einen exzellenten Ruf zu erwerben. Seine wichtigsten Romane - "Die englischen Jahre" (1999), "Das Handwerk des Tötens" (2003) und "Eine Ahnung vom Anfang" (2013) - waren thematisch wie ästhetisch anspruchsvoll, ambitioniert, avanciert. Es ging in ihnen, der Reihe nach, um Fährnisse der jüdischen Emigration, um den Horror der Jugoslawien-Kriege und ein Lehrer-Schüler-Verhältnis im Zeichen religiöser Radikalisierung. Selbst noch dem Quasi- und Pseudo-Schlüsselroman über Siegfried Unselds Witwe Ulla Berkéwicz und den Suhrkamp Verlag, der 2010 unter dem Titel "Die ganze Wahrheit" erschien, bescheinigten die Kritiker voller Respekt ein sich selbst reflektierendes Erzählen auf hohem Niveau.

"In der freien Welt" darf, ja muss man als sein bisher übermütigstes, deshalb auch mutigstes Buch bezeichnen. Denn Gstrein trivialisiert sich darin selbst - mit vollem Bedacht und bei größtem Risiko. Keine Spur von Erzählskepsis mehr. Vielmehr geht es vollkommen gradlinig und handlungsstark zur Sache, selbst die zahlreichen Rückblenden retardieren nicht, sondern türmen neuen, weiteren Stoff auf. Ein mal munter-mondänes, mal problem- und katastrophensteigerndes Ensemble von Handlungsorten kommt hinzu: Von San Francisco und New York geht es nach Alaska ebenso wie nach Tel Aviv, Jerusalem, in die Negevwüste, ins Westjordanland, ins KZ Mauthausen, aber auch in die Idylle des Salzkammerguts, aufs schottische Hochmoor und notabene nach Venedig.

Was aber hat den Schriftsteller Gstrein dazu verführt, einen zweiten Schriftsteller, eben Hugo, über einen dritten Schriftsteller, also John, schreiben zu lassen? Ist das nicht die pure narrative Inzucht? Und ist es nicht das bare Klischee, wenn John, der Amerikaner, neben der Beatnik- auch noch die Hemingway-Pose einnimmt, also ein ganzer Kerl, ein notorischer womanizer, ein Säufer (später Abstinenzler) und Kiffer vor dem Herrn ist - und schließlich auch noch ein Krieger, "ein Muskeljude", der Israels Armee 1982 als Freiwilliger im ersten Libanon-Krieg dient?

In der Mitte des Romans - und irgendwann in den neunziger Jahren - geraten John und Hugo in einen erbitterten Streit über das Wesen der Literatur und die richtige Art des Schreibens. Literatur komme aus der Sprache, sagt Hugo in typisch alteuropäischer Intellektuellenmanier. Völliger Quatsch, entgegnet John, erst komme das Leben, und daraus folge alles andere, auch das Schreiben: "No more fiction, Hugo! No more fake shit! Get real, man!" Mit solch plakativen Parolen wirft John nur selten um sich. Aber Gstrein nimmt die durchaus hemdsärmelige Poetologie für sein neues Buch programmatisch ernst: Er will nicht nur ein Requiem für Hugos amerikanischen Freund, sondern gleich auch noch einen richtig amerikanischen Roman auf Deutsch. Ein Buch mit Muskeln eben, ein Buch mit Drive, ein Buch mit Action ohne Ende. Das Sympathische daran: "In der freien Welt" löst dieses Programm ein. Der Roman ist lang, aber nur ganz selten langweilig, er ist, was man in England und Amerika "a good read", guten Lesestoff, nennt, ohne sich darüber zur Unterhaltungsware zu verkleinern.

Gewidmet ist er dem kalifornischen Underground-Poeten Alan Kaufman, den hierzulande nahezu niemand kennt, obwohl "Jew Boy", seine Autobiographie, übersetzt wurde und 2014 unter dem Titel "Judenlümmel" in einem Kleinverlag erschienen ist. Die Parallelen zu Gstreins Romanfigur John sind evident, aber ebenso unwichtig wie die partielle Nähe des Erzählers Hugo zu seinem Autor. Mehrfach taucht ein in Südafrika geborener israelischer Journalist und Buchautor namens Roy Isacowitz auf, den es tatsächlich gibt, zudem treiben einige unschwer zu entschlüsselnde Akteure des Wiener Literaten- und Zeitungslebens ihr wesenhaftes Unwesen. Auf Dechiffrierung jedoch kommt es nicht an - einzig von Bedeutung ist, ob und wie diese Personage ihre Funktion im Erzählganzen erfüllt.

Im Falle der Wiener Kaffeehaus-Skribenten geschieht dies eher schlecht als recht - auf so manche satirische Sottise über den Literaturbetrieb im Nachbarland wäre ohnehin (und besser) zu verzichten gewesen, auch mit der Vielzahl von Johns Exfrauen und Geliebten hat man es lesend nicht immer ganz leicht. Das Literaturfestival in Gmunden bei Salzburg, dem sich ein Kapitel widmet, dient allerdings einem guten Zweck. Es bringt einen jungen palästinensischen Autor namens Marwan ins Spiel, der fortan als Kontrast- wie Komplementärfigur zum amerikanischen Juden John dient - und es dem Autor Gstrein ermöglicht, das neben der Männerfreundschaft zweite Großthema des Romans, den oft kriegerischen Dauerkonflikt um Palästina, recht passabel zu personalisieren.

Wirklich Neues erfahren wir über diesen Konflikt nicht, auch dann nicht, wenn Hugo bei seinen Grenzgängen ins Westjordanland mit den dortigen Gewährsleuten über eine mögliche dritte Intifada diskutiert. Das bleibt Medienstoff, ins Literarische transponiert. Der erzählerische Mehrwert verdankt sich Gstreins Fähigkeit, atmosphärisch ungemein dichte Szenarien zu entwerfen - etwa den Sederabend, den Hugo bei der Familie Isacowitz in Tel Aviv verbringt, etwa die konspirativen Wanderungen einer palästinensischen Studentengruppe von Hebron aus, von denen ihm Marwans Schwester berichtet, vor allem jedoch Johns Schilderungen über den einstigen Kriegsalltag im Libanon. Beklemmend spürbar wird hier, was den Konflikt so unlösbar erscheinen lässt.

Wahrscheinlich ist, dass der deutsche Literaturbetrieb den amerikanischen Roman des Österreichers Gstrein eher auf Distanz halten wird, für den Preis der Leipziger Buchmesse ist er gar nicht erst nominiert. Ein wirklich großes Buch ist "In der freien Welt" auch nicht. Aber es ist die Lesereise nach San Francisco und in all die angrenzenden Weltgegenden mehr als wert.

JOCHEN HIEBER

Norbert Gstrein: "In der

freien Welt". Roman.

Carl Hanser Verlag,

München 2016.

493 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.02.2016

Ein Mord, den keiner begeht
Unerbittlich abgesichert: Norbert Gstrein siedelt seinen neuen Roman „In der freien Welt“ im
Echoraum des israelisch-palästinensischen Konflikts an, ohne dem heißen Kern nahezukommen
VON GUSTAV SEIBT
Das Sprechen über den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist von Verdächtigungen und Verboten umzingelt. Wer sich hier moralisch engagiert zeigt, muss sich fragen lassen: Was sind deine Motive? Warum Israel, warum nicht Tschetschenien oder Iran? Wer Israel zu leidenschaftlich kritisiert, gerät in den Verdacht des Antisemitismus. Umgekehrt unterstellen Palästinenser, wenn man für Israel spricht, gern, man sei von Schuldgefühlen geleitet und habe an den Juden etwas gutzumachen. Alle diese Einreden auf zweiter Ebene bekommen in Norbert Gstreins Roman „In der freien Welt“ ihre Vertreter, gelegentlich in satirischer Form, etwa wenn es darum geht, die denunziatorischen Debatten der Feuilletons zu karikieren: Literaturkritik als moralischer Stellvertreterkrieg.
  Gstreins Roman erzählt von dem großen Konflikt im einst Heiligen Land nicht unmittelbar, sondern im Spiegel von Kulturmenschen, die in ihn verstrickt sind, die an ihm leiden und über ihn reden. Erfahrungen sind gebrochen vom vorgängigen Wissen, von den Sorgen um falsche Töne und Missverständnisse oder auch nur vom Dauerfeuer der Propaganda.
  Gstrein schreibt über den Konflikt in der Form einer Künstlerbiografie – darauf muss man erst einmal kommen. Die Hauptfigur, ein amerikanischer Jude namens John, ist der Lebensfreund des Ich-Erzählers Hugo, eines österreichischen Schriftstellers, der ein Altersgenosse des Autors Gstrein ist. John und Hugo haben sich in Stanford zu Anfang der Achtzigerjahre kennengelernt und eine gute Zeit miteinander gehabt: Frauen, Alkohol, Gedichte, Kunst.
  Denn John, der Jude, Sohn einer europäischen Holocaust-Überlebenden, in der Bronx aufgewachsen, ist Dichter und Maler, eine auch äußerlich charismatische Erscheinung von etwas verspäteter Beatnik-Wildheit, Frauenheld, trocken gewordener Alkoholiker, Bodybuilder und mittellos am Rande der Armut, ein kalifornischer Bohemien. Zugleich ist er „Muskeljude“, ein starker, kampfbereiter Mann, der in der israelischen Armee gedient hat, sogar in einem Krieg, dem Konflikt in Libanon von 1982. Der 1953 geborene John ist ein Jahrzehnt älter als Hugo, was für die historische Einordnung von Belang ist. Seine Mutter ist von den Erfahrungen der Verfolgung und Ermordung des größten Teils der Familie auf verstörende Weise gezeichnet, und der Roman spart nicht mit Hinweisen, dass dieses Trauma auf den nur äußerlich starken Mann überging. Dieser fand in Israel Kontakt zur ersten Generation des Staates Israel und ihren unabweisbaren moralischen Motiven – für die Beflissenheit deutsch-österreichischer Israelfreunde und Kibbuzbesucher hat er nur ätzenden Spott übrig.
  Hugo befragt seine eigene Position in diesem Verhältnis skrupulös; seinem starken und doch so gebrochenen jüdischen Freund ist streitlustig verbunden, was dem Leser die Rekapitulation vieler altbekannter Motive im Umgang zwischen Kindern des Tätervolks und Opferkindern beschert, dem Ich-Erzähler aber auch eine läppische Zeitungs-Denunziation von österreichischen Kollegen mit Nazi-Familien-Hintergrund einträgt. So weit, so absehbar, so unvermeidlich – man denkt recht bald an die modrigen Pilze des Klischees von Hugos Vornamensvetter Hofmannsthal.
  John, das ist die Ausgangssituation, ist während der Zeit des letzten Gaza-Kriegs in San Francisco erstochen worden, in einem kleinen Durchgang der durch ihre Wandmalereien berühmten Clarion Alley (Gstreins Roman gehört zu den handwerklich tadellosen Werken, die minutiöses Hinterhergoogeln erlauben). Was steckt dahinter? Ein Anschlag der örtlichen Palästinenserszene auf den so prononciert kämpferischen Freund Israels, der soeben eine Ausstellung mit Gemälden unter dem provozierenden Titel „Zionistische Kunst“ plante?
  Hier kommt die dritte männliche Hauptfigur ins Spiel, der palästinensische Schriftsteller Marwan, den John, nicht ohne Vermittlung Hugos, auf einem österreichischen Literaturfestival kennengelernt hat. Die beiden mussten sich im ehemaligen Täterland auf ziemlich klebrige Weise miteinander konfrontieren lassen, fanden aber auch Gelegenheit für eine gemeinsame Bergtour – was dabei vorfiel oder geredet wurde, bleibt unbekannt. Marwan, der nach einigen Stipendienmonaten in Wien und Berlin wieder in die Westbank zurückmusste, um im väterlichen Sanitärbetrieb weiterzuarbeiten, hat eine beunruhigend präzise Erzählung über die Ermordung von John verfasst – beruht sie auf Mitwisserschaft oder Internetwissen? Wir erfahren es nicht.
  Der Mordfall gibt dem Roman seine Form vor, als Kriminalgeschichte oder, wie es im Reporterjargon heißt, „Spurensuche“. Die umwegige Recherche, das Kramen in Erinnerungen, die oft mit beliebig einsetzbaren Stimmungselementen (Tee oder Whiskey trinkende Gesprächspartner, in wichtigen Momenten bleierne Himmel oder flammende Sonnenuntergänge) künstlich verzögerte Informationsbeschaffung, sichert dem Roman die edelmatte Spannung, die den Leser immerhin über die sparsame Zeichnung des historischen Horizonts und die Ausgedachtheit der Hauptfiguren hinweghilft.
  Der Horizont des Romans – aber eben nicht der Gegenstand seiner Geschichte – ist also der von Sprechanweisungen so umstellte Konflikt Israels mit den Palästinensern. Was davon sichtbar wird, bleibt in der Summe auffallend dürftig. Es sind mit persönlichen Betroffenheiten belebte Zeitungsinformationen, die jeder aufmerksame Zeitgenosse auch ohne eigene Eindrücke haben kann, etwa wenn er die englische Ausgabe von Haaretz, der linksliberalen Tageszeitung Israels, anklickt.
  Der Ich-Erzähler Hugo lässt keinen Zweifel daran, dass er auf der Seite Israels steht, als Österreicher, als Freund von John, als Tourist des Landes mit seiner Schönheit und vibrierenden Gesellschaft. Gleichzeitig kommen die beiden Unerträglichkeiten, die seit Jahrzehnten in diesem Konflikt gegeneinanderstehen, gefühlvoll zur Anschauung: Hier die permanente Angst vor dem Terror, die Angst um die Kinder vor allem, diese außerhalb des eigenen Körpers schlagenden Herzen, wie es einmal heißt; dort die Eingesperrtheit, Enge und Demütigung in einem überwachten, permanent kontrollierten, von Razzien immer wieder aufgestörten Sicherheitsbereich, im Schatten jener jüdischen Siedlungen, die als betongewordenes Unrecht auf den Hügeln mit den biblischen Namen stehen.
  Die Welt Marwans, des Palästinensers, ist eng und auch moralisch dürftig – der vielversprechende Schriftsteller arbeitet am Ende bei einer Moralpolizei, die auf dem Universitätscampus von Ramallah über die Trennung der Geschlechter wacht, allen postmodernen Schreibexperimenten zum Trotz. Doch so unattraktiv diese von Hass, Furcht und Missgunst geprägte Welt ist, so sehr wird sie als Produkt jahrzehntelanger Zurücksetzung lesbar: Mit provozierender Beiläufigkeit nennt Hugo die Kontrollpunkte zwischen den Landesteilen immer wieder „Viehschleusen“. John hat viele Gründe, ein gebrochener Mann zu sein, einer aber ist die Erfahrung blanken Hasses, der ihm als israelischem Soldaten von Palästinensern entgegenschlug, eines Hasses, wie ihn nur ein unabweisbar verletztes Rechtsgefühl hervorbringen kann.
  Hugos Recherche – und mit ihr Gstreins Roman – kann kein neues Argument, nicht einmal eine neue Information zu diesem tausendfach hin- und hergewälzten Konflikt beitragen. Auch der Mord an John wird nicht aufgeklärt – da es sich nicht um Raub handelte, bleibt ein Hassverbrechen möglich. Der Roman, unerbittlich fugenlos konstruiert, verlagert den unlösbaren Konflikt auf die Ebene der Kunst. Marwan, der Palästinenser, schreibt eine Hassfantasie und verwendet dabei auch das Motiv gesichtsverletzter Kriegsopfer, die sich bei Tageslicht nicht aus den Häusern trauen, weil sie so entsetzlich entstellt sind, und er überblendet das mit dem Begriff der „anwesenden Abwesenden“ (present absentees), womit in Israel enteignete, aber im Land gebliebene Araber bezeichnet werden. Als „anwesende Abwesende“ geistern die Entstellten nächtens durch das Land.
  Und John ist nicht nur Lyriker und Autobiograf von pathetischer Drastik, sondern auch Maler. Ein „Selbstporträt als verhasster Jude“ zeigt ihn als eine entstellte Ungestalt von Angst und Grauen, und ein Zyklus von Zwillingsbildern zeigt Menschen, die einander die Gesichtshäute blutig von den Köpfen reißen, ein weiteres Bildpaar den anwesenden und den abwesenden Jahwe (in abstrakten Farbfeldern, wie sonst).
  Kurzum, die gelebte Ausweglosigkeit erhält ihr symbolisches Pendant, das auf einen archaischen Bruderkonflikt verweist. Der Titel des Romans kann nur als bittere Ironie verstanden werden. All das wäre in seiner vielfach gestaffelten Konstruiertheit weniger enttäuschend, wenn der Roman dafür eine eigene Sprache gefunden hätte. Doch Gstreins Buch ist weniger anschaulich als eine gute Reportage, er ist wie ein sehr ordentlicher, nicht übermäßig spannender Kriminalroman geschrieben. Die Dialoge sind oft steif, das Vokabular so gängig, dass ein paar Austriazismen („Gewurl“, „umtrutschen“) übermäßig auffallen.
  Wenn die Schwester des Palästinensers Marwan nicht weiß, was er vorhat, wird von ihr gesagt: „Dass er sich womöglich mit ganz anderen Plänen trägt, ist ihr entgangen.“ Von einer schönen Aussicht bekennt der Erzähler, „dass ich gar nicht erst versuchen durfte, den Blick und seine Schönheit zu beschreiben, ihn aber doch in meinem Kopf und in meinem Herzen haben musste, damit er zwischen meinen Sätzen wiederzufinden wäre.“ So bedeutungsschwer am Rande des Mitteilbaren bewegt sich hier allerlei. „Die Musik wurde ausgemacht, und John erhob sich“, heißt es einmal. „Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und begann mit tiefer Stimme zu deklamieren. Ich weiß nicht mehr, welches Gedicht es war, aber ich erinnere mich, dass es still wurde, und ich glaube, es ging nicht allein mir so, sondern auch viele andere hatten den Eindruck, einem magischen Eindruck beizuwohnen.“
  Der Stil ist weithin so gefühlig-nichtssagend, dass er wie übersetzt wirkt, verfasst in jener „internationalen Schreibweise“, von der Julian Barnes jüngst sprach. Sie gleiche, so Barnes, den Mahlzeiten im Flugzeug: „Macht alle satt, ist nicht direkt giftig, hat aber keinen erkennbaren Nährwert.“ Wer die Flugmeilen des zwischen Kalifornien, Österreich und Israel recherchierenden Schriftstellers Hugo zusammenrechnet, ahnt die demoralisierende Wirkung solcher Kost.
  Nicht verschwiegen sei daher auch, dass der Autor Gstrein sogar für die Fallstricke von Klischee und Authentizität eine seiner vielen Sicherheitsebenen eingebaut hat: Sein Hugo ist der Verfasser eines unter Pseudonym erschienenen, höchst „erfolgreichen Schlüsselromans über einen altadeligen Politiker, der wegen einer plagiierten Doktorarbeit stürzte.“
Norbert Gstrein: In der freien Welt. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016. 493 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 18,99 Euro.
Er legte den Kopf
in den Nacken,
schloss die Augen
und begann
mit tiefer Stimme
zu deklamieren.
Ich weiß nicht mehr,
welches Gedicht
es war.
Hugo,
die Hauptfigur in
Norbert Gstreins
Roman, recherchiert
auch in Israel:
Soldaten an der
Klagemauer
in Jerusalem.
Foto: Jonas Opperskalski/laif
Der österreichische Autor
Norbert Gstrein.
Foto: imago stock&people
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"Endlich kann mal ein deutschsprachiger Autor mir etwas von der Welt erzählen, so dass ich ihm glaube [...] Das ist er, der große, der wichtige, politisch wie ästhetisch an- wie aufregende Roman in diesem Frühjahr. Er heißt 'In der freien Welt', Autor Norbert Gstrein." Denis Scheck, SWR Fernsehen, 28.04.16

"Ein in jeder Hinsicht bewegender Roman!" Raimund Kirch, Nürnberger Zeitung, 26.03.2016

"Norbert Gstreins linear erzählter und wegen seiner präzisen Puzzlearbeit ausgesprochen spannend zu lesender Roman." Bettina Schulte, Badische Zeitung, 12.03.16

"Gstrein widmet sich dem Elend zwischen Israel und Palästina, und sein anschaulicher Text ist eine bedrückende Lektüre." Jürg Scheuzger, NZZ am Sonntag, 28.02.16

"Gstrein ist ein glänzender Kompositeur von Einzelszenen; ein versierter Erzähler, der die chronologisch ungeordneten Kapitel in einem großen Bogen zusammenhält. 'In der freien Welt' ist ein spannendes Buch, weil Gstrein darin untersucht, wie sichästhetische, vor allem aber politische Ideologien auf die Handlungszwänge des Einzelnen auswirken." Christoph Schröder, die tageszeitung, 27.02.16

"Intelligent und feinsinnig beschreibt Gstrein jene Ressentiments, die den Umgang zwischen Juden auf der einen, und Österreichern und Deutschen auf der anderen Seite bis heute schwierig machen." 3sat Kulturzeit, 26.02.16

"Was seine Figuren von der Wirklichkeit hereintragen, sind die großen Auseinandersetzungen unserer Zeit." Stefan Kister, Stuttgarter Zeitung, 12.02.16

"Norbert Gstrein arbeitet raffiniert mit Elementen des Krimis. ... Norbert Gstrein hat schon mehrfach bewiesen, dass er große Stoffe überzeugend bewältigen kann (...). Sein neuer Roman ist ein weiterer Beweis, dass dieser Autor zu den großen Erzählern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört. ... Ein großartiges Buch." Heide Soltau, NDR Kultur, 08.02.16

"'In der freien Welt' darf, ja muss man als Gstreins bisher übermütigstes, deshalb auch mutigstes Buch bezeichnen." Jochen Hieber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.16

"Das Schöne liegt in Amerika, wie so oft bei Gstrein, zu dessen literarischen Säulenheiligen Hemingway und Faulkner gehören. Und so ist 'In der freien Welt' nicht nur ein beachtlicher Roman über Israel, über die Unmöglichkeit, ein beiden Seiten gleichermaßen gerecht werdendes Buch zu schreiben. Es lässt sich auch als Liebeserklärung an Amerika als ewigen Sehnsuchtsort lesen." Sebastian Fasthuber, Der Falter, 03.02.16

"Gstrein ist ein Meister des multiperspektivischen Erzählens, der mit Mutmaßungen, Ahnungen und in die Irre führenden Spuren wirkungsvoll zu arbeiten versteht. (...) Ein bewegender, scheuen wir uns nicht zu sagen: großer Roman." Rüdiger Görner, Die Presse, 29.01.16
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