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Das Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die bis heute letzte globale Zäsur - Ende und Anfang, die in unzählige einzelne Bilder und Geschichten zerfallen. Der niederländisch-amerikanische Historiker Ian Buruma hat Hunderte persönlicher Erinnerungen und Berichte aus Europa und Asien zu einer großen Geschichte der Welt zur Stunde Null zusammengefügt. Er erzählt von Feinden, die zu Befreiern wurden, blühenden Schwarzmärkten, Militärgerichten und Lynchjustiz, von Siegern und Besiegten, von Trauer, Angst und grenzenloser Freude. So anschaulich und vielstimmig war noch nie über den dramatischen Sommer…mehr

Produktbeschreibung
Das Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die bis heute letzte globale Zäsur - Ende und Anfang, die in unzählige einzelne Bilder und Geschichten zerfallen. Der niederländisch-amerikanische Historiker Ian Buruma hat Hunderte persönlicher Erinnerungen und Berichte aus Europa und Asien zu einer großen Geschichte der Welt zur Stunde Null zusammengefügt. Er erzählt von Feinden, die zu Befreiern wurden, blühenden Schwarzmärkten, Militärgerichten und Lynchjustiz, von Siegern und Besiegten, von Trauer, Angst und grenzenloser Freude. So anschaulich und vielstimmig war noch nie über den dramatischen Sommer 1945 zu lesen, in dem das Fundament für unsere Gegenwart gelegt wurde.
Autorenporträt
Ian Buruma, 1951 in Den Haag geboren, lehrt als Henry R. Luce Professor am Bard College und lebt in New York. Er veröffentlicht in zahlreichen amerikanischen und europäischen Zeitschriften. Bei Hanser erschienen zuletzt: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde (mit A. Margalit, 2005), Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh (2007), Die drei Leben der Ri Koran. Roman (2010), '45. Die Welt am Wendepunkt (2015) und Ihr Gelobtes Land. Die Geschichte meiner Großeltern (2017).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2015

Als Onkel Emil gegen Hitler kämpfte
Ian Buruma erzählt vom Kriegsende in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum

Es war nicht zu Ende. Zwar wurde der Zweite Weltkrieg im Mai beziehungsweise September 1945 in Europa und im ostasiatisch-pazifischen Raum mit Unterzeichnung der Kapitulationsurkunden formal beendet. Aber das Elend ging weiter. Nur dass jetzt zumeist die vormaligen Täter die Opfer - und die vormaligen Opfer häufig die Täter waren. Flucht und Vertreibung, Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Plünderung, Kälte und Hunger beherrschten die Szenen. Die Geschichte dieses Krieges nach dem Krieg wollte Ian Buruma aufschreiben. Buruma, Jahrgang 1951, Sohn eines niederländischen Vaters und einer englischen Mutter, lehrt in New York Demokratie, Menschenrechte und Journalismus. Vor allem als Kenner Japans hat er sich einen Namen gemacht.

Dieser Biographie begegnet der Leser auf Schritt und Tritt. Zum einen wird er rasch gewahr, dass Buruma zwar Journalist, Kommentator, auch vielfacher Buchautor, nicht aber gelernter Historiker ist. Und dann waren die Kriegserlebnisse seines Vaters der eigentliche Anlass für die Niederschrift des Buches. Der hatte sich 1941 in der Zeit der deutschen Besatzung an der Utrechter Universität immatrikuliert, war einer Studentenverbindung beigetreten, die - wie alle in dieser Zeit - verboten gewesen ist, hatte den "Treueid" verweigert und war untergetaucht. Aber nicht aus diesem Grund, sondern weil die Besatzer überall nach Arbeitskräften fahndeten, wurde der Vater Anfang 1943 als Zwangsarbeiter in eine Berliner Fabrik deportiert, überlebte in der Reichshauptstadt das alliierte Bombardement, wurde nach einem Kollaps von einer Prostituierten gerettet - und musste sich, an seine Universität zurückgekehrt, wieder den demütigenden Aufnahmeritualen seiner Verbindung unterziehen.

Es gab schlimmere, viel schlimmere Schicksale, sagt Buruma. Aber gerade das Nachkriegskapitel der Geschichte seines Vaters stellte ihn vor ein "Rätsel", das er verstehen und lösen wollte. Was war das für eine Zeit, die solche Aufnahmeriten eines Corps nach wie vor für "normal" hielten? Was waren das für Leute, die so taten, als sei in den vergangenen Jahren nichts geschehen? Wie ging es "unmittelbar nach dem verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte" weiter? "Wie stand die Welt aus den Trümmern wieder auf?"

Herausgekommen ist ein schwieriges Buch. Das liegt natürlich auch an der bedrückenden Thematik und der Art, wie Buruma sie sprachlich in den Griff bekommt. Als routinierter Autor weiß er, wie man eine brutale Wirklichkeit authentisch abbildet. Und die deutsche Übersetzung des ursprünglich in den Vereinigten Staaten erschienenen Werks wird dem gerecht. Problematisch ist vor allem die Komposition des Ganzen. Es gibt zwar eine Gliederung, die das amorphe Themenkonglomerat in neun Sachkapitel - wie "Hunger", "Vergeltung", "Heimkehr" - sortiert. Aber damit fällt die für das Verständnis unverzichtbare Chronologie unter den Tisch. Im Grunde besteht die Darstellung aus einer Aneinanderreihung von Ereignissen und Episoden, springt dabei in atemberaubendem Tempo zwischen den einzelnen Nachkriegsschauplätzen in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum hin und her, und ist auch deshalb ziemlich redundant.

Weil sich Buruma für die ereignisnahe Erzählung entschieden hat, wird zudem der Hintergrund des in Episoden Dargestellten praktisch nie ausgeleuchtet oder gar konsequent analysiert. Wenn man so will, fehlt das Fundament. Mithin muss sich der mit den komplexen Geschehnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit wenig oder nicht vertraute Leser auf den Autor verlassen, muss annehmen, dass erstens die von Buruma ausgewählten Geschichten repräsentativ sind und dass zweitens seine historischen Erläuterungen und Analysen die ausgeblendete Vorgeschichte angemessen verarbeiten und reflektieren. Das ist nur sehr eingeschränkt der Fall, schon weil sich Buruma im Zuge der Darstellung nicht selten auf Persönlichkeiten oder Ereignisse konzentriert, die ihn - wie sein Vater und dessen Geschichte - persönlich berühren, die aber für den jeweiligen Sachzusammenhang nicht oder allenfalls eingeschränkt aussagekräftig sind.

So sehr man Burumas Befund zustimmen wird, dass der aktive Widerstand gegen die deutsche Diktatur kein verbreitetes Phänomen gewesen ist, sondern sich auf einige "winzige Gruppen von Menschen" beschränkte, so wenig repräsentativ ist der Fall der Journalistin Ruth Andreas-Friedrich für diese deutsche Widerstandsbewegung. Die junge Frau hatte in Berlin die Gruppe "Onkel Emil" mitbegründet, die Verfolgten des Regimes auf die eine oder andere Weise weiterhalf. Kann man tatsächlich den deutschen Widerstand - seine vielfältigen Ausprägungen, internen Konkurrenzen, sein Scheitern - mit Hilfe dieser einen Person und ihres Tagebuches verstehen? Ist es legitim, den kommunistischen, den kirchlichen oder den nationalkonservativen und militärischen Widerstand so gut wie vollständig auszublenden? Diese außerordentliche Verengung des Blickwinkels muss den Leser auf eine falsche Spur führen.

Natürlich ist das nicht Burumas Absicht. Geschichtsklitterung betreibt er nicht, ist vielmehr um ein distanziertes, abwägendes Urteil bemüht. Die Verengung der Perspektive reflektiert wohl eher die sehr überschaubare Quellen- und Literaturbasis seiner Recherche. Das Tagebuch der Ruth Andreas-Friedrich, dessen Authentizität man immer wieder hinterfragt hat, ist wahrlich nicht die einzige Quelle für den deutschen Widerstand und schon gar nicht eine ersten Ranges. Und was für die Quellenbasis dieses Komplexes gilt, das gilt auch für alle anderen. Wer mit den Themen vertraut ist, wer die Hintergründe und Zusammenhänge kennt, mag mit den professionell erzählten Geschichten gut bedient sein. Alle anderen sollten sich zunächst einmal mit der Zeit vertraut machen. Das klassische Sachbuch hat noch lange nicht ausgedient.

GREGOR SCHÖLLGEN

Ian Buruma: '45. Die Welt am Wendepunkt. Carl Hanser Verlag, München 2014. 412 S., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großem Interesse hat der Historiker Jürgen Osterhammel Ian Burumas Buch "45" gelesen. Anschaulich stelle der Autor in seinem breit angelegten und klug arrangierten Werk dar, wie 1945 die letzten nationalsozialistischen Mordexzesse stattfanden, schließlich Vernichtungs- und Konzentrationslager befreit wurden oder Flüchtlinge und Vertriebene heimatlos umherirrten, berichtet der Kritiker. Insbesondere würdigt er Burumas Verdienst, mit gut recherchierten Lebensgeschichten an die Millionen von "Displaced Persons" in Kontinentaleuropa, Japan, China oder Südostasien zu erinnern, deren Leidensgeschichte nach 45 noch lange nicht zu Ende war. Überhaupt zeigt sich der Rezensent beeindruckt von Burumas umfassendem Blick: Großartig, wie er die Erfahrungen seiner eigenen niederländisch-britischen Familie einbindet, das heutige Indonesien als Paradigma für die entstehende Dritte Welt betrachtet oder Hunger und Not im Raum zwischen Algerien und den Philippinen schildert. Gelegentliche Unschärfen verzeiht Osterhammel da gern.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.05.2015

Die tödliche Dynamik der Diktatur
Drei Bücher über Hitler, den Krieg und die vielfältigen Überlebensgeschichten,
die Erinnerungen an das Jahr 1945 auf der ganzen Welt bestimmen
VON DIETMAR SÜSS
In der raschen Abfolge der Jahrestage macht sich das Jahr 2015 seltsam aus. Denn: kein Streit, nirgends. 70 Jahre nach Kriegsende scheinen die großen Deutungsschlachten geschlagen zu sein. Die Erinnerung an den „Tag der Befreiung“ vom Nationalsozialismus hat nichts mehr Anstößiges wie noch vor dreißig Jahren. Damals hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker nicht nur an die deutsche Schuld und den inneren Zusammenhang von „Machtergreifung“ und Krieg erinnert, sondern auch der Opfergruppen des NS-Terrors gedacht: der europäischen Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Behinderten. Kaum jemand kann sich heute noch vorstellen, dass es damals aus der Kohl-Regierung erhebliche Widerstände gegen die Pläne des Bundespräsidenten gab, im Bundestag des Kriegsendes in einer Zeremonie zu gedenken.
  Vieles hat sich gewandelt. Sieger und Besiegte erinnern heute gemeinsam. Indes übertünchen das Pathos der Erinnerung und die verbrauchte Rhetorik von den „Lehren aus der Geschichte“ die eigentlichen Sollbruchstellen im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit: die Begeisterung vieler Deutscher für die Diktatur und die Bereitschaft zur Gewalt. Gerade für eine jüngere, akademisch gebildete Generation hatte die Vision einer rassistischen, leistungsorientieren „Volksgemeinschaft“ etwas Attraktives – mit Folgen weit über das Jahr 1945 hinaus.
  70 Jahre nach Kriegsende bleiben diese Fragen verstörend. Ihre Antworten finden sich nicht im allgemeinen Räsonieren über die „Schrecken des Krieges“. Dafür rückt einmal mehr der sehr eigene, sehr blutrünstige Weg der Deutschen in die Moderne in den Mittelpunkt.
  Die Beobachtung nationalsozialistischer Theatralik bildet den Ausgangspunkt von Wolfram Pytas Buch über den „Künstler“ Hitler als „Politiker und Feldherr“. Pyta interessiert die charismatische „Führerherrschaft“ und die von Walter Benjamin formulierte „Ästhetisierung der Politik“. Pytas Leitidee lautet: „Die hingebungsvolle Unterwerfung unter das Genie ist kein serviler Akt erzwungener Untertänigkeit, sondern die extremste Form selbstgewählter Entmündigung.“ Der Stuttgarter Historiker beschreibt, wie Hitler, berauscht durch Richard Wagners Opern-Gesamtkunstwerke, ganz auf die Macht der Bühne setzte. Seine Stimme war hier sein Kapital, und Wagner bildete dafür die Vorlage. Hitler selbst war, nach anfänglichem Zögern, beseelt von dem Glauben an seine eigene ganz außerordentliche künstlerische Kraft, die ihn in die Lage versetzte, anders als das militärische Klein-Klein der Generäle in wirklich großem Maßstab Raum und Zeit zusammenzubringen. Pyta zeigt in einem ersten Teil Hitlers Weg zum „Künstler-Politiker“ und untersucht in einem zweiten Teil die Etablierung des „Geniekults“ als alles bestimmender Feldherr, der sich gegen die Bedenken traditioneller militärischer Operationen hinwegsetzte.
  Gerade die Teile der Studie, die sich mit Hitlers Herrschaft über das „Kartenmaterial“ des Krieges und seiner „visuellen Kompetenz“ beschäftigten, machen sie originell. Da wird ein Diktator gezeigt, bei dem „militärstrategisches Denken, außenpolitisches Kalkül und unbändiger rassenideologischer Vernichtungswille“ zu einem mörderischen Gemisch verschmolzen. Pyta zeigt, wie groß die Wirkung von Hitlers vermeintlichem Genie selbst nach dem Ende der 6. Armee bei Stalingrad noch war. Sein Urteil: „So blieb selbst ein Hitler, der kommunikative Abstinenz praktizierte und eine Kette militärischer Niederlagen zu verantworten hatte, bis in seine letzten Monate hinein ein Herrscher, der auf umfassende Gefolgschaftstreue bauen konnte.“
  Bei allen klugen Beobachtungen hat Pytas Studie doch ihre Grenzen. Das beginnt bei der Entscheidung, die Geschichte des Nationalsozialismus wieder als Geschichte Adolf Hitlers und einer kleinen militärischen Entourage zu erzählen. Den gesellschaftlichen Resonanzboden für Krieg und Vernichtung sucht man in der Studie vergeblich – ein echtes Defizit, weil damit ein zentraler Anker einer modernen Herrschaftsanalyse fehlt, die sich eben nicht allein auf die „Persönlichkeit“ Hitlers beschränkt.
  Ob man für alle Beobachtungen das umfangreiche Begriffsarsenal der Kulturwissenschaften braucht, ist eine Geschmacksfrage. Aber Pyta lässt sich ein ums andere Mal von der Faszination seiner Begriffe hinreißen, ohne den Mehrwert deutlich zu machen. Vergeblich sucht man den Vergleich zu anderen faschistischen „Künstlern“, wie Mussolini beispielsweise, um zu verstehen, ob diese Form der Theatralik überhaupt ein spezifisch deutsches „Gesamtkunstwerk“ und eine faschistische Antwort auf die Krisenerscheinungen der Moderne waren.
  Der „Gröfaz“ überlebte als Mythos auch jene Monate im Mai 1945, in denen die Welt tatsächlich vielerorts aus den Angeln war. Ian Buruma erzählt diese Geschichte mit leichter Hand und souveränem Blick für die Details. Burumas Geschichte des Kriegsendes entfaltet gerade dort ihre Kraft, wohin viele nicht blicken: in Japan und auf den Philippinen, in Korea und Algerien. Er erinnert an die vielfältigen Überlebensgeschichten, die das Jahr 1945 bestimmten: Das Ende der militärischen Gewalt brachte eben noch keinen Frieden.
  Gleichzeitig erzählt Buruma eindringlicher als andere von der neu erweckten Lebenslust der Menschen: von Liebe und Sexualität, von der Hoffnung auf jene Befreier, die wie im besetzten Westeuropa nun die hässlichen Deutschen vertrieben. Damals, so erinnert sich ein Holländer, sei es Privileg gewesen, „wenigstens den Ärmel einer kanadischen Uniform zu berühren. Jeder kanadische Soldat war ein Christus, ein Erlöser“. Die Männer fehlten, und die Ankunft der Alliierten sei nur, wie Buruma lakonisch meint, mit der Ankunft der Beatles zwanzig Jahre später zu vergleichen.
  Während den Westmächten in Deutschland der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung anfänglich strikt verboten war, entstand unter der Schirmherrschaft des niederländischen Königshauses ein eigenes Unterhaltungskomitee für die alliierten Soldaten, das sich darum bemühte, weibliche Begleiterinnen zu organisieren. Befreiung – das konnte eben sehr vieles bedeuten, aber es war nie bloß die Wiederherstellung eines früheren Zustandes. Denn geblieben waren überall in Europa die Erfahrungen der Besatzung und der Kollaboration. Die Nähe und Distanz zu den Deutschen bestimmten auch den ganz individuellen Start in die Nachkriegszeit, und so war das Jahr 1945 eben auch ein Jahr der Rache und des Versuchs, mithilfe neuer Gerechtigkeitsstandards und Rechtsverfahren den Zorn zu zähmen.
  Buruma interessiert sich besonders für die „verwaisten Völker“, die zwischen die Machtblöcke gerieten und deren Geschichten angesichts der großen Schlachten des Kalten Krieges allzu schnell vergessen worden sind. Es ist dieser weite, empathische Blick, der die Lektüre anregend und faszinierend macht. Buruma verknüpft seine Erzählungen mit den Erfahrungen seiner eigenen niederländisch-britischen Familie – einer Geschichte, die ihn von 1945 bis ins Berlin der jüngsten Zeit führt.
  Sein erzählerischer Glanz geht indes bisweilen auf Kosten einer weitergehenden Analyse. Für politische Machtkonstellationen und die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten über 1945 hinaus interessiert Buruma sich wenig. Gleichwohl ragt sein Buch aus der Masse an Neuerscheinungen zum Kriegsende deutlich heraus.
  Buruma hat sein Buch, anders als die Ausstellungsmacher des Deutschen Historischen Museums, bewusst nicht unter den Dreiklang „Niederlage, Befreiung, Neuanfang“ gestellt. Der Katalog präsentiert knappe Fallstudien zu zwölf Ländern Europas und ihrem „Kriegsende“. Einige davon sind sehr lesenswert, so die von Jörg Ganzenmüller über die Sowjetunion und von Jaromír Balcar über die Tschechoslowakei.
  Als am Morgen des 9. Mai die sowjetischen Panzer Prag erreichten, war es das Ende der NS-Okkupation und der Auftakt für den Übergang in den „Staatssozialismus sowjetischer Prägung“. Doch auch dieser Transformationsprozess in dem Land mit so starken zivilgesellschaftlichen Wurzeln geschah nicht über Nacht und folgte keinem Masterplan der Roten Armee, die das Land im November 1945 bereits wieder verlassen hatte. Es war die Folge einer flexiblen, nach Macht strebenden Strategie der Kommunistischen Partei, der es gelang, die Schwächen der jungen Demokratie für sich zu nutzen. Denn auch dies ist Teil der Geschichte des Jahres 1945: der Auftakt für die Westverschiebung des sowjetischen Imperiums. Nicht recht klar ist, warum sich die Herausgeber für bestimmte Länder entschieden, weshalb also Luxemburg, nicht aber Spanien, Griechenland oder andere Länder Südosteuropas mit einbezogen wurden. Und Sinn hätte es durchaus gemacht, stärker die Beziehungen und Verflechtungen der Kriegserfahrung in den Mittelpunkt zu stellen.
  Was wohl bleiben wird vom Gedenkjahr 2015? Die Erinnerung an die mörderische Gewalt des Nationalstaates und die inzwischen so befehdeten Versuche der Europäer, Militärgewalt dauerhaft zu zähmen? Man muss kein Prophet sein, um zu spüren, dass uns bald - mit den Waffen der Geschichte – eine neue Debatte ins Haus steht, wenn 2019 an „Versailles“ erinnert wird. Beruhigend ist das nicht.
Wolfram Pyta: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. Siedler, 2015. 848 Seiten, 39,94 Euro.
Ian Buruma: ’45 – Die Welt am Wendepunkt. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Hanser, 2015. 432 Seiten, 26 Euro.
Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): 1945 – Niederlage. Befreiung. Neuanfang: Zwölf Länder Europas nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft. Theiss Verlag, 2015. 256 Seiten, 24, 95 Euro.
Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.
Auch nach der Niederlage bei
Stalingrad galt Hitler
noch als genialer Feldherr
Die Alliierten wurden in Holland
so enthusiastisch begrüßt
wie später nur die Beatles
NS-Prominenz, wie der Künstler Michael Sowa sie sieht.
Abb: Lepkowski Studios, Berlin
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"Burumas Geschichte des Kriegsendes entfaltet gerade dort ihre Kraft, wohin viele nicht blicken: in Japan und auf den Philippinen, in Korea und Algerien." Dietmar Süss, Süddeutsche Zeitung, 05.05.15

"In seiner grandiosen Globalgeschichte des Jahres 1945 verknüpft Ian Buruma erstmals das Kriegsende in Europa mit dem in Asien." Stefan-Ludwig Hoffmann, Die Zeit, 29.04.15

"Lesenswert ... In Ian Burumas Buch erscheint das rast- und erbarmungslose Mahlwerk der Geschichte für einen Moment lang stillgestellt und verstehbar." Ulrich Baron, Die Welt, 18.04.15

"Wie in einem detailgenauen Panoramabild vermischen sich hier Weltpolitik und Alltägliches zu einer Leseerfahrung ohnegleichen!" Deutschlandradio Kultur, 02.03.15

"Das Buch überzeugt durch die Weite des im zeitlichen Querschnitt umfassten Horizonts." Jürgen Osterhammel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.15

"Eine spannende Mentalitätsgeschichte der Nachkriegswelt." Eike Gebhardt, DeutschlandradioKultur, 23.02.15

"Ian Buruma hat ein Buch über das Jahr 1945 als Zeitenwende geschrieben. Damit hat der Trend zum historischen 'Jahrbuch' einen vorläufigen Höhepunkt erreicht." Claudia Schumacher, Neue Zürcher Zeitung, 25.01.15

"Burumas Buch ist eine Querschnittsuntersuchung der Lage anno 1945." Paul Stänner, Deutschlandfunk, 09.02.15