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Stefan George, der bedeutendste Dichter des Symbolismus in Deutschland, ist wieder ins Zentrum des Interesses gerückt. Große Biografien haben seine schillernde Persönlichkeit, seine Ansichten zur Politik und den männerbündischen "George-Kreis" ausgeleuchtet, weniger jedoch seine schwierigen Gedichte. Ernst Osterkamp widmet sich in seinem brillanten Essay Georges spätem Buch "Das Neue Reich". Aus seiner Interpretation rekonstruiert er Georges Gedankengebäude und führt es, präzise durchdacht und polemisch formuliert, ad absurdum.

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Produktbeschreibung
Stefan George, der bedeutendste Dichter des Symbolismus in Deutschland, ist wieder ins Zentrum des Interesses gerückt. Große Biografien haben seine schillernde Persönlichkeit, seine Ansichten zur Politik und den männerbündischen "George-Kreis" ausgeleuchtet, weniger jedoch seine schwierigen Gedichte. Ernst Osterkamp widmet sich in seinem brillanten Essay Georges spätem Buch "Das Neue Reich". Aus seiner Interpretation rekonstruiert er Georges Gedankengebäude und führt es, präzise durchdacht und polemisch formuliert, ad absurdum.
Autorenporträt
Ernst Osterkamp, geb. 1950, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin. Veröffentlichungen u.a. zu folgenden Themen: Literatur der deutschen Frühaufklärung, der Klassik und der klassischen Moderne sowie die Wechselbeziehungen zwischen den Künsten (insb. Dichtung und bildende Kunst, Dichtung und Oper).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010

So kam er über die Deutschen

Rudolf Borchardt sah in Stefan George den landfremden Abenteurer. Ernst Osterkamp liest Georges letztes Buch als Manifest einer poetischen Machtergreifung.

Von Patrick Bahners

Als Rudolf Borchardt 1909 seine große Besprechung von Stefan Georges "Siebentem Ring" veröffentlichte, unterschied er die epochale Bedeutung Georges für die deutsche Literatur von der Verehrung einer Gemeinde, über deren Riten schon damals schäbige Gerüchte die Runde machten: "als ob dieser Anhang es wäre, was seine Wirkung auf die Zeit verewigt". Hundert Jahre später nimmt die Wirkung Georges auf die Zeit wieder zu, aber das Interesse richtet sich weniger auf das Werk als auf den Anhang, den "Kreis". Diesen Eindruck hat jedenfalls Ernst Osterkamp, der sich als Germanist herausgefordert sieht, Georges Wirkungen auf ihre Ursache zurückzuführen, Georges Dichtung.

Wie Borchardt legt Osterkamp eine exemplarische Interpretation eines Buches vor. Georges letzte Gedichtsammlung "Das neue Reich" erschien 1928, im Jahr des sechzigsten Geburtstags. Osterkamps Buch bietet vier Studien zu einzelnen Gedichten, ergänzt um eine bezwingende, aus dem Gesamtwerk schöpfende Beschreibung einer Welt ohne Frauen. Am Anfang stand ein Vortrag über eines der Dialoggedichte, den "Gehenkten". In diesem makabren Lehrstück offenbart der Verbrecher, dass er als Volksheld auferstehen wird, in der Dichtung. Osterkamp fasste den Plan, Georges Auffassung von der geschichtlichen Sendung des Dichters durch eine "mikrophilologische Lektüre" jedes Gedichts des Bandes zu dokumentieren. Schon nach dem dritten Versuch brach er das Projekt ab. Osterkamp ist der Ansicht, dass in den ersten drei Stücken, den Rollengedichten "Goethes lezte Nacht in Italien" und "Hyperion" sowie dem Triptychon von Knabenbeschwörungen "An die Kinder des Meeres", ja schon in der ersten Strophe des Goethe-Monologs die ganze Poetologie des "Neuen Reiches" enthalten ist.

Die Disposition der Untersuchung ist kühn. Das im "Neuen Reich" vereinigte Material ist disparat, in einem Zeitraum von zwanzig Jahren entstanden, und nach Gattungen sortiert. Nur nebenbei kommt Osterkamp auf die berühmten Gedichte mit zeitgeschichtlicher Thematik wie "Der Krieg" und "Geheimes Deutschland" zu sprechen: Wie diese für den Streit um George so bedeutsamen Texte zu verstehen sind, das muss sich bei Osterkamp, obwohl seine Meinung über den politischen Dichter denkbar deutlich ist, indirekt ergeben. Die beiden Eröffnungsgedichte, in denen George durch die Masken Goethes und Hölderlins spricht, tragen die Hauptlast der Argumentation.

Überzeugend ist Osterkamp, wenn er zeigt, wie George den schöpferischen Anspruch ins Maßlose steigert durch Fixierung auf einen Punkt, den Stern, der seinem Goethe in der Nacht des Abschieds von Italien aufgeht. Den Kult des Kindgotts Maximin mit der widernatürlichen Dogmatik der Einheit von Zeugung und Empfängnis kann Osterkamp entschlüsseln als Feier der Konzentration der poetischen Kraft, der Selbstüberbietung der autonomen Poesie. Das Reich des neuen Gottes existiert nur im Augenblick der Überwältigung durch die Schönheit, bildet einen Punkt außerhalb der Zeit. Es wird nicht, es ist schon, im Gedicht.

Die Spannung zwischen der Idee einer geistigen Gemeinschaft und der Vorstellung einer Verleiblichung der Gottheit soll George nun einseitig aufgelöst haben durch Vergötzung des Volkskörpers. Es ist aber Osterkamps Deutung, die hier einseitig und falsch wird. In der Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist "völkisch" ein technischer Begriff. Er steht für eine rassistische Weltanschauung, die sich in Deutschland als Bewegung organisierte. Auch wenn das Wort in den Quellen in einem weiteren Sinne begegnet, kann der Wissenschaftler es nicht mehr als Synonym für "ethnisch" oder "national" verwenden. Osterkamp entdeckt völkisches Denken schon dort, wo Goethe-George und Hölderlin-George ihre Landsleute in der zweiten Person Plural ansprechen.

Die beiden Gedichte rekapitulieren die nationalpädagogische Programmatik der Klassik, die den Deutschen die Antike als geistige Heimat vor Augen stellte. Osterkamp behauptet, George vergegenwärtige diese Bildungswelt nur, um sie als vergangen zu markieren. Der Dichter definiere die Norm des ganzen Menschen nicht mehr menschheitlich-universal, sondern exklusiv-national, errichte "eine unüberwindliche Zeitenschwelle zwischen dem klassischen Bildungshumanismus" und dem "Erlösungsweg im Zeichen eines nationalen Erlösungsphantasmas". Das Fundament dieser gewagten Konstruktion ist ein erstaunliches Missverständnis des George zur Verfügung stehenden Toposmaterials.

Dass Georges Hyperion als der Fromme spricht, "der im Reich nie wandeln darf", kommentiert Osterkamp apodiktisch: "Reich ist nur, wo institutionalisierte Herrschaft ist, die sich in einem begrenzten Raum organisiert." In der Überlieferung der Deutschen wird das Reich aber als universales, der Idee nach grenzenloses gedacht. Darum waren ja deutsche Reiche den Nachbarn suspekt. Bei Osterkamp fehlt der Hinweis auf die Translatio imperii, den Glauben der Deutschen, das römische Reich sei schon im Jahr 800 auf sie übertragen worden. Auch nach dieser Übertragung blieb das Reich ein römisches. Hätte Georges Reich wirklich die Verwerfung der Antike zum Staatszweck, hätte er sie proklamieren müssen. An "völkischen" Beispielen solcher Absagen fehlt es nicht.

Georges Goethe gehen die Augen über, als er merkt, dass die Männer, die er in Säulenhöfen am geistigen Werk sieht, "Söhne meines volkes" sind, die die "Sprache meines volkes" sprechen. Ein "völkisch definiertes Reich" erkennt Osterkamp hier, aber es kommt auf das an, was der Seher hört: Das Heilige römische Reich war ein Reich deutscher Nation, zu deutsch: deutscher Zunge.

In einer früheren Strophe ist freilich vom Blut die Rede. Dieses Leitmotiv möchte Osterkamp bei jedem Vorkommen im Band im Sinne des "Biologismus" der Zeit ausgelegt wissen. Auch hier macht er fahrlässigen Gebrauch von einem wissenschaftlich festgelegten Begriff. Georges Ablehnung jedes Entwicklungsdenkens, die Osterkamp selbst herausstellt, spricht dagegen, ihn dem vulgärwissenschaftlichen Determinismus zuzuschlagen. Man wird das Blut zunächst als Symbol der Lebenskraft und des Adels zu verstehen haben.

Es befremdet, dass die Auseinandersetzung mit abweichenden Interpretationen unterbleibt. Friedmar Apel hat in einem von Osterkamp zitierten Band darauf hingewiesen, dass Goethe in "Goethes letzte Nacht in Italien" durch das deutschtümelnde Kritikerzitat "Hellas' lotus liess ihn die heimat vergessen" mit Odysseus identifiziert wird. "So ist der Blick des Dichters als einer bestimmt, der erst im Durchgang durch das Fremde zum Eigenen kommt." Auf den siebenundfünfzig Seiten, die Osterkamp dem Gedicht widmet, geht er auf die Odysseus-Parallele nicht ein.

Stattdessen will er belegen, dass George als Goethe nicht wie Goethe spreche. In dem Vers "Hier ward erst mensch der hier wiederbegonnen als kind" ersetze George den "pietistischen Wiedergeburtstopos, der für die Goethesche Italienerfahrung von zentraler Bedeutung ist, durch den neutralen Begriff des Wiederbeginns". Seltsam nur, dass im Hyperion-Kapitel derselbe pietistische Topos mit dem Hölderlin-Zitat "als wäre die alte Welt gestorben und eine neue begönne" illustriert wird, das auch nach Osterkamp vom echten Hölderlin und nicht von George stammt.

1998 edierte Osterkamp aus dem Nachlass Rudolf Borchardts die "Aufzeichnung Stefan George betreffend". Im Rückblick wirkt es kurios, dass der Herausgeber versicherte, es handele sich um eine Schrift über Borchardt, nicht über George. Borchardt betrieb dort Philologie als Dämonologie, nahm aber viele Thesen Osterkamps vorweg, so zur Transzendenzlosigkeit der von George gestifteten Religion, zur Abhängigkeit der poetischen Formen von der privatreligiösen Funktion. Schlagend die Wendung dieses Gedankens ins Typologische: "Seine Lyrik wurde in diesem Sinne nur zu einem Koran." Die blasse Variante bei Osterkamp: die durch Wiederholung entkräftete Botschaft als Mantra.

Borchardt entzauberte Georges Reich als die Alltagsphantasiewelt des Infantilismus. "Auf welches Stück Geographie sich diese Träume niederlassen sollten, um sich ihre buchstäbliche Verwirklichung zu erzwingen, war für ihre Autarkie nicht erheblich." Das immerhin beweist Osterkamps vergeblicher Versuch, aus dem "Neuen Reich" von 1928 das neue Reich von 1933 herauszulesen.

Ernst Osterkamp: "Poesie der leeren Mitte". Stefan Georges Neues Reich. Edition Akzente. Hanser Verlag, München 2010. 292 S., br., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2010

„Als sieger dring ich einst in euer hirn – Ich der verscharrte“
Niemandem glauben, der nicht von der Dichtung spricht: Ernst Osterkamp deutet Stefan Georges letzten, unheimlichen Band „Das Neue Reich“
„Stefan Georges Wirkung ist – wer wollte das bezweifeln – am ,Nullpunkt der Öffentlichkeit’ angelangt“ – so begann vor 35 Jahren ein deutscher Germanist seine Untersuchung zu Gedichten Georges. Das hat sich seither, aber eigentlich erst in den letzten Jahren, grundsätzlich geändert. Mustert man allerdings die wichtigeren Untersuchungen der jüngsten Zeit, dann fällt auf (Ernst Osterkamp diagnostiziert dies in der Einleitung seines neuen Buches über die Lyrik des späten George), dass es vornehmlich Untersuchungen über die Wirkungen und Nachwirkungen Georges sind, über die Politik des Unpolitischen, den ästhetischen Fundamentalismus und die Einflüsse auf die Bildungsinstitutionen. Schließlich haben in der letzten Zeit zwei gewichtige Bücher, die Biographie Thomas Karlaufs und die Geschichte der Verlaufs- und Verfallsformen des George-Kreises nach dem Tod des „Meisters“, die Ulrich Raulff vorgelegt hat, das Interesse an George in nicht vorauszusehendem Maße gesteigert.
Apropos Meister: die Ähnlichkeit des Machtwillens auf Seiten Georges mit dem auf Seiten Richard Wagners, die Ähnlichkeit der beiden Kreise, hat keiner so bös- und kaltblickend zugleich offengelegt wie Rudolf Borchardt in einem Text, der um die Mitte der 30er Jahre entstand, aber erst 1998 von Ernst Osterkamp veröffentlicht wurde, ein Text, „Aufzeichnung Stefan George betreffend" heißt er, der seinen Rang als die schäumendste Polemik der deutschen Geistesgeschichte wohl kaum verlieren dürfte.
Das geradezu verblüffende Neuinteresse der letzten Jahre war und ist jedoch auffallenderweise nicht gekoppelt an ein an Publikationen ablesbares gleichwertiges Interesse an Georges Dichtung. Es wäre gewiss interessant, einmal die Auflagezahl des Buches von Karlauf zu vergleichen mit der der Auswahl aus den Gedichten Georges, die Ernst Osterkamp vor fünf Jahren vorgelegt hat. Man darf sicher sein: das Interesse an der Biographie Georges übersteigt heutzutage das an seinen Gedichten um ein Vielfaches. Eine gewisse Absurdität kann man dieser Situation wohl zusprechen. Im Fall Georges kommt das erstaunlich viele Zeitgenossen interessierende Thema der Homosexualität Georges und eines Teils seines Kreises hinzu, das Thema der Knabenliebe im nicht nur antiken Sinne, der Päderastie, wie es seinerzeit hieß, um sich abzugrenzen gegen Pädophilie und „bloße“ Homosexualität. Demgegenüber ist festzuhalten: das Zentrum von Georges enormerWirkung war nicht die Päderastie, sondern waren der Zauber, die Magie seiner Verse, eigentlich eine Feststellung von großer Selbstverständlichkeit, sollte man denken, die aber zunehmend neben stärkeren Reizen verblasste.
Ernst Osterkamp stemmt sich mit seinem Buch gegen diese Entwicklung. Sein Buch sieht auf den ersten Blick etwas ehrgeizlos aus. Nichts wäre dem, der einen Pfad durch Georges Werk zu betreten gewillt ist, willkommener gewesen, als ein erneuter Versuch, das Gesamtwerk kommentierend und interpretierend aufzuarbeiten. Die letzten Erkundungen in diese Richtung haben bereits Patina angesetzt: Claude Davids französische Darstellung aus dem Geist der Germanistik der 50er Jahre, immer noch verdienstvoll, und Ernst Morwitz’ Werkkommentar von 1960, hilfreich durchaus, aber das Siegel des Kreises auf der Stirn nicht verbergen könnend. Osterkamp geht einen anderen Weg und einen intrikateren. Er beschäftigt sich mit Georges letztem Gedichtband von 1928 „Das Neue Reich“, der im Rahmen der Gesamtausgabe erschien. Und auch dort nimmt er sich nur vier Gedichte vor: „Der Gehenkte“, „Goethes lezte Nacht in Italien“, „Hyperion“ und „An die Kinder des Meeres“, andere des Bandes allerdings immer miteinbeziehend.
Der ursprüngliche Plan war, alle Gedichte des „Neuen Reichs“ in der gleichen Einläßlichkeit zu behandeln. Osterkamp verzichtet darauf, nicht nur, aber auch, „weil dessen Ausführung an den Leser Zumutungen gestellt hätte, für die der Lohn nicht reich genug ausgefallen wäre“. Ganz mögen wir’s nicht glauben, dass es sich nicht gelohnt hätte, dafür spricht die Qualität der Untersuchung selbst, aber zuzugeben ist, dass die wenigen Motivkomplexe und Ideenwolken des Bandes dann doch überschaubar bleiben.
Sich das „Neue Reich“ in penibler Lektüre vorzunehmen, ist ein kühnes Unterfangen, denn von allen Georgeschen Gedichtbänden hat dieser schon bei den Zeitgenossen den sprödesten Widerhall hervorgerufen. Dieser Band und der 15 Jahre zuvor erschienene vorangehende „Der Stern des Bundes“ wurden „primär als Medien einer esoterischen Geheimlehre und jedenfalls kaum noch als autonome Poesie“ gelesen, wie Osterkamp feststellt. Der ästhetizistische George des Frühwerks war damals durchaus noch lebendig, allerdings bei einer klein gewordenen Schar von Lesern.
Es darf nicht vergessen werden, dass der George der Weimarer Republik ein quasi Entrückter war – erst zehn Jahre nach ihrem Beginn erscheint der erste und zugleich letzte Band dieser Epoche aus seiner Hand, und dann auch noch mit Gedichten aufgefüllt, die zum Teil bereits an verschiedenen Orten erschienen waren oder deutlich früher entstanden waren, als das Erscheinungsdatum anzuzeigen schien. Und dann auch noch der Titel. Das „Neue Reich“, fünf Jahre bevor das „Dritte“ sich etablierte, das musste zu Überlegungen Anlass geben, zumal wenn es Gedichte enthielt wie „Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg“ und „Das Geheime Deutschland“.
Inwieweit verband sich Georges Führungswille, ja Herrschaftswille, den Theodor W. Adorno in eine Tradition stellte, der auch Wagner angehörte und die in Hitler grauenhaft in Politik umschlug, mit dem neuen „Geist“? Wir wissen, dass der George-Kreis alle Facetten aufweist, die als Reaktion auf die Ankunft Hitlers denk- und sichtbar waren: da gab es die Georgeanhänger, wie Wolfskehl, die auf Grund ihrer „rassischen“ Verknüpfungen von vornherein von der Mitarbeit an diesem Neuen Dritten Reich ausgeschlossen waren, da gab es die wie Stauffenberg, die zunächst dem angeblich Neuen keineswegs ablehnend gegenüberstanden, dann jedoch zu Säulen des Widerstandes wurden, es gab jene, die begeisterte Nazis wurden und jene, wie Max Kommerell, die kopfschüttelnd sich abwandten, auch wenn sie einst über den Dichter als Führer in der deutschen Klassik geschrieben hatten.
Und George selbst? Sein „Glück“ war, dass er sich weise oder verschlagen, wie man es sehen mag, von dezidierten politischen Stellungnahmen sein Leben lang (Pöbel und Bourgeois gleichermaßen verabscheuend) fern gehalten hat. Sein „Pech“ ist, dass sich ein Briefentwurf erhalten hat, der als Antwort auf Avancen gedacht war, die die NS-Regierung Anfang Mai 1933 George zutrug, noch vor seiner Reise in die Schweiz, die man Emigration zu nennen sich scheut, und wenige Monate vor seinem Tod. George antwortete darauf, dass er die „Ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung“ durchaus nicht leugne und auch seine „geistige Mitwirkung“ nicht beiseite schiebe.
Das war klar genug, blieb den Zeitgenossen allerdings verborgen. Wer jedoch den ideologischen Weg Georges und seines Kreises verfolgt hatte, der konnte sich über diesen Kontext nicht wirklich verwundern. Hierher gehört jener oft zitierte Satz Walter Benjamins in einem Brief an den Freund Scholem vom Juni 1933: „Wenn jemals Gott einen Propheten durch Erfüllung seiner Prophetie geschlagen hat, so ist es bei George der Fall gewesen.“ Der George-Biograph Karlauf verkennt die Bedeutung dieses Satzes gravierend, wenn er sie auf eine dunkle Kriegsvorahnung Benjamins bezieht. Völlig unzweideutig ist doch aber, dass Benjamin – und nicht nur er – Hitler und das „Dritte Reich“ als die Erfüllung der Prophetie, nicht zuletzt jener, die im „Neuen Reich“ beschworen wird, angesehen hat. Scholem hat dies ganz deutlich verstanden, als er wenig später sich auf eine Rezension Benjamins über neue Georgeliteratur beziehend sagt, dass genau hier „und nirgends anders der Hund des dritten Reichs begraben“ liegt. Da muss man gar nicht zusätzlich auf Joseph Goebbels’ durch den Professor Gundolf angeregte George-Lektüre des Jahres 1920 rekurrieren.
Ernst Osterkamps Methode nennt er selbst mikrophilologisch. In einer Zeit, da die Germanistik alles andere ist, jedoch kaum noch Philologie, schon gar nicht „mikro“, zeugt das von einem gewissen Mut, und der Mut wird belohnt dadurch, dass wir hier eine ebenso nüchterne wie risikofreudige Analyse jenes George-Werks vor uns haben, das bisher in der nicht wenig umfangreichen George-Literatur entweder nicht beachtet, oder schamhaft umgangen, oder nur beklommen nachbuchstabiert wurde, ohne die prekärsten Fragen, die sich dem Leser stellen, auch nur in den Blick zu nehmen. Zunächst beschäftigt sich das Buch mit einem der wenigen Gedichte des Bandes, die nicht schon vorher bekannt waren: „Der Gehenkte“ (die Gedichte selbst sind jedem Kapitel vorangestellt). Osterkamp kann zeigen, wie das permanente Rollenspiel Georges, der sich in diesem Gedichtband als Goethe, Hölderlin, ja als Christus selbst zum Verweser eines Neuen Reiches stilisiert, hier mit einem Verwesten beginnt, einem Gehenkten, der seine triumphale Rückkunft als Gott inszeniert und den „starren balken“ zum „rad“ umbiegen wird – der Interpret verweist einleuchtend darauf, dass hinter dem Rad die Swastika steht, das Hakenkreuz-Symbol, das das Signet der Publikationen des George-Kreises war. Georges Neues Reich ist ein Reich der wiederkehrenden Toten.
Der Gott dieses Neuen Reiches ist „Maximin“, auch er ein Toter, jener harmlose, knabenhaft dichtende Münchner Gymnasiast Maximilian Kronberger, der 1904 starb und den George nur ein gutes Jahr kannte, dann jedoch zum Gegenstand eines Kultes machte, dem man ebenso beklemmende wie widerwärtige Züge attestieren muss, widerwärtig nicht wegen der päderastischen Grundschwingung, die nicht zu übersehen ist, sondern wegen der Unterwerfungsgeste, die George nach Maximins Tod von jenen forderte, die dem sich allmählich auf der Landkarte des Kreises herausbildenden Reich des Geheimen Deutschlands angehören wollten, besser gesagt, zum Dienst daran berufen wurden.
Im Goethe-Gedicht des „Neuen Reiches“, das Georges Band eröffnet, geht der Dichter noch einen Schritt weiter, obwohl er sich hier nicht in die Rolle eines gehenkten Mörders begibt, sondern „nur“ in die Goethes – die Anmaßung ist aber eine noch größere. Goethe wird, wie schon früher als Stifterfigur der neuen Privatreligion Georges zugelassen, die dann die eines wiedergeborenen Deutschlands, eben des Neuen Reiches werden soll. Mit grenzenloser Arroganz biegt George sich Goethe um, wie der Gehenkte den starren Balken zum Rad umbog. Gönnerhaft hat er ihm gelegentlich attestiert, ein schwacher Dramatiker, aber ein bedeutender Lyriker gewesen zu sein (von der Weltliteratur kannte George eine Menge, aber die immer nur in kleinen Ausschnitten, die seiner Vorstellung von hoher Dichtung entgegenkamen). Ganz klar wird: das Jahrhundert Goethes mag bedeutend gewesen sein, jetzt aber ist das Jahrhundert Georges auf dem Plan, das Neue Reich, es ist schon da, epiphanisch gleichsam, und es materialisiert sich im dichterischen Werk seines Verkünders. Das humanistische Italien war einmal, jetzt ist die Epoche des neuen, geheimen Deutschland angebrochen, hier ist der Ort der Totalerneuerung, für die Goethe nur eine Art Johannes der Täufer war.
Gnosis und Messianismus vermischen sich im ganzen Gedichtband auf eine problematische Weise. Durch Osterkamps luzide Interpretation wird der herrische Überbietungsgestus dieses Gedichts offenkundig, das sich bei einer ersten Lektüre keineswegs spontan erschließt – aber Georges Gedichte waren nie nur zu einer einmaligen, gar flüchtigen Lektüre gedacht, sondern immer zur mantraartigen Wiederholung und zum hierophantischen Weihevortrag. Bedenklicher noch: auch „Volk“ und „Blut“ spielen bereits hier eine bestimmte Rolle als Fermente einer nationalen Erlösungsphantasie. Augenblick und Plötzlichkeit, Herrschaft und Dienst – altvertraute georgianische Vokabeln werden in diesem letzten Band nochmals beschworen und versuchsweise neu orchestriert, deutlicher aber als je zuvor stehen sie im Dienst einer absoluten Verwerfung der Jetztzeit, der Moderne, natürlich auch der Demokratie, der politischen Mitte, in der der Bürger wohnt, den George haßte – dass dem Bürger nach 1918 so einiges an positionierender Macht abhanden gekommen war, hatte George, der vazierende Bohemien-Prophet, nicht wirklich realisiert. Und auch der tief wurzelnden Frauenverachtung des „Meisters“ widmet Osterkamp ein erhellendes Kapitel seines Buches.
Immer tiefer gräbt sich George in seine Vorstellungen hinein, ob im Hölderlin-Gedicht oder bei den „Kindern des Meeres“, und Osterkamp gräbt ihm hinterdrein. Man merkt dem Buch gelegentlich an, dass das Graben ihm zunehmend eine Bürde wird, aber er lässt nicht locker. Hier stellt sich ein Forscher, der sich lange und inständig mit George beschäftigt hat, jenem letzten Werk, das für jeden Verehrer des Gesamtwerkes kaum mehr als Zumutungen, wenn auch der faszinierenden Art, bereithält. Man vermeint zwischen den Zeilen zu spüren, dass es dem Interpreten lieber gewesen wäre, ein zumindest Licht und Schatten klüglich verteilendes Buch schreiben zu dürfen, aber das war nicht möglich. Man fühlt sich an Karl Kraus’ Wort über Lichtenberg erinnert: „Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner, aber er kommt nicht wieder hinauf. Er redet unter der Erde. Nur wer selbst tief gräbt, hört ihn.“ Osterkamp hört George sehr gut, er versteht ihn nur allzu gut, aber er kommt wieder nach oben und teilt dem befremdet gebannten Leser mit, was er da unten vernommen hat, und das verheißt nichts Gutes: „er heftet/ Das wahre sinnbild auf das völkische banner/ Er führt durch sturm und grausige signale/ Des frührots seiner treuen schar zum werk/ Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.“
Sind das überhaupt noch ästhetisch akzeptable Gedichte? Rudolf Borchardt sprach von „mäßigen Verkalkungsgedichten“, und wenn man sich Photographien Georges rund um seinen 60. Geburtstag anschaut, dann wird man einen Greis vor sich sehen. Auch Osterkamp spricht einmal, auf bestimmte Verse abzielend, von „poetischer Sklerose“, aber er gibt schon zu Beginn seiner Untersuchung zu bedenken, dass George hier genau die Gedichte geschrieben und veröffentlicht hat, die er schreiben wollte, und dies in der poetischen Formung, die er für angemessen hielt. Auch wenn er äußerlich ein sehr alter Mann war, war er alles andere als verkalkt, als dieser Band erschien, abgesehen davon, dass die meisten der Gedichte seinen „besten Jahren“ entstammen. Theodor W. Adorno hat sich einmal Gedanken gemacht, welche Gedichte Georges er, hätte er eine Auswahl zu treffen, aufnehmen würde – es bleibt fast nichts übrig für eine Auswahl, die dann auch nie erschienen ist. Erschienen ist jedoch in Adornos Blütenlese ein Band mit Gedichten Rudolf Borchardts – und in der Tat: so prekär gerade der späte George uns geworden ist (und Osterkamps Untersuchung steigert das Prekäre ins Unangenehme), so vital ist der Lyriker Borchardt uns Heutigen, wenn wir ihn denn lesen. Adornos Wort über Borchardt ins Negative abwandelnd, müsste man über den späten George sagen: „Der die Sprache beschwor, bis sie klirrend zu zerspringen drohte, dem hat sie das Echo versagt“.
Ernst Osterkamp ist etwas Bedeutendes gelungen: er hat sich einer Dichtung gestellt, um die seit jeher ein großer Bogen gemacht wurde, und er hat sich in seiner Beurteilung nicht durch die Dünung der aktuellen George-Welle beirren lassen. Das Beklemmende, ja Unheimliche am „Neuen Reich“ ist, dass mit den immer noch vorhandenen virtuosen Mitteln des Sprachmagiers George nunmehr unverstellter als früher, wenn man die hermetische Außenschicht durchdrungen hatte, Ideologeme den gläubig Lauschenden verkündet wurden, die allerdings die „Ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung“ nicht verleugnen. Es sind keine Prä-NS-Gedichte, keineswegs, aber es sind Aussaatgedichte, unbezweifelbar. Wie weit und breit ihre Wirkung war, tut dabei nichts zur Sache. Wer sich davon lösen wollte unter den Adepten, musste, wie Stauffenberg, schon allein dadurch eine gewaltige Leistung vollbringen.
Osterkamps Buch hält den Basiliskenblick Georges (dessen Anhänger lieber vom „Löwenblick“ sprachen) aus und bleibt klar, nüchtern, auch stilistisch federnd und lichtdurchflutet. Er hat einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis der Rolle Stefan Georges im deutschen 20. Jahrhundert geliefert, auf dem Weg, auf dem man Dichter zunächst und vor allem prüfen und messen sollte: auf dem der Interpretation ihrer Gedichte.
JENS MALTE FISCHER
ERNST OSTERKAMP: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich. Carl Hanser Verlag, München 2010. 292 Seiten, 19,90 Euro.
Diese Verse wurden vor allem als
Medium einer esoterischen
Geheimlehre gelesen
„Reiss mich an deinen rand /
Abgrund –
doch wirre mich nicht!“
Es sind keine Prä-NS-Gedichte,
keineswegs, aber es sind
Aussaatgedichte.
Stefan George verlässt am 8. Juli 1933 zum letzten Mal das Elternhaus in Bingen. Am 12. Juli feierte er seinen 65. Geburtstag, blieb, wie immer sich entziehend, offiziellen Festlichkeiten aber fern. Foto: akg-images
„Du schlank und rein wie eine flamme / Du wie der morgen zart und licht / Du blühend reis vom edlen stamme / Du wie ein quell geheim und schlicht . . . “
Auch diese Verse, die Stefan George (1868-1933) schrieb, nachdem ein Jünger 1916 Selbstmord begangen hatte, wurden in seinen letzten Gedichtband, „Das Neue Reich“ (1928) aufgenommen. Sie kommen ohne herrische Überbietung aus.
Foto: Karger-Decker/Interfoto
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Seit ein paar Jahren ist der Dichter-Seher Stefan George, lange Zeit doch eher demodiert, wieder in aller Munde. Scheinbar, so Manfred Koch, springt der in Berlin lebende Germanist Ernst Osterkamp da mit seinem neuen Buch auf einen fahrenden Zug auf. Das aber täuscht. Denn gerade um den (zu nicht geringem Teil selbstgeschaffenen) Mythos George und den Männerbund um ihn herum soll es hier nicht gehen. Sondern: um den Dichter. Kein Problem im Prinzip, meint Koch, der allerdings nicht versteht, warum Osterkamp sich dann ausgerechnet auf den literarisch schwachen Gedichtband "Das Neue Reich" konzentriert. Die Rehabilitation gelinge so jedenfalls nicht. Aufschlussreich ist das Buch in seinen präzisen und teils "beeindruckenden" Einzelanalysen für den Rezensenten dennoch: die "ideologiekritische" Durchleuchtung des Dichters gelinge Osterkamp nämlich, möglicherweise gegen seinen eigenen Willen, ganz ausgezeichnet.

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"Osterkamps Buch hält den Basiliskenblick Georges aus und bleibt klar, nüchtern, auch stilistisch federnd und lichtdurchflutet. Er hat einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis der Rolle Stefan Georges im deutschen 20. Jahrhundert geliefert, auf dem Weg, auf dem man Dichter zunächst und vor allem prüfen und messen sollte: auf dem der Interpretation ihrer Gedichte." Jens Malte Fischer, Süddeutsche Zeitung, 25.05.10

"Was Osterkamp (...) vorzüglich leistet, ist die ideologische Deutung von Georges Spätwerk, die zugleich verständlich macht, warum seine Verse heute, da der kultische Kontext weggefallen ist, nicht mehr überzeugen." Manfred Koch, Neue Zürcher Zeitung, 10.07.2010