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Als W.G. Sebald im Winter 2001 bei einem Autounfall starb, war er als einer der bedeutendsten Prosaautoren deutscher Sprache weltweit berühmt. Nur Kenner aber wussten, dass Sebald seit vielen Jahren auch Gedichte schrieb und in Zeitschriften veröffentlichte. Gedichte von eigentümlicher Kraft, die um die Themen seines Lebens kreisen: um Natur und Geschichte, um Vergessen und Erinnerung. Nun erscheint zum ersten Mal ein Sammelband, der Sebalds Lyrik in chronologischer Folge einem größeren Publikum vorstellt und damit eine neue Seite seines Werks endlich sichtbar macht.

Produktbeschreibung
Als W.G. Sebald im Winter 2001 bei einem Autounfall starb, war er als einer der bedeutendsten Prosaautoren deutscher Sprache weltweit berühmt. Nur Kenner aber wussten, dass Sebald seit vielen Jahren auch Gedichte schrieb und in Zeitschriften veröffentlichte. Gedichte von eigentümlicher Kraft, die um die Themen seines Lebens kreisen: um Natur und Geschichte, um Vergessen und Erinnerung. Nun erscheint zum ersten Mal ein Sammelband, der Sebalds Lyrik in chronologischer Folge einem größeren Publikum vorstellt und damit eine neue Seite seines Werks endlich sichtbar macht.
Autorenporträt
W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach, starb 2001 in England. Bei Hanser erschienen zuletzt Luftkrieg und Literatur (1999), Austerlitz (Roman, 2001), Unerzählt (2003, mit Bildern von Jan Peter Tripp), Campo Santo (2003) und Über das Land und das Wasser (2008).
Rezensionen
"Eine Entdeckung: Der große Prosaschriftsteller W.G. Sebald hat Gedichte geschrieben." Andreas Isenschmid, Die Zeit, 06.11.08

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.09.2008

Aus dem Leben eines Geisterjägers
Beängstigend dichte Beziehungsnetze: Ausstellungen in Stuttgart und Marbach und ein Gedichtband aus dem Nachlass erinnern an W.G. Sebald
Wer W.G. Sebald nie erlebt hat und sich anhand der überlieferten Fotos ein Bild von ihm machen möchte, dem wird es trotz Sebalds durchaus stattlicher Statur – er war 1,84 m groß – einigermaßen schwer fallen, ihn sich verbindlich vorzustellen. Wenn Sebald als Dreißig- oder Vierzigjähriger noch einigermaßen kernig und handfest erscheint, so verwischen sich spätestens mit beginnender Ergrauung allmählich die Konturen, werden weich und durchlässig: Der einst beachtliche Schnauzer ähnelt nun eher einem müden Busch, die Tönung der Haut geht zurück, der Blick wird sanfter, ungreifbar fast. Nicht zufällig wandelt zu genau dieser Zeit der Gelehrte Sebald sich zum Schriftsteller, wird der Literaturprofessor selbst zu Literatur.
Es muss um das Jahr 1980 herum gewesen sein. Bis dato hatte Winfried Georg Sebald, 1944 im Allgäu geboren und seit Mitte der sechziger Jahre in England lebend, zwar einige Gedichte und sogar einen bis heute unveröffentlichten Roman geschrieben, in seinem Selbstverständnis aber war er wohl vor allem Dozent für deutsche Literatur in Norwich. Norwich war damals eine Art Reformuniversität, ein Kind von 68. Die Dozentenschaft war jung, engagiert und links, und zu den Studenten wurde ein offeneres Verhältnis gepflegt als es zu Sebalds eigener Studentenzeit in Freiburg der Fall war. Dann aber gewann Margaret Thatcher die Wahlen und ein anderer Geist zog in die Universitäten ein, einer, der auch den Rechenschieber zu bedienen wusste. Die Luft wurde wieder dünner.
Dies allein aber war nicht der Grund für Sebalds Wandlung, auch wenn manche Interpreten eine Stimmung in seinen Werken wittern, die sie als „linke Melancholie” bezeichnen. Nein, die Wandlung vollzog sich auch auf einer tieferen Ebene. Schrieb Sebald bis dahin über Peter Handke oder Peter Weiss wie man an Universitäten einen Gegenstand eben abzuhandeln pflegt, so begann er nun, über Schriftsteller zu schreiben, als wären sie Teil seiner selbst. Und nicht nur das: Sein ganzes Verhältnis zur Außenwelt schien ins Wanken zu geraten, Wetterlagen begannen, ihn auf seltsame Weise zu bewegen, Landschaften, sich unter seinen Augen in lebendige Wesen zu verwandeln, ja sogar die Zeit änderte ihre Natur, schien plötzlich durchlässig zu werden.
Es war nicht mehr nur die Gegenwart, die über die Vergangenheit hinwegrollte, wie sie wollte, die Vergangenheit brach plötzlich auch unversehens in die Gegenwart ein. Und mit ihr traten Gestalten in Sebalds Leben, denen er fortan seine Stimme leihen sollte. Es sind dies nicht nur die großen Toten wie Kafka, Stendhal oder Thomas Browne, auch die Nebenfiguren der Geschichte weckten seine Aufmerksamkeit, die vier „Ausgewanderten” zum Beispiel oder jene Betty B., die einer „Lieben Mrs. Winn” auf einer Postkarte von ihren Ferien in Stuttgart berichtet: die Leute seien sehr nett, im Kino sei sie gewesen, auf einer Geburtstagsparty und sogar ein Sonnenbad habe sie genommen. Nicht zu vergessen das nette Fest der Hitlerjugend.
Die Postkarte trägt den Stempel vom 10.8.39. Auf der Bildseite sind vier „Hochbauten in Stuttgart” zu sehen. Sebald hat, wie es scheint, diese Karte aus seinem Fundus gesucht, als er an seiner Rede zur „Eröffnung eines Stuttgarter Hauses” arbeitete. Mit Stuttgart verband Sebald eigentlich wenig, aber allein, dass sich diese Postkarte, wie so viele der Bilder und Karten, die er auf Flohmärkten kaufte oder von Freunden gesandt bekam, in seinem Besitz befand, band ihn an jene ferne Vergangenheit einer Sommerfrische im Schwäbischen. Und so folgte er Ende 2001, wenige Wochen vor seinem Unfalltod, der Einladung Florian Höllerers, das Stuttgarter Literaturhaus mit einer Rede zu eröffnen. „Zerstreute Reminiszenzen” nannte er die Rede, und unter diesem Titel ist nun auch eine Ausstellung zu Sebald in Höllerers Literaturhaus zu sehen.
Zu Recht hatte man die Eröffnungsfeier am Montagabend in die Stuttgarter Reithalle verlegt, denn tatsächlich hätte das Literaturhaus selbst die in die Hunderte gehenden Interessierten kaum fassen können. Der Andrang sprach für sich selbst, doch wie so häufig wurde die Bedeutung Sebalds über Gebühr betont. Als Ausweis für seine weltliterarische Statur galten Florian Höllerer in seiner Begrüßung vor allem Zeugnisse aus den Vereinigten Staaten. Als schlagendster Beweis für die Eminenz des Sebald‘schen Schaffens diente der Umstand, dass man bei CNN kurz nach dem Einsturz des World Trade Center ein Zitat aus Sebalds Roman „Austerlitz” zur Hand hatte, wenig tröstende Sätze über die den Dingen von vornherein eingeschriebene Vergänglichkeit. Auch Daniel Kehlmann, der in der Folge mit Mark M. Anderson von der Columbia-Universität über Sebald und sein Werk sprach, wurde nicht müde, die Ignoranz des deutschen Publikums und die Dummheit der hiesigen Literaturkritik zu geißeln: Schließlich hatten die einen den laut Kehlmann größten Autor seiner Zeit beim Bachmann-Wettbewerb 1990 leer ausgehen lassen, die anderen ihn bis zu seinem Tod kaum wahrgenommen.
Sobald das Land oder Ländle genug beschimpft war, rührten Kehlmann und Anderson, der an einem biographischen Essay über den Schriftsteller arbeitet, mit Verve ein buntes Sebald-Potpourri an. Um die zwei Sebalds ging es da, den englischen und den deutschen, um Sebalds Fähigkeit, sich seinen Figuren anzuverwandeln, um sein Understatement und sein Gefühl fürs Bizarre, um die „schwingende Schönheit seiner Sätze” und das Motiv des Holocausts, jenes „verdrängten” Genozids, der bei Sebald, wenn er auch ständig präsent ist, so doch nie konkret beschrieben wird. In einem Sebald-Interview, das Kehlmann gegen Ende einspielte, sprach jener selbst von der Notwendigkeit , den Leser nicht einfach direkt anzuspringen, sondern über Bande zu spielen.
So fühlt man sich durch die Prosa Sebalds auch eher auf eine Art Umlaufbahn gezogen, hinein ein Gravitationsfeld, dessen Zentrum immer näher rückt, je länger man liest. Vielleicht auch, weil Sebald es versteht, immer eine gewisse Distanz beizubehalten, entgeht seine Prosa dabei der Gefahr, sentimental zu werden. Zweifellos wirkt sie manchmal etwas betulich – Nietzsche hätte sie bestimmt verabscheut –, behauptet aber eine Spannung, durch die sie niemals ins Gefällige abgleitet. Ganz im Gegenteil. Zuweilen geht diese Spannung in ein nervöses Flirren über, als würden die Sätze sich von innen heraus zersetzen.
Sebalds Prosa arbeitet nah an der Auflösung. Die langen Perioden wirken zuweilen wie von einem inneren Feuer getrieben, dessen Flamme immer heißer und heißer wird bis sie schließlich so durchsichtig scheint, als wäre sie längst schon verloschen. Mag Sebald damit auch einen Zustand der „claritas” ansteuern (er selbst zitiert dieses Wort Thomas von Aquins), Gewissheiten bleiben am Ende keine: „Auf die Frage, in welcher Form einem die toten Geister erschienen und ob man unter ihnen auch toten Verwandten und Freunden begegne, sagte Cesari, auf den ersten Blick sähen sie aus wir normale Leute, aber sowie man genauer hinschaue, verwischten sich ihre Gesichter und flackerten an den Rändern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film.”
Einen Geisterjäger könnte man Sebald nennen. Betty B. ist einer dieser Geister. Ihre Postkarte hängt in der Stuttgarter Ausstellung neben anderen Dokumenten aus dem Zusammenhang von Sebalds Eröffnungsrede. Dazu gehört neben den Bildern und Radierungen des mit Sebald befreundeten Malers Jan Peter Tripp auch die Schülerzeitung „Wecker”, in der Sebald 1962 über Camus und das neue Algerien schrieb. Das edel gestaltete Begleitbuch zur Ausstellung (W. G. Sebald: Zerstreute Reminiszenzen. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2008. 34 S., 16 Euro) wartet mit einem Miniatur-Nachdruck der Zeitung und einer Kopie der Postkarte Betty B.s auf.
Man kann „Zerstreute Reminiszenzen” als Vorgeschmack auf die große Sebald-Ausstellung betrachten, die von diesem Freitag an im Marbacher Literaturmuseum der Moderne zu sehen ist. Unter dem Titel „Wandernde Schatten” zeigt sie einmal mehr und in aller Deutlichkeit, wie sehr Sebalds Werk durchgeistert ist von Figuren der Vergangenheit, wie die Literatur anderer darin zu neuem Leben erwacht, wie bestimmte Motive mitunter geradezu spukhaft ihr Unwesen treiben in diesen Mischformen aus Reisebericht, Biographie und Roman. Schon der Vorraum der Ausstellung zeigt die Schwierigkeit, die sogenannte Realien bereiten, sobald Sebald sie einmal in der Hand gehabt hat: Unter der Hand nämlich war ihm seit Anfang der achtziger Jahre alles zu Literatur geworden: Ob Bücher, Brillen oder Tragetaschen, sie alle haben Eingang gefunden in dieses quantitativ doch recht überschaubare Werk. Der Hauptraum macht diese wechselseitige Durchdringung von Fantasie und Wirklichkeit vollends deutlich. In Glasvitrinen mit bis zu sechs Fächern lagern sich wie geologische Schichten verschiedene Ebenen des Textes ab. Zuoberst liegt aufgeschlagen immer das veröffentlichte Buch, darunter in verschiedenen Stufen die Quellen und möglichen Referenzen bestimmter Stellen.
So ist in einer der Vitrinen zum Reisebuch „Ringe des Saturn” eine Stelle markiert, in der Sebald von Bäumen berichtet, die Chateaubriand einst gepflanzt hat. Sebald selbst sieht man vor einer Zeder im südenglischen Ditchingham. Darunter liegt eine Nabokov-Biographie, auf deren Umschlag Birken zu sehen sind; darunter ein Band Peter Handkes, in dem Sebald eine Baum-Stelle angestrichen hat; daneben liegen Bestimmungsbücher aus seinem Besitz und eine Fotografie, die seinen Freund Michael Hamburger vor einem Maulbeerbaum zeigt.
Doch damit nicht genug: der Betrachter erinnert sich eines Chateaubriand-Buches in einer der „Austerlitz”-Vitrinen, in das ein Beipackzettel zu einem pflanzlichen (!) Antidepressivum eingelegt ist usw. Mögen manche Bezüge auf den ersten Blick allzu beliebig erscheinen, andere allzu offensichtlich, so ergibt sich im Ganzen doch ein fast beängstigend dichtes Beziehungs-Netz. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die Art der Präsentation: Nicht nur die Vitrinen, auch die überall angebrachten Spiegel sorgen dafür, dass man denkt, es mit einem Werk aus tausend Augen zu tun zu haben. Hier werden nicht einfach bloß Quellen offen gelegt, Sebalds ganzer Denk- und Bildraum entfaltet sich. Aber auch mancher Mangel, etwa das Fehlen von Frauengestalten in seinem Werk, tritt zu Tage.
Der wohlfeile Katalog zur Ausstellung arrangiert einige der Objekte noch einmal neu und bietet neben manch interessantem Aufsatz einen ganz besonderem Schatz: Sebalds verworfenen Entwurf eines Korsika-Buches (Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt. Hg. v. Ulrich von Bülow, Heike Gfrereis, Ellen Strittmatter. Marbacher Katalog 62. 238 S., 20 Euro). Erschienen ist außerdem ein Band mit Gedichten aus dem Nachlass (W.G. Sebald: Über das Land und das Wasser. Hg. v. Sven Meyer. Carl Hanser Verlag, München 2008. 120 S., 14,90 Euro). Die Verse aus vier Jahrzehnten allerdings zeigen, dass Sebald – obwohl er 1988, 44jährig, als Lyriker debütierte – mit Haut und Haaren Prosaautor war. Es sind Gelegenheitsgedichte, gefällige Zeilen, im Bahnhofswartesaal entstanden: „Schwer zu verstehen/ ist nämlich die Landschaft,/ wenn du im D-Zug von dahin/ nach dorthin vorbeifährst,/ während sie stumm/ dein Verschwinden betrachtet.” „Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman”, bekannte Sebald selbst. Von ihr hat er von ihr leider nicht mehr hinterlassen können. Doch wie eine Besucherin der Stuttgarter Ausstellung es fasste: „Also wenn man das liest . . . es ist ja gar nicht viel . . . aber es wirkt auf mich.” TOBIAS LEHMKUHL
W.G. Sebald – Zerstreute Reminiszenzen, bis 17.12. Literaturhaus Stuttgart, Breitscheidstr.4, Info: 0711 / 220217-3.
Wandernde Schatten – W.G. Sebalds Unterwelt, bis 1. 2. 2009. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8-10, Info: 07144 / 848-0.
Die Landschaften verwandelten sich unter seinen Augen in lebendige Wesen
Ob Bücher, Brillen oder Tragetaschen – sie alle haben Eingang gefunden in dieses Werk
W.G. Sebald um 1970 (großes Bild); Jan Peter Tripp: Aus dem „Schreber-Album” (oben) und „Hinter der Fassade fängt das Leben erst an” (oben). Aus Sebalds Bibliothek: Goethe-Band mit einer Gedicht-Einlage Sebalds (links) Fotos: DLA Marbach (2), Literaturhaus Stuttgart (2).
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Mit großem Staunen hat Rezensent Andreas Isenschmid diese 61 ”wohlgeformten” Gedichte zur Kenntnis genommen, mit denen sich der 2001 tödlich verunglückte W.G. Sebald nun posthum auch noch als Lyriker entpuppt. Es handelt sich, wie man liest, um Gedichte aus Sebalds gesamter Schaffenszeit und beginnt mit Lyrik aus den 60er Jahren, aus denen Isenschmid noch deutlich den Ton Hölderlins oder Hofmannsthals zu vernehmen meint. Nichtsdestotrotz seien bereits diese Texte alles andere als epigonal, sondern weisen aus Sicht des Rezensenten bereits den typischen knappen und lakonischen Tonfall Sebalds auf. Bereits in Gedicht Nummer acht findet der Rezensent dann diesen ”schwermütig, fremden” Reisenden und Zeichendeuter wieder, den er schon in der Prosa so faszinierend findet: ”Ein autobiografisch grundiertes Ich” reise durch Gegenwart und Erinnerung, schreibt Isenschmid bewegt, der Sebald den farb- und formbewussten Blick eines Malers bescheinigt. Dennoch mag er in den Gedichten allenfalls Variationen der Prosa erkennen, weshalb die schönsten Gedichte für ihn auch jene sind, die später in Prosa variiert wurden. Am Ende findet Isenschmid den erstklassigen Prosaautor als Lyriker doch nur als zweitklassig.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2009

Woher ich komme, weiß ich nicht
Die berückend schönen Gedichte W. G. Sebalds

Von Mirko Bonné

Lyrik und Prosa gleichzeitig zu schreiben ist fast unmöglich. Zu unterschiedlich sind die Verfahren, aus Figur, Dialog und Zeit Wirklichkeit zu erzeugen. Umso faszinierender sind deshalb Dichter, die dennoch ab und an auch erzählen, Erzähler, die vom Gedicht nicht lassen. Der janusköpfige Autor riskiert seine Stimme, sollen aus Versen wieder Sätze, aus Absätzen erneut Strophen werden. Die von Sven Meyer ausgewählten Gedichte der Jahre 1964 bis 2001 belegen, dass sich diesem Wagnis über fast vierzig Jahre hinweg auch W. G. Sebald ausgesetzt hat.

Ende 2001 starb Sebald im britischen Norfolk bei einem Autounfall. Seit 1966 lebte er fast ständig in England, viele Jahre als Dozent für deutschsprachige Literatur in Norwich. Spät, mit über vierzig, begann er, literarische Texte zu veröffentlichen, zunächst Lyrik: 1988 erschien "Nach der Natur. Ein Elementargedicht". Es folgten Prosabände, die Erzählung mit Essay verquicken und für Aufsehen sorgten durch kühne Montage-, Collage-, eigentlich Bricolageverfahren. Da lauern in "Schwindel. Gefühle" (1990), "Die Ringe des Saturn" (1995) und "Logis in einem Landhaus" (1998) uralte Wortungeheuer an Satzmäandern von berückender Schönheit. Da gespenstern so bizarre wie ergreifende Figuren ein Jahrhundert lang um die halbe Welt, nur um wie der Onkel Kasimir in "Die Ausgewanderten" (1992) am Ende an einem Strand von New Jersey zu stehen und eine Kamera zu zücken. "I often come out here", vertraut er dem Erzähler an, "it makes me feel that I am a long way away, though I never quite know from where" - Menetekel der Entwurzelung so vieler Sebaldscher Gestalten.

Das Foto, das der Onkel dann schießt und das niemand anderen zeigt als W. G. Sebald, fügt der Autor wie Hunderte andere Abbildungen, die er sammelt auf Streifzügen durch Städte, Parks, Wohnzimmer und Bibliotheken, in seine Texte ein, kunstvoll montiert zu einem moribunden Panoptikum, einem monströsen Panorama. Jeder Satz, jedes Bild in Sebalds Prosabänden spricht von der Gewalt der Vergänglichkeit, drückt den Schmerz aus an der Unwirklichkeit und setzt doch beidem Ironie und Skepsis entgegen. Im Widerstand durch Integrität und Empathie liegt Sebalds eigentliche Bedeutung. "Luftkrieg und Literatur" (1999) sowie "Austerlitz" (2001), der Essay und der Roman, die Sebald weltweit bekannt machten, vertiefen seine Auseinandersetzung mit Schoa und medialer Vernichtung der Lebensvielfalt, zentrale Anliegen auch der posthum erschienenen Gedichte "Unerzählt" (2003) und des gleichfalls von Sven Meyer herausgegebenen Fragments "Campo Santo" (2003).

Ein Band mit ausgewählten Gedichten ermöglicht nicht nur den Blick auf Sebalds Frühwerk, seine lyrischen Vorbilder und Einflüsse, er erlaubt zudem, Gedicht für Gedicht die Entwicklung einer unverwechselbaren Stimme mitzuerleben. "Schullatein", das erste Kapitel des dreiteiligen Bands, versammelt Gedichte von 1964 bis 1975, die zum Teil in der "Freiburger Studenten-Zeitung" erschienen und den Einfluss Eichs und Krolows zeigen. Noch verblüffender ist der Huchel-Epigone, der ahnt: "Im Haus aus Schatten / am Anfang der Legende / beginnt das Entziffern." Im zweiten Teil "Über das Land und das Wasser" folgt man Gedichten von 1981 bis 1984. Die Einflüsse sind anverwandelt, die Form experimentiert. Auffällig ist der gespreizte Duktus, vielsagend, wie das Englische und damit für Sebald die Lebenswirklichkeit Einzug hält: "Einfahrt in die nordöstlichen / Vorhöfe der Metropole / Gilderson's Funeral Service / Merton's Rubbish Disposal / die A1 Wastepaper Company / Stratford die Wälder von Arden" - plötzlich ist er da, der "Sebald-Sound".

Die sechzehn meisterhaften Gedichte des dritten Kapitels "Das vorvergangene Jahr" entstanden in Sebalds letztem Lebensjahrzehnt. Historische Überblendung, Zitatmontage und Raffinement von Syntax und Vokabular paaren sich mit Strophentektonik, Klangdetail und grafischem Blick. In Marienbad begegnet man dem alten Goethe, krank vor Liebe zu der jungen Ulrike von Levetzow. Man reist 1904 mit dem sterbenden Tschechow nach Badenweiler. Und folgt Sebald neunzig Jahre später abermals in die Rheinebene. Die zufriedene Resignation der Kohl-Ära halten Reisegedichte über Hotels, Bistros und Intercity-Züge fest. Gedichte mögen in Sebalds Werk eine Nebenrolle spielen. Poetisch gefasst, kommt ihnen die Bedeutung jener in Schiphol durch das Terminal schwirrenden Spatzen zu, von denen sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Gedicht erzählt - flatterndes Leben in einer technologisierten Fremde.

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