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Patrick Modiano erzählt von seiner unglücklichen Kindheit: Von seiner Mutter, die 1942 nach Paris kommt um eine Schauspielkarriere zu beginnen. Von seinem Vater, der während der Okkupation als Jude verfolgt wird, ein Lebemann ist und bei zwielichtigen Geschäften immer wieder Geld verliert. Und von der Ehe der Eltern, einer einzigen Fehlentscheidung. Patrick wird in Internate abgeschoben, flieht, wird wieder eingesperrt und bricht schließlich mit seinem Vater. Er schlägt sich mit kleinen Diebstählen durch, bis er ein Buch schreibt, das auf Anhieb ein Erfolg wird. Atemlos und unsentimental legt…mehr

Produktbeschreibung
Patrick Modiano erzählt von seiner unglücklichen Kindheit: Von seiner Mutter, die 1942 nach Paris kommt um eine Schauspielkarriere zu beginnen. Von seinem Vater, der während der Okkupation als Jude verfolgt wird, ein Lebemann ist und bei zwielichtigen Geschäften immer wieder Geld verliert. Und von der Ehe der Eltern, einer einzigen Fehlentscheidung. Patrick wird in Internate abgeschoben, flieht, wird wieder eingesperrt und bricht schließlich mit seinem Vater. Er schlägt sich mit kleinen Diebstählen durch, bis er ein Buch schreibt, das auf Anhieb ein Erfolg wird. Atemlos und unsentimental legt Modiano mit dieser autobiographischen Erzählung Zeugnis ab - ein erschütterndes Buch, frei von Pathos und Selbstmitleid.
Autorenporträt
Modiano, Patrick
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014) und Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015) sowie zuletzt der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018) und das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018).

Edl, Elisabeth
Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prixlémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

„Ich war in See gestochen“
Gert Heidenreich liest „Ein Stammbaum“
„Ich schreibe das Leben wie ein Protokoll“, heißt es an einer Stelle. Jahreszahlen, Orte, Namen: Nahezu manisch reiht sie Patrick Modiano in „Ein Stammbaum“ aneinander. In der Hoffnung, durch die Faktizität der Angaben ließe sich die Realität greifen und begreifen. Doch all die Listen sind letzten Endes „Gespensterlisten“. Die Menschen, die auf ihnen stehen, sind verschwunden, gestorben oder wurden ermordet. Die Orte, die angeführt werden, existieren nicht mehr oder haben im Laufe der Jahre ihr Gesicht verändert.
  Nichts ist in den Büchern des Literaturnobelpreisträgers so, wie es scheint. Die Figuren leben in einer Art somnambulem Zwischenreich. Modiano hält an der urfranzösischen Idee der Aufklärung fest – und zeigt doch laufend, wie sie verfehlt wird. Das Paradox, das seine Texte so abgründig macht: Einerseits sind da die Sätze von protokollarischer Strenge und Kühle. Andererseits schließen die Protagonisten immer wieder die Augen und beginnen – zu träumen. „Schwindel. Gefühle“ heißt ein Buch von W.G. Sebald, und bei aller Unterschiedlichkeit der Autoren: Der Titel umschreibt gut Modianos Poetologie. Denn ganz so nüchtern, wie immer wieder behauptet wird – nicht zuletzt vom Autor selbst – sind die Bücher dann doch nicht.
  In „Ein Stammbaum“, in Frankreich 2005 und hierzulande 2007 erschienen, schildert Modiano die ersten 23 Jahre seines Lebens von der Geburt 1945 in der Nähe von Paris bis zur Veröffentlichung des Debütromans „Place de l’Étoile“. Rückblickend kommen noch die Jahre hinzu, in denen Paris von den Nazis besetzt und der jüdische Vater ständig gefährdet war. Die Übersetzerin Elisabeth Edl hat es in ihrem Nachwort auf den Punkt gebracht: Das Buch ist autobiografisch, mit dem gewichtigen Unterschied, dass Modiano sein Leben nicht anders erzählt als das Leben seiner Romanfiguren. Wie ein Detektiv macht er sich auf die Suche nach Kindheit und Jugend, trägt Bruchstücke zusammen, bevor sie „in die kalte Nacht des Vergessens“ entschwinden. Die Sätze sind meist im Präsens gehalten – Versuch, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen.
  „Ein Stammbaum“ ist auch als Bildungsroman zu lesen. Patricks hartherzige Eltern trennen sich früh, das Kind wird in muffige Internate gesteckt, die nur das Gefühl des Gefangenseins hinterlassen. Der Junge büxt aus, stiehlt. Oder flieht in Fantasiewelten. Eines seiner Lieblingsbücher heißt „Der geheimnisvolle Frachter“ – es bringt ihn „zum Träumen“. Eine erste Liebe und der Tod des Bruders Rudy werden angedeutet, das endgültige Zerwürfnis mit dem Vater beschrieben. Es wirkt wie eine Befreiung: „Ich war in See gestochen (. . . ). Es war höchste Zeit.“
  Gert Heidenreich ist als Erzähler eine Idealbesetzung. Seine Stimme vereint beides: die protokollarische Aufzählung und das Verträumte. Über weite Strecken klingt sie nüchtern und unaufgeregt, verfügt aber über ein warmes Timbre, das den Hörer auch zum Träumen verführen kann. Auf die Gefahr hin, dass ihm plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Genauso wie es Modianos von Schwindelanfällen heimgesuchten Protagonisten immer wieder passiert.
FLORIAN WELLE
Patrick Modiano: Ein Stammbaum. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Gelesen von Gert Heidenreich. Hörbuch Hamburg, Hamburg 2015. 3 CDs, ca. 180 Min, 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2007

Erzeuger sind keine Familie

An die Stelle einer Biographie setzt dieser Autor seine Poetik: Patrick Modiano erzählt die Geschichte seiner Kindheit als Roman.

Biographien lieben wir aus denselben Gründen wie Romane: weil sie allen Brüchen, von denen sie berichten, zum Trotz am Ende das Bild eines irgendwie gerundeten Lebens liefern und damit tröstlich Sinn stiften. Nun gab und gibt es aber politische Entwicklungen und gesellschaftliche Situationen, bei denen die davon Betroffenen lebenspraktisch nicht die geringste Chance haben, überhaupt so etwas wie eine Biographie im herkömmlichen Sinn zu begründen. Genau davon (und damit von sich selbst) erzählt Patrick Modiano seit seinem ersten Buch, also seit vierzig Jahren.

Wenn jetzt ein Buch mit dem Titel "Ein Stammbaum" vorliegt, das von Patrick Modiano erzählt, sollte man nicht dem Irrtum aufsitzen, hier habe jemand seine Autobiographie vorgelegt. Auch der Verlag führt uns hier dankenswerterweise nicht in die Irre, sondern teilt uns ganz zutreffend mit, das Buch sei "Patrick Modianos autobiographischer Bericht über eine unglückliche Kindheit, der sich liest, als sei es ein Roman über Patrick Modiano".

Nun, es ist einer, wie alle Romane davor auch, egal, ob dort ein Ich-Erzähler am Werk ist oder in der dritten Person erzählt wird. Viele Motive aus früheren Büchern tauchen wieder auf. Manche werden erstmals an den "richtigen Zeitpunkt" gerückt, wie das Überfahrenwerden durch einen Lieferwagen, oder auf die "richtige Person" angewandt, wie die sonntäglichen Busfahrten zurück ins Internat. Aber was bedeutet hier schon "richtige Zeit" oder "richtige Person"?

Patrick Modiano erzählt von den ersten zwanzig Jahren seines Lebens, von seinen Eltern und von all den anderen, die damals flüchtig durch sein Leben gingen, so gut es ihm möglich ist. Die Voraussetzungen, unter denen er das tut, benennt er schon früh sehr deutlich: "Man möge mir all diese Namen nachsehen. Ich bin ein Hund, der so tut, als habe er einen Stammbaum. Meine Mutter und mein Vater gehören zu keinem bestimmten Milieu. So wackelig, so ungewiss sind sie, dass ich mich bemühen muss, ein paar Spuren und Markierungen in diesem Treibsand zu finden, so wie man sich bemüht, mittels halb verwischter Briefe ein Formular zum Personenstand oder einen amtlichen Fragebogen auszufüllen." Das ist auch die Poetik all seiner bisherigen Romane gewesen.

Dabei ist das Undeutliche, Verwischte keine Masche. Nimmt man das jetzt vorliegende Buch vorübergehend einmal wirklich als Autobiographie, so wird klar, dass der Sohn eines Vaters, der sein Leben lang undurchsichtige Geschäfte macht, ab und zu auch mal unter anderen Namen agiert und öfter auf der Flucht ist, uns keine pralle Familiengeschichte anbieten kann. Die jüdische Familie des Vaters stammte aus Saloniki und ging in die Toskana. Der Vater wurde 1912 aber schon in Paris geboren, die Mutter 1918 in Antwerpen. Sie kam 1942 durch einen Offizier der Propagandastaffel nach Paris. Über sie heißt es gleich auf der ersten Seite: "Sie war ein hübsches Mädchen mit einem harten Herzen."

Vater und Mutter trennen sich früh. Was sie vereint, sind ihre jeweiligen Versuche, den Sohn loszuwerden, abzuschieben, wobei besonders der Vater eine fast unerschöpfliche Energie entwickelt: verschiedene Internate in der Provinz, die Armee, die Universität in Bordeaux, bloß nicht in Paris. Im November 1961 holt sich der Sohn im Internat im Hochsavoyen die Krätze und sucht eine Ärztin in Annecy auf. "Sie scheint verwundert über meinen jämmerlichen Zustand. Sie fragt mich: ,Haben Sie Eltern?' Angesichts ihrer Fürsorge und mütterlichen Sanftheit muss ich mich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen."

Dabei führt Modiano nur Protokoll. Er stellt sich Fragen über seine Eltern - die er nicht beantworten kann -, er klagt nicht an. Er stellt sich auch Fragen zur eigenen Kindheit und Jugend, deren er sich irgendwie zu vergewissern versucht. Das Ganze geschieht wie immer in jener kargen, disziplinierten, wunderschönen Sprache, die ihn zu einem der größten Stilisten der französischen Gegenwartsliteratur macht und die Elisabeth Edl, inzwischen längst die deutsche Stimme dieses Autors, auch diesmal ganz unangestrengt ins Deutsche transportiert.

Das private Unglück hat einen natürlich zeitgeschichtlichen Hintergrund. Es ist die Erinnerung an die Jahre der deutschen Okkupation, von der seine Eltern direkt betroffen waren, auch an die permanente Vernichtungsdrohung. 1958 sieht der Vater mit dem Sohn einen Film über den Nürnberger Prozess "im Kino George V. Ich entdecke mit dreizehn Jahren die Bilder der Vernichtungslager. Etwas hat sich an diesem Tag für mich verändert. Und mein Vater, was dachte er? Wir haben darüber nie miteinander gesprochen, nicht einmal beim Verlassen des Kinos."

Sprachlosigkeit, Schweigen, Nebel, der Äther als "Erinnerung und Vergessen": alle Elemente von Modianos Erzählkunst finden sich hier wieder. "Ich habe nichts zu bekennen, nichts zu erhellen, und ich verspüre keinerlei Neigung zu Introspektion und Gewissenserforschung. Im Gegenteil, je dunkler und geheimnisvoller die Dinge blieben, desto mehr haben sie mich immer interessiert." Nirgends im bisherigen Werk ist die Poetik dieses Autors so deutlich formuliert wie an dieser Stelle. Das hat seinen Sinn, denn das Buch endet konsequenterweise 1967 mit "jenem Nachmittag im Juni, als ich erfuhr, dass mein erstes Buch angenommen war". Da ist Modiano knapp zweiundzwanzig. "Ich war in See gestochen, bevor der morsche Anlegesteg zusammenbrach. Es war höchste Zeit."

JOCHEN SCHIMMANG.

Patrick Modiano: "Ein Stammbaum" . Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2007. 126 S., geb., 12,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Jochen Schimmang hat Patrick Modianos autobiografische Erzählung über seine Kindheit sehr positiv aufgenommen. Er weist darauf hin, dass es sich nicht um eine Autobiografie im engeren Sinn handelt, eher um Modianos "Geschichte seiner Kindheit als Roman", in dem er von seinen emotional kalten Eltern erzählt, die sich bald trennten und ihn in verschiedene Internate abschoben, von der Sprachlosigkeit in der Familie und vom Schweigen. Dabei führe Modiano nur Protokoll, stelle sich Fragen über seine Eltern und seine Kindheit und Jugend. Neben vielen bekannten Motiven aus Modianos bisherigen Werken findet Schimmang die wesentlichen Elemente seines Erzählens wieder. Auch die Sprache des Buchs hat ihn vollauf überzeugt. Er bewundert ihre Kargheit und Schönheit und würdigt den Autor als einen der "größten Stilisten der französischen Gegenwartsliteratur". Mit Lob bedenkt er in diesem Zusammenhang auch die Übersetzung von Elisabeth Edl.

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"Identität ist das Thema unserer Tage - dass wir mehr sind als das Produkt von Familie und Nation, nämlich Individuen, zeigt der Nobelpreisträger in diesem autobiografischen Buch. Man liest es mit klopfendem Herzen." Volker Weidermann, Der Spiegel, 15.10.16 "Das Ganze geschieht wie immer in jener kargen, disziplinierten, wunderschönen Sprache, die ihn zu einem der größten Stilisten der französischen Gegenwartsliteratur macht." Jochen Schimmang, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.11.07 "Sprachlosigkeit, Schweigen, Nebel, der Äther als 'Erinnerung und Vergessen': alle Elemente von Modianos Erzählkunst finden sich hier wieder." Jochen Schimmang, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.11.07 "Ein Roman wie ein Magnet, der die Eisenspäne in einer Ordnung bringt. ... "Ein Stammbaum" lässt sich als vorläufiger Schlussstein für Modianos bisheriges Werk lesen. Der von Elisabeth Edl im richtigen, lapidaren Tonfall übertragene Text bietet sich aber auch als Einstieg in ein erzählerisches Universum an, dessen Sog sich nicht zuletzt seiner beharrlichen Suche nach einer verlorenen Zeit verdankt - ganz anders als bei Proust, aber mit nicht minderer Qualität." Barbara Basting, Tagesanzeiger, 29.11.07