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1971 erschien "Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes". Was damals als Verbindung vom deutschen Roman zur europäischen Moderne gefeiert wurde, liest sich heute als ein Stück experimentelle Literatur und nimmt die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung sprachspielerisch vorweg. Zusammen mit der bereits 1965 entstandenen "Reise nach Bordeaux" erscheint der Roman hier im Rahmen einer Werkausgabe - sorgfältig ediert und kommentiert.

Produktbeschreibung
1971 erschien "Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes". Was damals als Verbindung vom deutschen Roman zur europäischen Moderne gefeiert wurde, liest sich heute als ein Stück experimentelle Literatur und nimmt die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung sprachspielerisch vorweg. Zusammen mit der bereits 1965 entstandenen "Reise nach Bordeaux" erscheint der Roman hier im Rahmen einer Werkausgabe - sorgfältig ediert und kommentiert.
Autorenporträt
Ludwig Harig, am 18. Juli 1927 in Sulzbach/Saar geboren, starb am 5. Mai 2018 ebenda. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Heinrich-Böll-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis; außerdem war Harig Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.05.2006

Alter Käfer pflügt im Sand hinter Bordeaux
Dinosaurier der experimentellen Literatur, gibt es sie? Ja, gewiss: Ludwig Harigs „Sprachspiele” in der Werkausgabe
Der erste Band von Ludwig Harigs Gesammelten Werken ist „Familienähnlichkeiten” gewidmet, womit „deutsch-französische Sprachspiele” gemeint sein sollen. Er vereint zwei Texte aus den sechziger Jahren, die „Reise nach Bordeaux” (1965) und die „Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes, ein Familienroman” (1971). Schon damals aber scheint der Autor daran gezweifelt zu haben, dass seine Zeit- und Altersgenossen die „Sprechstunden” verstehen würden, denn er veröffentlichte in der Zeitschrift Akzente 1970 eine Art Vorwarnung dazu. Als guter Lehrer erklärt er darin, was sein Welt-Sprachspiel im Innersten zusammenhalten soll. Er tut es nicht ohne Humor, aber doch mit jener missionarischen Unerbittlichkeit, die wir bei allen Weltverbesserern des zwanzigsten Jahrhunderts wahrnehmen. „Kurzum”, heisst es da, „die Kunstfigur ist aus Sprache gemacht”, und „ein Sprachspiel wird nicht erklärt, sondern gespielt”. Wo ist da der Spielverderber, der nicht mitspielen möchte?
Der Sitzer auf dem Stuhl
Damals gab es sie, diese Spielverderber, in großer Zahl. Aber manche Spieler hatten auch eine Art, sich aufzuspielen, die den Mitspielern auf die Nerven ging. Wer mitspielen möchte, muss die Spielregeln kennen. Darum sollte man diesen Band 1 der Gesammelten Werke auf keinen Fall vorn anfangen, sondern auf Seite 429 mit der genannten und hier wieder abgedruckten Vorwarnung und Gebrauchsanweisung „Familienähnlichkeiten”. Wer sich schon seit etwa einem halben Jahrhundert als Zeitgenosse des Autors fühlen kann, ist damit genügend vorbereitet. Jüngere Spieler sollten aber die Mühe nicht scheuen, nun auch zuerst noch das längere Nachwort des Herausgebers Gerhard Sauder zu lesen. Er erzählt aus einer Zeit, die ganz weit zurückzuliegen scheint.
Junge Leser würden vielleicht fragen, ob es damals in Deutschland noch Dinosaurier gab. Gewiss, müsste man ihnen antworten, wenn man darunter Autoren versteht, die sich „nicht hindern ließen, an traditionelle Schreibweisen anzuknüpfen.” Einer der bekanntesten hieß Heinrich Böll, und sein Name kursierte als derjenige des nächsten Nobelpreisträgers in Literatur (1972). „Was es damals bedeutet hat, experimentelle oder konkrete Poesie zu schreiben, ist im historischen Kontext noch kaum in den Blick geraten. . . . Die Autoren und Liebhaber der konkreten und experimentellen Literatur galten als extreme Außenseiter.” Wer sich durch diese Lektüren gründlich vorbereitet hat, sollte sich nun zuerst ans Hauptgericht des Menüs heranwagen, die „Sprechstunden”, und die Vorspeise, die „Reise nach Bordeaux”, auf den Nachtisch verschieben.
„Wenn ich sagen würde, ich sitze auf diesem Stuhl und schreibe dieses Buch, dann müsste ich ableugnen, dass ich es tue. Wenn ich sagen würde, ich sitze auf diesem Stuhl und leugne dieses Buch ab, dann müsste ich schreiben, dass ich es tue . . .”: Wer gleich auf Seite 2 mitten in einer Reihe von einem Dutzend Permutationen dieses Satzes stecken bleiben sollte wie ein alter Käfer im Sand der Küste bei Bordeaux, der mag sich trösten, denn er hat im Nachwort gelesen: „Ludwig Harig hatte es selbst mit Freunden in dieser Hinsicht schwer: Seine konkreten Texte schätzten sie nicht so hoch ein wie seine späteren erzählenden; sie verhielten sich als Leser repräsentativ für eine bis auf wenige Ausnahmen konservative Leserschaft.” Diese Spielverderber!
Freilich, die ersten Kapitel sind nicht die anmutigsten; zuerst wird das harte Brot gegessen, aber schon bald zeigt sich, dass der Autor ein doppeltes Spiel spielt, ja, dass er es faustdick hinter den Ohren hat. Theoretisch bekennt er sich zu einer „Welt, die ausschließlich in Sprache ausgedrückt ist und sich jeder Gleichsetzung mit der wirklichen Welt entzieht” - und wenn er schreibt, quillt die wirkliche Welt (oder was auch immer) wie der Hirsebrei des Märchens aus allen Wortfugen. Theoretisch gibt er vor, dass es keine Hintergedanken gebe, und dann schreibt und zitiert und permutiert er so lange, bis überhaupt nur noch Hintergedanken auf die Skattischplatte vorstoßen: „André schob seinem Bruder die Dame hin. Jeans roter Bube fiel über sie her. Ich steche sie, sagte er, und sein Knöchel krachte auf den Tisch.” Wenn hier etwas fehlt, dann sind es nicht Hinter-, sondern Vordergedanken!
Aha, eine Provokation
Im Nachwort desavouiert der Herausgeber darum den Dichter, wenn er dem Spiel kurzerhand einen Sinn unterlegt, der zum Jahr 1968 passt wie der Deckel auf den Topf: „Mit seinen Texten wollte Ludwig Harig die politischen Missstände seiner Zeit attackieren”. Der Autor selber sagte es feiner und treffender, aber auch bei ihm stellt sich ein Wort quer, das sich damals jedem Spiel zu entziehen versuchte, das Wort „gesellschaftlich”: „Schreibend begriff ich das Wesen des Sprachspiels, fand heraus, dass es nur den Regeln seiner ihm eigenen Darstellungsform gesellschaftlicher Ereignisse folgt - und nichts zu tun hat mit unterhaltsamer Spielerei.”
Neben den Pflichtübungen des Sprachspielers, der doch besser ein Sprachschwerstarbeiter heißen sollte, also neben den pedantisch durchgezogenen Permutationen, den fleißigen Listen, den schlau verworfenen Satzteilen, die - mit einem Wort des Herausgebers - „mit Sicherheit qualvoll zu lesen” sind, gibt es die Kür. Und „der Leser” (von Leserinnen sprach man damals noch nicht), dem doch eingeschärft worden war, allein „das Wesen aus Fleisch und Blut” zu sein, erkennt nicht ohne Genugtuung, dass der Autor auch ein Wesen aus Fleisch und Blut, ja sogar mit Knochen gewesen ist, welches den ganzen Sprachzirkus mit seiner Peitsche im Kreise herumtreibt, dass einem (manchmal) dabei schwindlig wird. Das versöhnt uns mit dem totalitären Hauch, der jedem Spiel eignet; es versöhnt uns auch mit diesem Autor, der doch noch mehr zu wissen scheint, als seine verdrehten Sätze ihm sagen.
Aber ist es wirklich ein Verdienst, wie der Werbetext es nahelegt, dass sich dieses Buch einordne in die experimentelle Literatur der Generation zwischen Raymond Queneau und Georges Perec, dass es mit einem Schlag wieder eine Verbindung vom deutschen Roman zur europäischen Moderne hergestellt habe? Wir wollen glauben, dass es etwas riskierte, ja, wir müssen es glauben, um dieser Dichtung einen ihr angemessenen Wert zuzuschreiben. Dass man ihre Texte heute nicht mehr lesen, sondern nur noch studieren kann, wiegt dagegen nicht schwer.
HANS-HERBERT RÄKEL
LUDWIG HARIG: Familienähnlichkeiten. Deutsch-französische Sprachspiele. Herausgegeben von Gerhard Saude. Carl Hanser Verlag, München 2005. 488 Seiten, 29,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als "Dinosaurier der experimentellen Literatur" würdigt Rezensent Hans-Herbert Räkel die "Sprachspiele" Ludwig Harigs, die jetzt im ersten Band seiner Gesammelten Werke vorliegen. Räkel lässt keinen Zweifel daran, dass der Band mit der "Reise nach Bordeaux" (1965) und die "Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes, ein Familienroman" (1971) keine leichte Kost darstellt. Schon die Zeitgenossen taten sich nach Auskunft Räkels mit Harigs experimenteller Literatur sichtlich schwer. Heutigen Lesern rät er daher, mit Harigs seinerzeit in der Zeitschrift Akzente veröffentlichten und auch im vorliegenden Band abgedruckten Gebrauchsanweisung zu beginnen und dann das Nachwort des Herausgebers Gerhard Sauder zu lesen, um auf die Lektüre der "Familienähnlichkeiten" vorbereitet zu sein. Worin nun die Freude der Lektüre besteht, wird leider nicht ganz klar, Räkel spricht in diesem Zusammenhang von der befriedigenden Erkenntnis, dass der Autor auch ein "Wesen aus Fleisch und Blut" gewesen ist, der den "ganzen Sprachzirkus mit seiner Peitsche im Kreise herumtreibt".

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