Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 6,00 €
  • Gebundenes Buch

Im Jahre 1728 überreicht ein Unbekannter dem unbescholtenen General Yue Zhongqi einen Brief, der zu einer Rebellion gegen den Kaiser aufruft. Von diesem Moment an ist für Yue Zhonqi nichts mehr, wie es eimal war: denn schon der Besitz dieses Briefes macht ihn verdächtig.

Produktbeschreibung
Im Jahre 1728 überreicht ein Unbekannter dem unbescholtenen General Yue Zhongqi einen Brief, der zu einer Rebellion gegen den Kaiser aufruft. Von diesem Moment an ist für Yue Zhonqi nichts mehr, wie es eimal war: denn schon der Besitz dieses Briefes macht ihn verdächtig.
Autorenporträt
Jonathan D. Spence, geboren 1936 in England, em. Professor für Geschichte an der Yale University, USA, gilt weltweit als einer der renommiertesten Sinologen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2006

Alle Inländer sind Hochverräter
Jonathan Spence schildert ein Musterstück chinesischer Geschichte

Dieses Buch liest sich wie ein Roman, und so hatte der Verlag es auch angekündigt: unter den literarischen Neuerscheinungen zwischen Mosebach und Kundera und mit dem Verweis, der Autor Jonathan Spence habe für seinen Bericht alte Quellen ausgewertet und auf dieser Basis einen "Politkrimi" erzählt. Jeder unschuldige Interessent mußte denken, die Welle fiktiver Kriminalfälle aus früheren Zeiten sei endlich auch in der chinesischen Qing-Dynastie angelangt. Und mit dem braven General Yue Zhongqui hält "Verräterische Bücher" auch einen vielversprechenden Ermittler parat, der grundsympathisch daherkommt und doch vor Folter nicht zurückschreckt. Da ist einiges an aktueller Anbindung möglich. Dazu ist das Buch im Präsens geschrieben und rasend spannend. Doch von allem, was man ansonsten mit einem Krimi verbindet, ist Jonathan Spences Buch meilenweit entfernt.

Das beginnt damit, daß von Anfang an klar ist, wer der Täter war. Schon das Vorwort deckt es auf: Der geheimnsivolle Brief, der am 30. Oktober 1728, im sechsten Jahr der Regierung des Yongzheng-Kaisers, an dessen Generalgouverneur in den beiden Provinzen Shaanxi und Gansu, jenen besagten General Yue, ausgehändigt wird, stammt von Zeng Jing, einem unbedeutenden Gelehrten in der zentralchinesischen Provinz Hunan. Da sich das ganze Buch um den Brief dreht, um die Voraussetzungen seines Entstehens, um dessen Inhalt natürlich und um die Folgen, die seine Zustellung für das riesige Reich hat, hätte ein Kriminalroman wohlweislich damit gewartet, das Pseudonym seines Verfassers, der mit "Sommerstille" unterschrieb, zu früh zu lüften.

Doch Spence will nicht ein Rätsel konstruieren, wo es gar keines gibt, denn der gewiefte Ermittler Yue entlockt dem Briefboten schon nach wenigen Tagen - und zwar mehr mit Tricks als mit Gewalt - den Namen seines Auftraggebers. Am 4. Dezember 1728 wird Zeng festgenommen, und nur wenig mehr als ein Jahr später ist sein Name reichsweit in aller Munde und mehr noch in aller Ohren - ungewöhnlicher Ruhm für einen, der des Hochverrats beschuldigt worden ist, weil er in seinem Brief schwere Vorwürfe gegen den Yongzheng-Kaiser erhoben hat.

Um diese erstaunliche Wendung zugunsten Zengs zu erklären, stellt Spence, seines Zeichens Sinologe in Yale, etwas anderes als den Kriminalfall um die Entstehung des Briefes in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Was ihn interessiert, ist die Reaktion des von einem Untertanen beschuldigten Kaisers: Denn am 4. April 1730 beginnt in Peking der Druck eines Buchs, das die gesamte Affäre um Zeng und Yue und den Herrscher schildert, beruhend auf Aussagen des Verhafteten, Schreiben des Generals und kaiserlichen Edikten. Selbst der Inhalt des inkriminierten Briefs, der natürlich nicht veröffentlicht wird, kann aus diesen Texten leicht rekonstruiert werden. Der Titel der Dokumentensammlung lautet "Bericht, wie wahre Tugend zum Erwachen aus der Verblendung führt", sie umfaßt mehr als 250 Doppelseiten und wird auf Geheiß des Kaisers in ganz China verteilt, damit daraus jede Woche regelmäßig rezitiert werde. Hunderttausende von Exemplaren werden im ganzen Reich verteilt. Die Teilnahme an den Lesungen ist für die Chinesen Pflicht.

Spätestens bei dieser Schilderung vergißt der Leser den historischen Rahmen und liest "Verräterische Bücher" als Porträt eines zeitlosen China, in dem Umerziehung, Verrat, Propaganda, Begünstigung und Folter traurige Konstanten einer immens reichen Geschichte sind. Der Yongzheng-Kaiser nahm Maos Politik der kollektiven Umerziehung um mehr als zwei Jahrhunderte vorweg, agierte gegenüber Zeng Jing aber weitaus großmütiger, als es sein kommunistischer Nachfolger wohl getan hätte. Zeng war wegen Verrat angezeigt worden, was normalerweise seine Hinrichtung durch Vierteilung und die Auslöschung seiner männlichen sowie die Versklavung seiner weiblichen Angehörigen und der Kinder zur Folge gehabt hätte, doch der Yongzheng-Kaiser begnadigte den Delinquenten nicht nur, sondern gab ihm auch noch einen Posten in der Verwaltung und ein reiches Geldgeschenk.

Der Grund dafür war indes machiavellistisch. Yongzheng hatte als dritter Herrscher seiner Dynastie die Erfahrung gemacht, daß der Dünkel der Han-Chinesen als Stammvolk des Kaiserreichs gegenüber den regierenden Mandschu nicht auszurotten war. Deshalb gab er sich so viel Mühe mit der Widerlegung der von Zeng gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Spence erzählt, ausgehend von den kaiserlichen Rechtfertigungen, viel mehr als den Fall Zeng; er liefert eine Geschichte der Qing-Dynastie mit all ihren Intrigen und Kulturkämpfen, eine Soziologie des intellektuellen Chinas im frühen achtzehnten Jahrhundert - und ein Lehrstück über die Ohnmacht der Mächtigen gegenüber dem Gerücht.

Doch zunächst entwickelte sich alles nach Erwartung von Yongzheng. Als der inhaftierte Zeng auf die Linie des Kaisers einschwenkt, sieht dieser die Möglichkeit zu einem exemplarischen Gnadenakt: Durch seine Weisheit hat er einen chinesischen Kritiker seiner Herrschaft aus dessen selbstverschuldeter geistiger Unmündigkeit befreit. Das entspricht der chinesischen Tradition der Belehrung, und deshalb verspricht sich der Kaiser von der Publikation der entsprechenden Schriften, die im Widerruf Zengs gipfeln, eine durchschlagende Wirkung.

Sie bleibt aus. Vielmehr protestiert die höhere Beamtenschaft in einem seltenen Akt des Ungehorsams: Ein kollektiver Brief geht an den Kaiser, in dem die ranghohen Unterzeichner die übliche Todesstrafe fordern. Zumal es neben Zeng einen zweiten Hauptbeschuldigten gibt, den die ganze Härte des Gesetzes treffen soll: Lü Liuliang. Er hat nicht die Chance zu widerrufen, denn Lü, ein höchst angesehener Konfuzius-Kommentator, ist längst tot. Doch auf seine Schriften, jene "verräterischen Schriften", die Spence zum Titel des Buches bewogen haben, hat Zeng sich in seinem Brief berufen, und als Yongzheng anordnen läßt, das Werk Lüs auf rebellische Passagen zu untersuchen, bringen willfährige Interpreten reiche Ernte ein. Plötzlich ist Lü als jemand enttarnt, der zeit seines Lebens gegen die Machtübernahme der Mandschu gewettert hat. Konsequenterweise gilt auch er als Hochverräter.

Da er sich der gerechten Strafe durch sein um Jahrzehnte verfrühtes Dahinscheiden entzogen hat, ergeht seitens des Kaisers folgendes Urteil: Den Leichnam Lüs solle man exhumieren und köpfen, damit er danach zur Schau gestellt werden könne. Gleiches möge mit seinem verstorbenen ältesten Sohn geschehen. Der bereits neunundsechzigjährige jüngste Sohn soll als einziger überlebender direkter Nachfahre enthauptet werden. Diejenigen Enkel Lüs, die älter als sechzehn sind, werden zu Sklavenarbeit in der Verbannung begnadigt, der Besitz der Familie wird zugunsten des Staates verkauft.

Nun hat Lü eine immens große Leserschaft - gerade unter den Gelehrten. Deshalb stößt die Begünstigung Zengs auf solchen Widerstand. Der Yongzheng-Kaiser aber bleibt seiner Linie treu. Zumal sich plötzlich die Fälle von Kritik im Reich häufen, was ihn nur in seiner Ansicht bestätigt, daß nicht der bedeutungslose Zeng, sondern der allgemein hochgeschätzte Lü Ursache dieser bedenklichen Tendenz zur Insubordination sein müsse.

Der Herrscher stirbt am 8. Oktober 1735, bis zuletzt läßt er sich Berichte zu verdächtigen Aktivitäten zuleiten. Überall sieht er Bestätigung für seinen Zorn auf Lü. Und der Zorn von Yongzheng konnte hartnäckig sein. Er selbst war der vierte Sohn seines kaiserlichen Vorgängers gewesen und hatte zwei seiner Brüder, den achten und neunten, nach der eigenen Thronbesteigung inhaftieren lassen, weil er in ihnen Intriganten vermutete. Beide starben unter den unmenschlichen Haftbedingungen, und zwei weitere der insgesamt zwölf Brüder von Yongzheng kamen nur durch glückliche Fügung mit dem Leben davon.

Nun besteigt wiederum ein vierter Sohn den Thron in der Halle der Höchsten Harmonie. Der Quianlong-Kaiser wird eine der längsten Herrschaften aller Dynastien erleben - sechzig Jahre -, und er wird hochberühmt werden als ein Herrscher, der in seiner Regierungszeit mehrerere tausend Gedichte verfaßt, die auf alle möglichen und unmöglichen Gegenstände in der Schatzkammer geschrieben werden. Dieser Schöngeist beginnt sofort damit, die umstrittenen Urteile seines Vaters zu überprüfen. Zunächst begnadigt er die Angehörigen seiner inhaftierten Onkel, dann begibt er sich an die Revision des Falls Zeng.

Und hier gilt für ihn: Nur keine Sentimentalitäten! Das Urteil des Vaters ist ihm Ausweis wahrhaft kaiserlicher Milde, aber ein Verstoß gegen das Gerchtigkeitsempfinden des Volkes. Zeng wird doch noch durch Zerstückelung hingerichtet, seine Familie trifft das für Angehörige von Verrätern vorgesehene Schicksal. Die seit mehr als fünf Jahren laufenden öffentlichen Lesungen aus dem "Bericht, wie wahre Tugend zum Erwachen aus der Verblendung führt" werden eingestellt, alle Bücher eingesammelt. Nun gelten nicht mehr nur Lüs Schriften, sondern auch die des Yongzheng-Kaisers als verräterisch: Sie sind Belege eines moralisch lobenswerten, aber politisch falschen Herrscherurteils.

Einige entgehen natürlich der Vernichtung, wie auch einzelne Exemplare von Lüs Schriften auf uns gekommen sind. Aus diesen Nachrichten eines untergegangenen und doch so aktuellen Reiches hat Jonathan Spence ein verräterisches Buch für unsere Tage geschrieben: Es gibt alles preis, was Staatsmacht gemeinhin im dunkeln halten will.

ANDREAS PLATTHAUS.

Jonathan Spence: "Verräterische Bücher". Eine Verschwörung im alten China. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Carl Hanser Verlag, München 2005. 335 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Tilman Spengler muss einen ziemlich vertrackten Plot nacherzählen, um seinen Lesern erklären zu können, was dieses Buch des renommierten Sinologen Spence ausmacht. In aller Kürze: Ein Beamter im alten China kann sich nicht mit der neuen Herrscherdynastie abfinden und schreibt Bücher und Kommentare zu Büchern, in denen er diese Herrscher mit den Barbaren gleichsetzt, nach dessen Tod liest ein anderer unzufriedener Gelehrter diese Bücher und sucht einen General, der eine Revolution anführen soll, das Vorhaben jedoch dem Kaiser verrät, und am Ende werden sämtliche körperlichen wie schriftlichen Überreste des ersten Unzufriedenen vernichtet, und der zweite wird einer Art Gehirnwäsche unterzogen, bis er alle Kritik widerruft. Das Erstaunliche hieran sei nun die Art und Weise, in der der Leser in diesen Roman hineingezogen werde, meint der Rezensent. Zunächst lese er mit einigem Befremden eine Geschichte aus dem alten China, doch mit der Zeit rückten die Ereignisse wie auch die Personen immer näher, bis am Ende klar wird, dass diese Geschichte letztlich genau so jetzt wie damals spielt. Den Stoff habe Spence zwar nicht selbst erfunden, erklärt der Rezensent, doch sei Spence' Version ein "Glücksfall, von genauso fesselnder, wie akademisch fundierter Nacherzählung", woran auch die Übersetzerin Susanne Hornfeck großen Anteil habe.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2005

Der absolute Herrscher aller Archivare
„Verräterische Bücher”: Jonathan D. Spence erzählt von einer Verschwörung im alten China
Die erste Geschichte: Der hochbegabte Herr Lü kann bereits mit acht Jahren Aufsätze so verfassen, wie es für die kaiserlichen Beamtenprüfungen erforderlich ist. Seine Familie ist der Dynastie der Ming verbunden. Als diese 1644 von den Mandschus besiegt wird, stürzt ihn das in einen Loyalitätskonflikt. Eine Zeit lang verfolgt Herr Lü die Beamtenkarriere, dann nimmt er seinen Abschied, wird Arzt, später Privatgelehrter und Buchhändler. Er durchforstetdie großen Texte der chinesischen Literatur nach Stellen, welche die Niedertracht der Barbaren hervorheben. Auch die Mandschus, lässt er in seinen Kommentaren durchblicken, sind Barbaren. Für seine Beerdigung fordert er, unter keinen Umständen in der Tracht der gegenwärtigen Herrscher Chinas bestattet zu werden.
Die zweite Geschichte: Herr Zeng, vier Jahre vor Herrn Lüs Tod geboren, gescheiterter Beamter, jetzt Schullehrer und Privatgelehrter, lebt an einer Landstraße, die in die Provinzhauptstadt führt. Eines Tages erfährt er von zwei Reisenden, dass der Kaiser nicht nur seinen Vater, sondern auch seine Brüder umgebracht habe, um auf den Thron zu kommen. Außerdem treten die Flüsse über ihre Ufer und die Verwaltung wird immer korrupter. Herr Zeng hat die Bücher und Kommentare des Herrn Lü gelesen und beschließt, China sei reif für eine Revolution. Aus der Geschichte kennt Herr Zeng den Namen eines berühmten Soldaten, des Generals Yüe, der bereits gegen Barbaren gekämpft hat. Einer von dessen Nachkommen ist der berühmteste Militär seiner Zeit, heißt auch Yüe und soll, hat Herr Zeng erfahren, ein heimlicher Widersacher des Kaisers sein, mithin der ideale Mann, um den Aufstand zu führen. Also schickt Herr Zeng einen Schüler zu dem jungen General Yüe mit der Botschaft, dieser möge sich bitte an die Spitze der revolutionären Bewegung stellen. Unterschrieben ist diese Botschaft, wir sind in China, mit dem Namen „Der führerlose Wanderer vom Südlichen Meer”. Der General, der keine Ahnung hatte, dass ein falsches Gerücht ihn mit der Opposition gegen den Herrscher in Verbindung bringt, lässt den Boten auf der Stelle verhaften und meldet den Vorfall seinem Kaiser.
Die dritte Geschichte: Kaiser Yongzheng ist der dritte Herrscher der Mandschu-Dynastie und aus mehreren Gründen unbeliebt. Er gilt als unnahbar, penibel und rachsüchtig. Vielleicht hat er wirklich seinen Vater umgebracht, vielleicht auch einige seiner Brüder, genau wird man das nie wissen, denn Yongzheng ist auch der absolute Herrscher über alle Archivare und Historiker seines Landes. In China gestaltet der Kaiser Geschichte und Geschichtsbücher. Er ist allerdings nicht Herr über die Gerüchte in seinem Land. Diese Gerüchte verbreiten sich wie die Flut, die zu bändigen Aufgabe des Kaisers ist. Naturgemäß weiß Yongzheng, dass unter seinen Beamten und im Volk darüber getuschelt wird, was legitime Nachfolge bedeutet und was nicht. Aber ein Gerücht ist so schwer zu packen wie Nebel. Da kommt dem Kaiser die Aktion des Mannes, der sich „Der führerlose Wanderer vom Südlichen Meer” nennt, wie ein Himmelsgeschenk.
Herr Zeng, also der „Wanderer”, ist gleichsam der Kopf eines Gerüchtes, das viele Wurzeln hat. Dieser Kopf wird nicht abgeschlagen, er wird einfach umgedreht. Wird mit Güte fertig gemacht, bis er öffentlich bekennt, Lügen über den Kaiser verbreitet zu haben. Über seine Legitimation, über die Korruption im Staate, über Flüsse, die Deiche durchbrochen hätten. Wo doch in Wirklichkeit alles ganz anders war und ist. Dieses freimütige Bekenntnis wird Herrn Zeng gedankt. Er kommt nicht nur mit dem Leben davon (vorerst), er erhält sogar eine kleine Belohnung.
Dafür geht es den Wurzeln des Aufmuckens ziemlich übel. Den ideologischen Anstifter, den früheren Beamten, Philologen, Buchhändler Lü ziehen die Häscher des Kaisers aus dem Grab und zerteilen das Skelett. Noch lebende Angehörige werden umgebracht oder in die Verbannung geschickt. Doch am allerwichtigsten: Von den Schriften des Herrn Lü darf keine Spur übrig bleiben. Kein Manuskript, das versteht sich, keine Marginalie, klar, nicht einmal ein kleiner Zettel mit einer Widmung, die Anleitung zu einem Rezept. Der Mensch, ein Schicksal ist erst ausgelöscht, wenn jedes seiner Schriftzeichen verschwunden ist.
Eine Geschichte aus China und gleichsam feinster elisabethanischer Stoff, vielleicht auch die Anregung für einen Roman von George Orwell oder einen Film von Francois Truffaut. Westliche Leser, gut, einige wenige westliche Leser, kannten die Geschichte in der Version, die Luther C. Goodrich 1935 in einer sorgfältigen Monographie veröffentlichte, später erschien in Princeton eine einschlägige Doktorarbeit, und jetzt hat sich Jonathan D. Spence, einer der renommiertesten Sinologen unserer Zeit, des Themas angenommen. Das Ergebnis ist ein schlichter, in der deutschen Fassung auch der hervorragenden Übersetzung von Susanne Hornfeck geschuldeter Glücksfall, von genauso fesselnder, wie akademisch fundierter Nacherzählung. Der in Yale lehrende Spence hat nicht nur ein absolutes Gespür für Dramatik, er ist gleichzeitig ein fanatischer Pinkerton und begnadeter Generalstäbler seines Faches. Der Leser, der das Buch aufschlägt, weiß anfangs vielleicht noch nicht, warum es ihn interessieren soll, wie viel Zeilenabstand in einem Schreiben an den Kaiser von China eingehalten werden musste, damit diesem ausreichend Platz für Anmerkungen bleibt. Oder welche Tintenfarbe er für seine Marginalien wählt. Der Leser ahnt erst langsam, warum ein literarischer Kommentar zu Zunder und Zündstoff werden kann. Doch je weiter er sich in das Buch verstricken lässt, desto näher rücken ihm Orte und Ereignisse, die ein paar tausend Kilometer und einige Jahrhunderte entfernt liegen. Und auch die dramatis personae werden unmerklich jünger und jünger. Bis der Leser merkt: diese Geschichte aus dem Jahr 1728 spielt, recht gelesen, in just dem Moment, in dem er das Buch aufgeschlagen hat und über Zeilenabstände erfuhr.
TILMAN SPENGLER
JONATHAN D. SPENCE: Verräterische Bücher. Eine Verschwörung im alten China. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Carl Hanser Verlag, München 2005. 335 Seiten, 24,90 Euro.
Jedes Schriftzeichen muss gelöscht werden, erst dann ist der Mensch tot. - Ruinen in Chuguchak, gemalt von Weretshchagin 1869.
Foto: The Bridgeman Art Library
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr
"...ein schlichter, in der deutschen Fassung auch der hervorragenden Übersetzung von Susanne Hornfeck geschuldeter Glücksfall, von genauso fesselnder, wie akademisch fundierter Nacherzählung. Der in Yale lehrende Spence hat nicht nur ein absolutes Gespür für Dramatik, er ist gleichzeitig ein fanatischer Pinkerton und begnadeter Generalstäbler seines Fachs." Tilman Spengler, Süddeutsche Zeitung, 5./6.11.05 "...rasend spannend." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.06