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Roberto Calasso führt durch ein imaginäres Museum der Dichter und Denker. Von Nietzsche über Robert Walser, Kraus bis zu Wedekind und Benjamin reicht der Bogen, auch verfemte Autoren wie Stirner oder Schreber lässt Calasso nicht aus. In den Essays findet man zahlreiche Verbindungen, verblüffende Assoziationen und erstaunliche Blickwinkel auf die Welt jenes archaischen Zeitalters, das einst die "Moderne" genannt wurde. Eine Verführung zum Lesen.

Produktbeschreibung
Roberto Calasso führt durch ein imaginäres Museum der Dichter und Denker. Von Nietzsche über Robert Walser, Kraus bis zu Wedekind und Benjamin reicht der Bogen, auch verfemte Autoren wie Stirner oder Schreber lässt Calasso nicht aus. In den Essays findet man zahlreiche Verbindungen, verblüffende Assoziationen und erstaunliche Blickwinkel auf die Welt jenes archaischen Zeitalters, das einst die "Moderne" genannt wurde. Eine Verführung zum Lesen.
Autorenporträt
Roberto Calasso, 1941 geboren, studierte englische Literatur in Rom und arbeitet seitdem als Schriftsteller, Verleger und Publizist. Mit "Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia" gelang ihm ein internationaler Erfolg. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2005

Der Seitengleiter
Belesen und essentiell zerstreut: Roberto Calassos Essays
Wollte man die Bewegung beschreiben, die das Denken des italienischen Gelehrten Roberto Calasso vollzieht, so müsste man zum Bild des Albatrosses greifen. Er nimmt einen langen Anschwung - hin und wieder kippt er sich auch nur einen Felsen hinunter: „Die Geschichte des Selbstverständlichen ist die dunkelste Geschichte” -, und dann beginnt ein ausführliches Gleiten, Schweben und Kurven, getragen von großen Texten der kulturellen Überlieferung, so als wären diese der Wind, auf dem der Vogel die Schwingen ausbreitet. Manchmal fliegt er mit dem Wind, dann geht es schnell voran, manchmal stellt er sich dagegen, dann bleibt er lange an einer Stelle, manchmal zieht er Schleifen.
Keinen gibt es, der das unselbständige Denken so kultiviert wie Roberto Calasso. Das ist nicht abwertend gemeint. Seine Art, sich mit Büchern auseinanderzusetzen, ist das Hineindenken und Hindurchdenken, nicht das Über-etwas-Denken. Ganz selten, in seinem Essay über die „Meinung” etwa, fällt er ein freies Urteil über einen Gegenstand, der außerhalb eines Buches liegt. Ansonsten überlässt er sich ganz dem Stoff. Vor zwei Jahren überließ sich Calasso in dem langen Essay „Die Literatur und die Götter” der indischen und der griechischen Mythologie, um nebenbei die Luftzüge der klassischen Moderne einzufangen: Und siehe da, die Erzählungen fingen an, einen gemeinsamen Strom zu bilden - gewaltig sind die Bestände der Tradition, aber gesprochen wird vom Gleichen. Und der Albatros veranstaltete ein mächtiges Rauschen. Denn dies ist die Gefahr der Lektüren von Roberto Calasso - dass der Leser nur noch den Vogel wahrnimmt, nicht aber den Wind, der ihn trägt.
In „Die neunundvierzig Stunden” nun, dem jüngsten auf Deutsch erschienenen Band, merkt man den Essays deren Entstehungsgründe an: Im zivilen Leben leitet der Autor den Verlag Adelphi in Mailand, und der größte Teil dieser Texte ist entstanden zur Begleitung von Ausgaben deutschsprachiger Klassiker, von Friedrich Nietzsche, Karl Kraus, Robert Walser, Frank Wedekind, Max Stirner, Daniel Paul Schreber, Walter Benjamin, Gottfried Benn. Entstanden sind die Essays vor allem in den achtziger Jahren. Der Zweck der Erläuterung kommt ihnen zugute: Die Lektüre des Vermittlers schiebt sich seltener vor das Gelesene. Es versucht, ihm zu dienen.
Am eindrücklichsten gelingt das im längsten, dem einleitenden Essay über Friedrich Nietzsche. Streng genommen, handelt er nur von einem Satz, dem Untertitel des „Ecce homo”: „Wie man wird, was man ist.” Calasso unternimmt den Versuch, Leben und Werk Nietzsches in einer einzigen Bewegung zusammenzufassen: in der Revolte gegen die Moral, deren Verhängnis darin besteht, bis ins Innerste von dem geprägt zu sein, wogegen sie revoltiert. Man weiß, worin das endet, nämlich im Wahn. Eine so aufmerksame Beschreibung dieses Wegs hat man trotzdem noch nicht gelesen.
Literatur wird Raum
Es trifft ja nicht zu, dass man ein Buch in die Hand nimmt und dann liest. Sondern man beginnt zu lesen, denkt über das Gelesene nach, unterbricht die Lektüre, vergleicht, träumt, assoziiert, und das geschieht, während man das Buch in der Hand hält. Calasso hat sich das essentiell zerstreute Lesen zur Methode des räsonnierenden Schreibens gemacht, und dafür mobilisiert er ein beträchtliches Maß an Belesenheit. Und so handeln seine Essays nicht nur von Karl Kraus, Benjamin oder Adorno, sondern diese drei - und viele andere - reden permanent auch miteinander und ineinander. Manchmal ist das mühselig, fast verstiegen. Und doch summiert sich die Anstrengung zu einer räumlichen Vorstellung von Literatur, etwa im Essay über Robert Walser, in dessen Mitte die Vision von der Selbstauslöschung eines Schriftstellers steht.
Forsch voran hingegen geht es in den beiden Aufsätzen, die eigentlich Buchgeschichten sind: im Essay über Daniel Paul Schreber und dessen „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken”, eines autobiographischen Grundbuchs der Psychoanalyse, wie in der Rezeptionsgeschichte zu Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum”. Diese Stücke sind nicht nur nützliche Kommentare. In ihnen wird das Material zugleich freigelegt in seiner ganzen Größe und Macht, und zwar jeweils in Form von vielen kleinen Essays, aus denen sich ein großer zusammensetzt. Einige von Calassos besten Beobachtungen entstehen dabei im plötzlichen Zupacken, gleichsam im Herabstoßen aus der Luft: So, wenn er vermutet, Max Stirner habe nur deshalb keine Platz unter den großen „Denkverbrechern” gefunden, „weil es zu leicht gewesen wäre, ihn zu beschimpfen”.
Roberto Calasso ringt mit den Texten auf altmodische Weise, scheinbar - oder tatsächlich? - ungeschult, ohne die künstlichen Gewissheiten von Methode und Routine, getrieben von einer unstillbaren Neugier, über die Ränder der Literatur hinauszuschauen, noch ein paar der „neunundvierzig Stufen” zu erklimmen, die, wie der Talmud behauptet, in der Deutung einer jeden Stelle der Tora zu ersteigen seien. Gewiss, ein wenig anstrengend ist sein Werk. Aber es ist auch eines der großen Zuneigung und der großen Vertrautheit mit der Literatur.
THOMAS STEINFELD
ROBERTO CALASSO: Die neunundvierzig Stufen. Essays. Aus dem Italienischen von Joachim Schulte. Carl Hanser Verlag, München 2005. 386 Seiten, 25,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2005

Brechts Kitschkruste
Auslegungen: Roberto Calassos Aufsätze zur deutschen Literatur

Seitdem Silvio Berlusconi die italienische Verlagslandschaft leer gekauft hat, glänzt das Mailänder Verlagshaus Adelphi wie ein Solitär. Die deutschsprachige Literatur bildet einen Schwerpunkt des exquisiten Programms; von Nietzsche bis Robert Walser findet der italienische Leser die besten transalpinen Schriftsteller in meist guten Übersetzungen und in schöner graphischer Form. Der Leiter des Hauses, Roberto Calasso, tritt dort selbst als Autor auf, als Essayist, Philosoph und Kenner der österreichischen, der Schweizer und der deutschen Literatur; soeben ist eine Auswahl seiner zwischen 1969 und 1990 entstandenen Versuche erschienen. Calasso schreibt feingeschliffene Essays jenseits schulgermanistischer Gewohnheiten und literaturwissenschaftlicher Moden: Er trägt individuelle Erkundungsgänge vor; sie betreffen Max Stirner und Karl Kraus, Frank Wedekind und Gottfried Benn. Allgegenwärtig ist der Schatten Walter Benjamins.

Der auffällige Titel der Aufsatzsammlung "Die neunundvierzig Stufen" spielt an auf den Talmud, der davon spricht, jede Stelle der Tora sei in neunundvierzig Sinnstufen zu erklären. Walter Benjamin hat in einem Brief an Max Rychner diese Talmudstelle zitiert, um zu erklären, daß er wie ein Theologe vielstufige Exegese treibe. Die einstufigen Lehrbücher des "Diamat" waren seine Sache nicht. Nun sind wir daran gewöhnt, daß ein Text zwei oder drei Bedeutungen haben kann. Antike Philosophen erfanden im Umgang mit Homer die Theorie vom mehrfachen Schriftsinn; Theologen redeten dann von der vierfachen Bedeutung eines heiligen Satzes. Das war schon viel für Leser, die eine einfache Erklärung suchten, aber was sollen wir erst mit neunundvierzig Auslegungsarten anfangen? Das geht ins Uferlose; die Spiegelungen setzen sich unendlich fort. Keine einfache Deutung behält Bestand. Daran muß der Leser dieses Buches sich gewöhnen: Hier spiegelt Karl Kraus sich in Walter Benjamin, Benjamin in Bert Brecht, Brecht in Kleist, und so geht es in immer neuen Brechungen und Assoziationen weiter.

Alle Aufsätze sind Auslegungen; alle beziehen sich auf andere Texte. Die Vorstellung, ein einzelner Mensch habe das Recht und die Möglichkeit, von sich aus über das Ganze der Gesellschaft, gar des Lebens zu urteilen, gilt hier als altmodische Befangenheit. Die Zeit des Autors ist vorbei. Oder wie Calasso das formuliert: "Wer sich in einer Gesellschaft nicht mehr wiedererkennt - und dies ist die Lage der gesamten neuen Kunst -, der anerkennt auch nicht das Schein-Ich, das ihm von der Gesellschaft zugestanden wird, wenn sie ihn mit heimtückischer Großmut dazu auffordert, sich zu äußern." Wir treten wieder ein in ein Zeitalter der Kommentare. So sind die meisten der hier vorgelegten Studien Vorworte zu Ausgaben von Übersetzungstexten bei Adelphi. Sie dokumentieren den vielleicht wirksamsten Versuch, deutschsprachige Philosophie und Literatur nach Italien zu vermitteln; jedenfalls ist es der intelligenteste und raffinierteste. Massimo Cacciarei, der als Konkurrent auftreten könnte, wirkt daneben wolkig und willkürlich.

Wir haben es also mit einer bedeutenden Sammlung von Essays zu tun, nur darf der Leser nicht den Fehler begehen, dieses Buch vom Anfang bis zum Ende zu lesen. Er muß hinten anfangen, also mit dem schlanken und eleganten Text über den Gegensatz von Fabeln und Wissen. Er fährt fort mit einem dichten Essay über Gottfried Benn, der zur Folge hat, daß man Benns "Gehirne" neu liest. So geht es weiter zurück bis zu dem glänzenden Versuch über Max Stirner, der so witzig ist wie informativ. Immer weiter, vom Rücken her ins Innere stoßend, trifft der Leser auf Bert Brecht, den ihm Calasso folgendermaßen vorstellt: "Brecht ist - ebenso wie Lorca, Lukács, Sartre und Pavese - triumphal und schon seit geraumer Zeit als einer der Helden einer umfassenden Halbkultur mit guten und progressiven Absichten aufgenommen worden. Daher muß man, um ihn heute zu lesen, zuallererst die auf seinen Texten abgelagerte dicke Kruste erhabenen Sozialkitsches abkratzen. Ein lästiges, aber nicht allzu beschwerliches Unterfangen."

Genüsse dieser Qualität erwarten den Leser. Aber er muß von der hinteren Umschlagseite nach vorne dringen, denn mit aristokratischer Geste, wie sie Stefan George angestanden hätte, verzichten Autor, Übersetzer und Verlag auf jede Art von Hilfe. Dem Leser, der mit Mühe auf Stufe 17 oder schließlich 34 angekommen ist, wird unbarmherzig klargemacht, daß es noch 15 weitere Assoziationsfelder geben wird. Das Buch hat etwas nobel Verqueres an sich; es ist das selbstbezogene Edelprodukt eines Verlagsherrn, dem kein Lektor zu sagen wagt, daß er sich verstiegen hat. Irgend jemand hat vergessen, daß der so verdienstvolle Herr Calasso nicht der Heilige Geist und daß sein Text nicht der Talmud, sondern der Essay eines italienischen Germanisten ist. Der Verfasser hat seine älteren Texte, die den Anfang des Buches bilden, selbst charakterisiert, als er von dem großen Florentiner Historiker Delio Cantimori schrieb, seine pädagogischen Erwägungen gegen Nietzsche hätten "in vornehmster und gequältester Form etwas überaus Verfilztes".

Das gute Dutzend dieser Versuche ist chronologisch angeordnet. Dies bietet den Vorteil, die geologischen Schichten der intellektuellen Mailänder Schickeria der letzten zwanzig Jahre zu dokumentieren. Aber der deutsche Benutzer braucht etwas anderes. Für ihn wäre der Hinweis nützlich gewesen, er könne mit den Artikeln im "Corriere della Sera" oder mit dem Kurztext über Benn beginnen. Denn hier steigt der Verfasser von seinem hohen Roß, oder sagen wir mit dem Talmud: von seinem fünfzigstufigen Turm und redet kolloquial mit seinen Lesern.

Roberto Calasso: "Die neunundvierzig Stufen". Essays. Aus dem Italienischen übersetzt von Joachim Schulte. Hanser Verlag, München 2005. 383 S., geb., 25,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Als bedeutende Essaysammlung lobt Rezensent Kurt Flasch diese Aufsatzedition des Philosophen und Adelphi-Verlagschefs Roberto Calasso. Gleichzeitig schilt er es jedoch als "selbstbezogenes Edelprodukt" eines Verlagsherren. Zwar beeindruckt ihn der feingeschliffene Stil der Texte ebenso wie deren individueller Diskurs, der aus Flaschs Sicht auf seinen Erkundungsgängen jenseits schulgermanistischer Gewohnheiten und literaturwissenschaftlicher Moden denkt. Oft hat die Sammlung für ihn auch "etwas nobel Verqueres". Manchmal sitzt ihm der Autor auf einem zu hohen theoretischen Ross. Deshalb sieht sich der Rezensent gezwungen, eine kleine Lesehilfe zu geben. Um in dem vollen Genuss der Qualität dieser Texte zu kommen, empfiehlt er, das Buch von hinten zu beginnen: also mit dem "eleganten Text über den Gegensatz von Fabeln und Wissen", dann mit dem "dichten Essay über Gottfried Benn" fortzufahren um zum "glänzenden Versuch" über Max Stirner vorzudringen. Im Innern schließlich treffe man dann auf Bert Brecht, dessen soziale Kitschkruste Calasso abkratze.

© Perlentaucher Medien GmbH"