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"Wenn ich nichts mehr zu leben habe, schreib' ich mein Leben." Schon mit den Formen seines Namens, "Jean Paul", "Richter", spielt er seine Metamorphosen durch, und erst recht mit seinen fiktiven Figuren. Dieses Buch versammelt wichtige autobiographische Texte und unveröffentlichte Notizen aus dem Nachlass des immer noch unbekannten Klassikers.

Produktbeschreibung
"Wenn ich nichts mehr zu leben habe, schreib' ich mein Leben." Schon mit den Formen seines Namens, "Jean Paul", "Richter", spielt er seine Metamorphosen durch, und erst recht mit seinen fiktiven Figuren. Dieses Buch versammelt wichtige autobiographische Texte und unveröffentlichte Notizen aus dem Nachlass des immer noch unbekannten Klassikers.
Autorenporträt
Johann Paul Friedrich Richter (21. März 1763-14. November 1825), entstammte einem Pfarrhaus im Fichtelgebirge, studierte Theologie in Leipzig, war später Hauslehrer und Leiter einer Privatschule, lebte in Weimar, Berlin, Meiningen, Coburg und, in seinen späteren Jahren, in Bayreuth.

Helmut Pfotenhauer, geboren 1946, ist Seniorprofessor für Germanistik an der Universität Würzburg. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, u. a. über Literarische Anthropologie, über Sprachbilder, über die Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Lange Jahre war er Präsident der Jean-Paul-Gesellschaft; seit zwei Jahrzehnten werden unter seiner Leitung die nachgelassenen Handschriften Jean Pauls herausgegeben und eine neue historisch-kritische Ausgabe seiner veröffentlichten Werke.

Helmut Pfotenhauer, geb. 1946; 1974 Promotion, 1982 Habilitation; 1982-87 Privatdozent an der Universität Erlangen, seit 1987 Professor am Institut für Deutsche Philologie der Universität Würzburg; Gastprofessuren in Österreich und Italien; seit 1997 Präsident der Jean-Paul-Gesellschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004

Der Wicht als Wille und Wohnung
Jean Paul will sein Leben erzählen und gerät in die Fallstricke des autobiographischen Schreibens / Von Henning Ritter

Die Zeiten, in denen man einem Dichter der klassischen Literaturperiode einen Gefallen tun konnte, indem man ihn zu einem modernen erklärte, sind vorbei. So würde Jean Paul, der in seiner Jugend so erfolgreiche, in seinen späteren Jahren dagegen und erst recht in seinem Nachleben ein wenig ins Abseits geratene Autor, von einer Entdeckung als Zeitgenosse unserer Postmoderne nur wenig profitieren. Doch daß er tatsächlich über alle Finessen der heutigen Reflexion über die Autorfunktion oder den Schreibprozeß, über die Schrift und das Leben gebot, sollte wenigstens der Gerechtigkeit halber gesagt werden. Die unter dem charakteristisch kauzigen Titel "Lebenserschreibung" zum ersten Mal gesammelt veröffentlichten und nachgelassenen autobiographischen Schriften Jean Pauls enthalten auf jeder Seite Reflexionen zum eigenen Schreiben und zum Schreiben überhaupt, wie man sie in solcher Dichte und Nichtfestgelegtheit kaum bei einem anderen Autor finden kann.

Da die von Eduard Behrend begründete Ausgabe der Werke und des Nachlasses in jüngster Zeit bedeutende, bisher unveröffentlichte Merkblätter und Hefte aus der legendären Werkstatt Jean Pauls herausgebracht hat, steht einem aufgefrischten Interesse an diesem unerschöpflichen Autor nichts im Wege. Jean Paul ist für Renaissancen gut. Ein Ereignis war der Jean Paul des George-Kreises, der hier vom zweifelhaften Ruhm des Idyllikers befreit wurde. Auf dem von Madame de Staël gebahnten Umweg über Frankreich, von wo die Georgianer ihr Jean-Paul-Bild bezogen, hatte er das Provinzielle verloren und wurde nun als "größte poetische Kraft der Deutschen" empfohlen, wie Karl Wolfskehl schrieb. Wohlgemerkt: nicht als Poet, sondern als poetische Kraft. In dieser Formulierung wirkte die alte Konkurrenz mit Goethe nach, die Deutschlands Publikum am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gespalten hatte. Für diesen frühen Ruhm hatte er einen hohen Preis gezahlt, er hatte sich wie ein Albdrücken auf sein Spätwerk gelegt.

Nach der Wiederentdeckung des Romanwerks in den fünfziger und sechziger Jahren, die durch die Ausgabe von Walter Höllerer und Norbert Miller möglich wurde, bleibt noch ein Jean Paul zu entdecken, der Autor der legendären Merkbücher, Studienhefte und Zettelkästen. In dieser ungeheuren Stoffülle erst wird sichtbar, welch genauer und kritischer Beobachter seiner selbst und seiner Schriftstellerei dieser überbordende Erzähler, der Serienproduzent von Metaphern und Bildern, gewesen ist. Der Einfallsreiche, dem man eine Kontrolle seiner Phantasie kaum zutraut, erweist sich als ungewöhnlich heller Kopf, der seine Feuerwerkskaskaden mit größtem Bedacht abschießt. Kurz, ein Philosoph.

In einem der wenigen längeren Stücke dieses Buches, das aus Notizen von nur wenigen Zeilen besteht, gibt Jean Paul seine Zweifel an der Ich-Gewißheit der Philosophie der Zeit zu Protokoll: "Ich als Ich kann mir nichts sein. nur als eine Kraft. die das Gute, Wahre p. liebt. Jedes Ich ist dann so viel wie meines. Denn Ich allein als Ich, d.h. abgeschieden, abgesprungen von der Ich-Menge finden keinen Vorzug voraus, wenn er nicht in etwas, was nicht zum bloßen Ich gehört, in der Liebe für Schönheit, Güte, Wahrheit besteht; aber dann wäre sogar Gott als reines Ich für sich nicht, sondern nur durch Wahrheit, Güte, Schönheit." Als Schlußsatz fügt er die abgründige Frage hinzu: "Nur wer sind diese, woher kommen diese?"

Montaigne ist der am häufigsten und mit der größten Emphase genannte Name in dieser Sammlung autobiographischer Reflexionen. Zwei Philosophen mit ähnlich beweglichem und vielgestaltigem Ich treffen sich hier. Wie Montaigne seine "Essais", so macht Jean Paul seine nahezu lebenslangen autobiographischen Versuche zu einem fortdauernden Experiment mit der Identität seines Ich. Mehrfach erwägt Jean Paul, Montaignes Essais, die, gleich wovon sie handelten, stets ein neues Licht auf das finessenreiche Ich ihres Verfassers warfen, zum Muster für seine Lebensbeschreibung zu nehmen: "Mach' es in lauter Digressionen; setz' es aus Versuchen à la Montaigne zusammen." Und noch in den spätesten Notizen heißt es: "Kurz, Montaigne, soweit es geht." Das Leben soll in Gedankenfolgen gleichsam aufgeschlagen werden, seine Beschreibung will thematisch bewältigt sein.

Der andere Name, der ebenso häufig genannt wird, ist der Goethes, des Verfassers von "Dichtung und Wahrheit" - für Jean Paul ein Muster, wie eine Selbstbiographie nicht geschrieben werden sollte. Man spürt das Trauma der berühmten Begegnung zwischen beiden, von der Jean Paul den Eindruck der Eiseskälte zurückbehielt und nicht mehr revidierte. Auch hier ist noch einmal vom "Eispalast" des Dichters die Rede, der andere nicht an sich herankommen lasse, damit dieser nicht schmelze.

Die autobiographische Differenz zwischen Goethe und ihm selbst hat Jean Paul prägnant erfaßt: "Mein Leben kann nur ich beschreiben, weil ich das Innere gebe; das von Goethe hätte ein Nebenherläufer beobachten und also mitteilen können." Wenn es nur so einfach wäre, daß Jean Paul der Schilderer seines Inneren hätte sein wollen. Auch er war doch ein "Nebenherläufer" seiner selbst, wie die unendlichen Komplikationen seiner "Selberlebensbeschreibung" belegen. Sie waren so erheblich, daß das schon in den neunziger Jahren sich abzeichnende und bis zu seinem Tod im Jahre 1825 fortgeführte Selbstbiographie-Projekt am Ende nur in Splittern und Bruchstücken realisiert war. Einzig seine "Konjekturalbiographie", der Entwurf seiner "bevorstehenden Lebensgeschichte", erreichte das Publikum. Die Futurisierung war dabei der Trick, um die Kontingenz der Lebensgeschichte ins rechte Licht zu rücken.

Die anderen Entwürfe erreichten kaum je das Stadium der Niederschrift. Etwas anderes geschah: Der Wille zur Autobiographie setzte eine anhaltende Reflexion über das Schreiben in Gang, die zunehmend sich selbst genügte. Die aus diesen Reflexionen gewonnenen Auskünfte über das Ich waren von einer Erzählung nicht einzuholen, es sei denn, der Autor wählte, wie er es gelegentlich getan hat, den Ausweg ins Phantastische. So gut wie keine Szene aus Jean Pauls Leben hat den Weg auf die Seiten seiner Merkhefte gefunden, in denen er über sein Leben spekulierte. Der erzählerische Impuls scheint stillgestellt, und alles, was hier erwogen wird, ist nur dazu angetan, das Erzählen zu entmutigen. Einmal, in späten Jahren, erscheint wie ein rettender Ausweg die Erwägung, das Leben einfach zu schildern: "Am Ende ist die einfachste Erzählung im eigenen Namen die beste." Es ist der einsame Stoßseufzer eines Einsamen, dessen Gedanken unaufhörlich um seine Autorexistenz kreisen und der schließlich entdeckt, daß er jedenfalls eines ist: der Autor seiner Einsamkeit.

Jean Pauls geplante Autobiographie wird schon früh zu einem einzigen Nachdenken über die Möglichkeit des Autobiographischen, wie Helmut Pfotenhauer in seinem klugen Nachwort feststellt, zu einer Art transzendentaler Autobiographik. Was für die Ich-Philosophie der Zeit, die Jean Paul aufmerksam beobachtete, die Arbeit am Bewußtsein war, das war für Jean Paul die Dauerreflexion über das schreibende Ich. Wie ein Schwarzes Loch saugt das Schreiben alle Lebenspartikel in sich auf, verwandelt sie in Werke, die wiederum in Leben zurückwirken und den Autor verwandeln, ihn aber auch seinem eigenen Leben entziehen. Den Wegen der Verwandlung des Lebens in Literatur und umgekehrt ist Jean Paul bis zum Zweifel an der Substantialität des Lebens gefolgt. Waren die Bücher ein besseres, substantielleres Leben? Eine beständige Anstrengung seiner Aufzeichnungen zielt darauf, den Autor gegen die Illusion zu wappnen, daß er in seinen Werk lebe und fortlebe. Das Leben läßt sich nicht in die Ewigkeiten der Literatur retten, denn auch sie waren nur "Eintagsfliegen".

Allenfalls konnte der Versuch gemacht werden, die Auflösung des Lebens in Literatur so ausgreifend wie möglich zu betreiben: "Schreib alles auf", lautet der Imperativ, dem Jean Pauls literarische Sammelwut gehorcht. Nichts kann, zumal im eigenen Leben, zu gering und zu klein sein, um die Aufmerksamkeit des Autobiographen nicht zu verdienen. Auch Träume waren für Jean Paul unerschöpfliche Auskunftsquellen, er wußte schon, was dann Freud noch einmal entdeckte: "Die höchste Psychologie wäre aus dem Traum zu lernen." Eine größere Erweiterung des Bereichs literarischer Aufmerksamkeit, als Jean Paul sie in seinen autobiographischen Schreiben vollzogen hat, hat es, zumindest in der Literatur seiner Zeit, nicht gegeben. Das Unscheinbarste kann den Schlüssel zur biographischen Wahrheit geben - wenn es sie denn gibt. Auf Jean Pauls Expeditionen verschwindet das Ich allmählich, es wird immer unscheinbarer und bedeutungsloser: "Wenn ihr wüßtet, wie wenig ich nach J. P. F. Richter frage; ein unbedeutender Wicht. Aber ich wohne darin im Wicht."

Erträglich mögen solche Verkleinerungen und Selbstverkleinerungen diesem Autor gewesen sein, weil sie die Bedeutsamkeiten von der Welt ins Schreiben verschoben. So wird schließlich das vergangene Leben des Autors, das ins Gefäß der Selbstbiographie gegossen werden sollte, vom Präsens der Niederschrift verdrängt. Damit schiebt sich eine zweite Erfahrungswelt in den Vordergrund: "Das Wichtigste in einer Autobiographie eines Autors ist eigentlich das seines Schreibens, der Schreibstunde, seiner körperlichen Verhältnisse zu seinen Arbeiten." Die ideale Selbstbiographie wäre die Schilderung ihres Schreibens und der Befindlichkeiten des Autors dabei. Was so schreibverliebt wirkt, hatte jedoch eine nach außen gewandte Seite, die in der Bemerkung aufscheint, das Schreiben sei doch das Beste an diesem "septembrisierenden Säkulum", wie er es unter dem Eindruck der Septembermorde während der Französischen Revolution nennt.

Jean Pauls selbstbiographische Versuche dokumentieren zweifellos die Geschichte eines Scheiterns. Aber die Sammlung ihrer Gedankenspuren bilanziert erstaunliche Einsichten über die Fährnisse, wenn nicht gar die Unmöglichkeit, das eigene Leben zu beschreiben. Die im Schreiben gewonnenen Erkenntnisse über das eigene Leben beleuchten die lebensdienlichen Fiktionen und Illusionen, mit denen das Leben arbeitet. So zerfällt unter Jean Pauls autobiographischem Vergrößerungsglas auch die behagliche Vorstellung einer Kontinuität der Erinnerung. Die Stimmungen einzelner Lebensabschnitte beruhen auf den Täuschungen durch die literarischen Formen ihrer Beschreibung. Die Kindheit wird notwendig zur verklärenden Idylle, weil anders das kostbare Erinnerungsmaterial nicht geborgen werden kann.

Jede Lebensgeschichte sucht ihren Autor. Und jeder Autor gibt ihr die Farbe seiner Palette. Die schönsten Passagen seiner Kindheit und Jugendzeit hat Jean Paul als Vorlesungen eines "Professors der Geschichte seiner selbst" fingiert, vielleicht weil er so sehr zum Spezialisten seines Lebens geworden war, daß er nur vom Katheder darüber sprechen konnte. Außerdem brauchte er Distanz, um die Kindheitserinnerungen endlich "ablegen" zu können. Aber dieses Gelingen schuf unüberwindliche Schwierigkeiten für die Fortsetzung.

Die späten und spätesten Aufzeichnungen zeugen von einer anrührenden Bescheidenheit dem eigenen Leben gegenüber: Die Hauptsache sei, daß etwas da sei. Der Preis dafür war die Unmöglichkeit der Beschreibung des äußeren Lebens: "Meine inneren Phantasien und Darstellungen haben mir das äußere Leben abgeflacht und verzehrt." Das lebenslang zerlegte Ich taugte nicht mehr für eine Neuzusammensetzung. Es hatte eine Qualität angenommen, die zwar für die verlorene Ewigkeit des Schriftstellerruhms nicht entschädigen konnte, aber doch etwas versprach, was über die Lebenszeit hinausdeutete: "Unaufhörlichkeit". Das Wort läßt an Wagner und Nietzsche denken.

Jean Paul: "Lebenserschreibung". Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften. Herausgegeben von Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Meißner. Hanser Verlag, München 2004. 495 S., geb., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.06.2005

Bosheit im Herzen aus Marzipan
Jean Pauls autobiographische Schriften in einer Leseausgabe
Das Werk von Jean Paul gleicht einer köstlichen aber schweren Speise, die man nur in kleinen Mengen verträgt, aber immer in Bergen vorgesetzt bekommt. Es ist nicht einfach, hier genießbare Portionen abzuteilen; denn zwischen das Größte und das Kleinste, die Gesamtausgabe und die Stelle irgendwo im Werk, tritt bei diesem Autor nichts; nicht das Kapitel, nicht das durch seinen Deckel abgesonderte Einzelbuch. Nicht einmal der Unterschied zwischen Früh- und Altersstil markiert einen echten Einhalt. So neigt denn dieses Werk dazu, auf dem Regalbrett, das es trotz Dünndruck vollständig ausfüllt, unangetastet stehen zu bleiben, als ein stiller dauernder Vorwurf an den Leser.
Alle Versuche, dieses Werk aufzuschütteln und Luft an seine einschüchternde Kompaktheit zu bringen, sind darum willkommen. Vor einiger Zeit haben dies Thomas Wirtz und Kurt Wölfel getan, die Aphorismen auslasen; nun tut es der Würzburger Ordinarius Helmut Pfotenhauer, unter Mitarbeit von Thomas Meißner. Er nennt seine Auswahl „Lebenserschreibung” und stellt Texte zusammen, in denen Jean Paul die innige Verbindung dieser beiden Dinge, Schreiben und Leben, reflektiert: Die „Konjektural-Biographie”, die sich Eheleben und Alter des zum Zeitpunkt der Entstehung noch unverheirateten Autor-Protagonisten ausmalt; die „Selberlebensbeschreibung”, die über die Kindheit nicht hinausgedeiht und schon bald voll Unlust abgebrochen wird; und eine Reihe von Kladden und Arbeitsheften, vor allem das umfängliche „Vita-Buch”. Diese Auswahl ist, wie der Herausgeber zugibt, nicht frei von Willkür, denn eigentlich hat Jean Paul keine einzige Zeile verfasst, in der nicht sein Leben in sein Schreiben hinüberfloss und sich verausgabte. Die physisch-biografische Existenz, seinen Körper, seine geliebte Familie, selbst Wein und Bier, die er mehr als reichlich und schon in den Morgenstunden zu sich nahm, sah er nur als Mittel an, um Stoff zu haben und in Stimmung zu kommen; vom Dasein begehrte er nichts als den Genuss dieses Vorgangs, so dass sich ebensogut von einer Schreibenserlebung sprechen ließe.
Bienen im Mondschein
Auf die Kriterien der Auswahl jedoch kommt es weniger an, als dass dieses Werk überhaupt nach einem bestimmten Prinzip aufgebrochen und zugänglich gemacht wird. Zuweilen mit Unbehagen, doch immer voll Bewunderung sieht man ein um das andere Mal, wie Denken und Fühlen bei Jean Paul zur völligen Einheit zusammenströmen, die einem Unbetrunkenen wohl in der Tat nie gelingen wird. Das aus den skurrilsten Lesefrüchten gekelterte, doch immer empfundene Bild ist da und ruft den Gedanken herbei; der Vergleich überflügelt das Verglichene und nimmt es mit. „,Bienen besuchen Lindenblüten noch im Mondschein’. Eine solche Stelle zieht schon als Metapher, als eine poetische Entzückung in mich ein, ob ich gleich noch nicht wußte, wo sie zu gebrauchen.” Gebraucht wird sie auf alle Fälle - wie der sorgfältige, auf der Edition von Götz Müller fußende Anhang belegt, nicht weniger als fünf Mal in fünf verschiedenen Büchern.
Welchen anderen Schriftsteller gibt es außer Jean Paul, der dem leidigen Nacheinander der Zeilen, jede immer schon fort, wenn die nächste folgt, so wirkungsvoll das Ganze einer Landschaft abzulisten vermag? Sie öffnet sich der staunenden, dankbaren Seele auf einmal; und weiter braucht in diesen Romanen eigentlich nichts zu geschehen. „Wenn der reiche Frühling sich vor mir die Ebenen hinablagert und Wälder und Schmetterlinge und Blumen auf dem Schooße hält - und wenn es überall rauschet wie von einem herabkommenden unendlichen Leben - und wenn die Wasserwerke und Getriebe der Schöpfung wie in einem Bergwerk donnernd auf- und niedersteigen - und wenn das weite wogende Leben sich nach Jugend und Ferne und nach Süden drängt, wie die Polarmeere nach dem heißen Erdgürtel: so führen die Wogen wieder das Menschenherz mit sich fort, und es will in die Ferne und in die Zukunft, und ich blicke schmachtend nach den fernen dunkeln Bergen gleichsam wie nach den Jahren, die in der Zukunft ruhen ---- aber dann ruft plötzlich etwas zu mir: erwache, nimm Abschied von der Zukunft und liebe die Gegenwart!” Fragt man, was hier diesen wohltuenden Eindruck des Zusammenklingenden, des simultan vorhandenen Gemäldes, mit einem Wort des Gesamtkunstwerkhaften erweckt: so trifft man auf den kalkulierten Satzbau, der die Reihung mit dem weitesttragenden aller hypotaktischen Bögen, dem konditionalen, verbindet.
Dann plötzlich wieder stülpt sich die romantische Weite um ins Sofa-Idyll, mit sieben musizierenden Kindern, geschäftiger Hausfrau und einem Christbaum, den Marzipanherzen schmücken; dies wird dem Hausfreund und Leser angekündigt als die innige Seligkeit, auf die er sich bei seinem Besuch gefasst zu machen hat. Es ließe ihn ersticken, fände er nicht auch in dieser Sphäre solche Sätze: „Mein Vergnügen, zwei gegen einander feindliche Hunde zugleich auf dem Schosse zu haben.” Aufatmend stößt man im Übersüßen der tränenfeuchten Rührung auf ein Körnchen fast dämonischer Bosheit.
BURKHARD MÜLLER
JEAN PAUL: Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften. Hrsg. v. Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Meißner. Carl Hanser Verlag, München 2004. 495 Seiten, 34,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Eigentlich wollte Henning Ritter erklärtermaßen auf den abgenudelten pädagogischen Kunstgriff verzichten, wonach man einfach die Modernität von angestaubten Klassikern unterstreichen muss und schon werden sie wieder gelesen. Am Beispiel von Jean Paul kommt er dann doch nicht umhin, ihn als mit allen Wassern der Postmoderne gewaschenen Literaten zu präsentieren. Die nun erstmals gesammelt veröffentlichten autobiografischen Schriften enthalten nämlich auf jeder Seite Reflexionen zum eigenen Schreiben und zum Schreiben überhaupt, verrät der Kritiker, dem allerdings die Komplizenschaft Jean Pauls mit der Postmoderne nicht sonderlich profitabel erscheint. Eine große Autobiografie hatte Jean Paul immer schreiben wollen und dieses Projekt wird "schon früh zu einem einzigen Nachdenken über die Möglichkeit des Autobiografischen". Die selbstbiografischen Versuche dokumentieren für den Rezensenten insgesamt eine Geschichte des Scheiterns, wenngleich eine äußerst fruchtbare. So lässt es sich Henning Ritter nicht nehmen, den "kritischen Beobachter seiner selbst" einen "ungewöhnlich hellen Kopf", kurz, einen Philosophen zu nennen. 

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