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Produktdetails
  • btb
  • Verlag: btb
  • Seitenzahl: 410
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 355g
  • ISBN-13: 9783442726110
  • ISBN-10: 3442726115
  • Artikelnr.: 08510867
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2000

Die rotblaue Mütze des Windgottes
Wissenskammer und Autobiografie – ein Buch vom Wind, von Jan DeBlieu
Im letzten Absatz ihres Epilogs sucht die Autorin Jan DeBlieu Bilder für das, was, dem Gedicht „Who can see the wind” von Christina Georgina Rossetti zufolge, nur die Schweine sehen können: den Wind. Ihren eigenen Wind – zu Hause auf den Outer Banks in North Carolina – stellt Jan DeBlieu sich als einen unberechenbaren Drachen vor, die globalen Winde eher als eine pulsierende, lebenserhaltende Membrane. Aber ganz zuletzt gibt es für sie nur noch transkulturelle Synonyme, das hebräische Ruwach, das griechische Pneuma, das Nilch’i der Navajo, das Gaoh der Iroquois und das Ruh der Araber, Wörter, die alle das Gleiche meinen: Wind, Atem, Geist.
„Wie die Luftströme Leben, Land und Leute prägen” – der deutsche Untertitel opfert der eingängigen Alliteration die Komplexität des amerikanischen „How the flow of air has shaped life, myth and the land. ” Immer hat Jan DeBlieu beide Dimensionen im Auge, die physikalische und die spirituelle. Dieses doppelte Interesse wird bereits markiert durch die Motti, die sie ihrem interdisziplinären Buch vorangestellt hat. Das eine, aus einem Gedicht von A. A. Milne, „weiß” nicht, woher der Wind kommt und wohin er geht, das andere, aus einem Gebet, bittet Gott darum, er möge wie der Wind kommen und Reinheit bringen.
Das erste Kapitel stellt eine Ouvertüre dar. In ihr „erklärt” Jan DeBlieu den Wind und „erzählt” aus ihrem Leben. Sie liefert anschauliche Informationen über die Naturgesetzlichkeiten: „Streng wissenschaftlich betrachtet, könnte man den Wind mit einem Uhrwerk vergleichen, das aus gasförmigen Komponenten besteht. Die Hitze der Sonne und die Rotation der Erde bringen das Gefüge zum Ticken und ziehen es immer wieder neu auf. Als Triebwerk wirkt die natürliche Tendenz der Luft, in erwärmtem Zustand hochzusteigen und beim Abkühlen nach unten zu sinken. ” Und gibt vielschichtige Impressionen wieder: „Ich stehe gegen Abend am Strand und blinzele vorsichtig in das Drachenmaul eines Sturmwindes. Der Luftstrom treibt mir Tränen in die Augenwinkel und weiter über die Schläfen. Ozeanwellen steigen hoch auf und brechen rapide, rollen wie Panzer über den Strand, aufgewühlt zu einem hässlichen schäumenden Blau-Braun. ” So wie das erste Kapitel dem Wind und dem Motiv, über ihn zu schreiben, auf den Grund geht, so finden sich im letzten Züge einer apokalyptischen Vision, mit selbstverschuldeten Wüsten, Wolkenbrüchen und Hurrikanen: „Wer von unseren Vorfahren hätte es wohl für möglich gehalten, dass wir eines Tages die Allmacht besitzen werden, den Atem Gottes neu zu formen?”
Jan DeBlieus Buch ist eine Wunder- und Kunstkammer des Windwissens: Mythen und Historien, die Vögel und die Bäume, der Sand und das Meer, Körper und Geist, die Windenergie und die Orkane. Aber nie stellt sie ihr kulturgeschichtliches und naturwissenschaftliches Wissen nur aus; immer ist es eingebettet in die autobiografische Erzählung. Sie kann sich den Überlieferungen hingeben: „Der chinesische Gott des Windes . . . ist ein alter Mann namens Feng Po, der mit Stolz einen langen weißen Bart und eine blau-rote Mütze trägt und in einem über die Schulter geworfenen Sack die Winde mit sich führt”. Sie staunt über das Wunder des windfühligen Albatrosflügels, bei dem jeder einzelne Knochen und jede einzelne Feder Muskeln besitzt, so dass er sich noch der geringsten Luftveränderung anpassen kann. Sie berichtet über Frachter, die mal einen Container mit 80 000 Nike-Sportschuhen oder mit 28 000 Plastiktieren für die Badewanne, mal 39 000 Ausrüstungsteile für Eishockeyspieler verloren haben: Aus den Angaben über die Fundorte des Strandguts ließen sich Computermodelle für verschiedene Oberflächenströmungen entwickeln. Am Ende zitiert sie, aus A Story Like the Wind von Laurens van der Post, einen inhaftierten Buschmann, der in seiner Zelle auf den Wind wartet, um Neuigkeiten aus seinem Dorf zu erfahren: „Ich höre nur zu . . ., ich halte Ausschau nach einer Geschichte, die ich hören möchte, und warte, dass sie in mein Ohr fließt. ”
Jan DeBlieu ist abgeklärt genug, um vom Wind nach wie vor „Erzählungen” zu gewärtigen. Es ist wohltuend, dass sie sich für das Weitererzählen 400 Seiten Zeit genommen hat. (Jetzt noch einmal, und mit neuer Kompetenz, Hans Boeschs Der Kreis lesen oder Gerhard Maiers Land der Winde oder die wunderbare Fuga/Fuge des dänischen Schriftstellers Ivan Malinowski: „Voll seufzer und jubel / licht und verwirrung / ist der wind in der welt. / Mit dem mund voll / toter bauern / und blanker touristenflugzeuge / ruft er im raum / über Anden und Alpen / piept wie eine maus / in den kleinsten löchern / und den größten wüsten / flüstert im schilf. ”)
HERMANN WALLMANN
JAN DEBLIEU: Vom Wind. Aus dem Amerikan. von Gabriele Zelisko. btb 72611, München 2000. 411 S. , 18 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Wind, der Geist, weht wo er will. Jan DeBlieu hat er seine eigene Geschichte eingegeben. Hermann Wallmann findet sie richtig gut. Immer bleiben "beide Dimensionen, die physikalische und die spirituelle" im Blick und auch wenn sich DeBlieu den "Überlieferungen hingibt" bleibt er "abgeklärt". Von verlorenem Frachtgut ist da die poetische Rede, die aber zurückführt in die Welt der Technik: "Aus den Angabe über die Fundorte ? ließen sich Computermodelle für verschiedene Oberflächenströmungen entwickeln." Inspiriert von dem Buch will der Rezensent erst mal wieder Gedichte und Romane lesen, in denen der Wind ein Lied erzählt.

© Perlentaucher Medien GmbH