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Produktdetails
  • Verlag: Goldmann
  • Seitenzahl: 223
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 410g
  • ISBN-13: 9783442308477
  • ISBN-10: 344230847X
  • Artikelnr.: 24072930
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2000

Unter blauen Tüchern
Die Inder kommen doch: Ein Debüt von Raj Kamal Jha

Der Inhaber jenes kleinen indischen Literaturverlages, der Arundhati Roys "Der Gott der kleinen Dinge" 1997 ans Licht gezogen hatte, verschaffte sich unlängst im britischen "Guardian" mit komischer Verzweiflung Luft. Gerade hatte ihn wieder einer jener Briefe erreicht, in dem die Verfasserin eines ungenannten Meisterwerks astronomische Vorschüsse, ihre Nominierung für den Commonwealth- und den Booker-Preis forderte sowie einen Vertrag, der ihr dies alles zusicherte. Erst dann werde sie ihr Manuskript zur Post bringen. Das indische Halali ist geblasen. In Kalkutta und Bombay geben sich Londoner Literaturagenten die Klinke in die Hand, namenlose Autoren und große Velagshäuser wittern Morgenluft. Sie alle hoffen auf eine Fortsetzung von Roys Welterfolg: "Der Gott der kleinen Dinge" verkaufte sich bislang mehr als 400000 Mal, wurde in ein knappes Dutzend Sprachen übersetzt, gewann den Booker Prize und machte die unbekannte Architektin über Nacht reich und berühmt.

Kein Wunder, wenn nun mancher junge Schriftsteller aus Indien im Westen mit großem Trommelwirbel eingeführt wird, so wie jetzt Raj Kamal Jha und sein Debütroman "Das blaue Tuch". Jha, Jahrgang 1966, hat als Journalist in Los Angeles und Washington gearbeitet und gehört zur privilegierten Minderheit derjenigen, die sich überhaupt an dem Goldrausch beteiligen können. Nur zwei Prozent der Inder sind des Englischen mächtig.

Auch Jha spricht zu Hause Hindi und Bengali. Er habe das Englische als "ästhetisches Instrument" bei der Lektüre von Rushdies "Mitternachtskindern" entdeckt, gab er denn auch treuherzig zu Protokoll. Neben seinem Tagewerk als Redakteur des "Indian Express" in Neu-Delhi verfasst Jha nachts Kurzgeschichten. Die waren dem Verlagshaus Picador einen Vorschuss von umgerechnet 400000 Mark wert; einzige Bedingung: Fertigschreiben zum Roman, bitte schnell. Jetzt gilt "Das blaue Tuch" als Indiens zweitgrößter Bestseller aller Zeiten. Jhas Bescheidenheit zeugt dabei noch immer von einer realistischen Selbsteinschätzung: "To do a Rushdie", dazu brauche man dann doch viel Übung, er begnüge sich mit den einfachen Dingen des Lebens.

Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt. Unter dem titelgebenden blauen Tuch geben sich Bruder und Schwester im zarten Alter ersten Liebesspielen hin. Als Icherzähler schildert der Bruder Episoden aus seiner Kindheit. Er kommt aus einer zerrütteten Familie mit einem gewalttätigen Vater, ihm und seiner Schwester bietet das blaue Tuch Zuflucht, unter dem sie sich ihren Himmel vorstellen. Mit neunzehn läuft die Schwester davon, sie taucht 25 Jahre später wieder auf - für einen Tag, um dann auf immer zu verschwinden. Eines Nachts erreicht den Bruder ein Anruf von der Polizeiwache, die Schwester sei tot, aber ihre Tochter, ein gerade geborener Säugling, habe überlebt. Es folgt eine einsame Taxifahrt durch die Stadt mit "zwölf Millionen Namen", dann legt der Bruder seine Nichte auf das blaue Tuch und beginnt noch in derselben Nacht, Geschichten aus der Vergangenheit aufzuschreiben, die das Kind lesen soll, wenn es einmal bei fremden Eltern aufgewachsen ist.

Die Exposition macht manche leere Versprechung. Vergebens sucht man nach einem Sinn in der Struktur des Romans, auf eine "erste Geschichte" folgt keine erkennbare zweite, dafür aber eine "vorletzte" und allerletzte "acht Worte". Dazwischen stehen fünf Romanteile, die nach dem Personal betitelt sind - Vater, Mutter, Schwester, Besucher, Bruder - und deren Kapitel willkürlich scheinende Überschriften tragen wie "Stotterklinik" oder "Kabelfernsehen". Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Jha unter dem blauen Tuch seine fertigen Kurzgeschichten abgelegt hat. Nach wenigen Seiten vergisst der Icherzähler die Rahmenhandlung, er spricht das im Nebenraum schlafende Baby nicht mehr an, um sich seiner später umso heftiger zu erinnern. Am Ende versinkt das ganze Unternehmen in Kitsch: Da werden kleine Herzen "mit ein bisschen Liebe" gefüllt, und "die Stadt liebt einsame Menschen".

Wohlmeinende britische Kritiker wollten hier Spuren von Proust entdecken, von Robbe-Grillet, dem nouveau roman. Jha erwiderte offenherzig, er kenne keinen dieser Autoren. Dafür darf man annehmen, dass er Arundhati Roy gelesen hat. Einiges scheint vertraut: die Liebe der Geschwister und ihre folgende Trennung, auch der Missbrauch des Sohnes. Die Ähnlichkeit der Szenen währt bis zur Auflösung: Roys Estha verschlägt es zeitweilig die Sprache, Jhas Bruder beginnt zu stottern.

Raj Kamal Jha mag durchaus das Zeug zum Schriftsteller haben, viele Formulierungen, treffende Beobachtungen und interessante Bilder legen dies nahe. Um ein solches Talent zu fördern, hätte es einen Lektor gebraucht, der nicht auf die galoppierende indische Inflation setzt. Er hätte Jha zurück ans Reißbrett schicken müssen, um ihn über grundlegende Dinge wie Plot, Denouement und eine entschiedene Erzählperspektive nachdenken zu lassen. Dafür braucht es Zeit. Wir wissen nicht, wie lange Arundhati Roy an ihrem Roman geschrieben hat. Länger als die Nächte des Raj Kamal Jha, länger als die eine Nacht des Bruders bestimmt.

TANYA LIESKE.

RAJ KAMAL JHA: "DAS BLAUE TUCH". ROMAN. Aus dem Englischen übersetzt von Annette Meyer-Prien. Goldmann Verlag, München 2000. 223 Seiten, geb., 36,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Zunächst skizziert Ilja Trojanow in seiner kurzen Kritik den Autor des Romans als einen neuen Star unter den englischsprachigen indischen Autoren. Er hatte sein Manuskript an den Verleger von Arundhati Roy geschickt und erhielt postwendend einen Vorschuss in Höhe von einer halben Million Franken. Den Roman mag Trojanow sehr und schildert ihn als eine Art Novelle voller sehr genauer literarischer Miniaturen - es gehe um Inzest, um Sex, um Liebe. Trojanow gefällt die Atmosphäre der Mattigkeit, der nächtlichen Stille in Kalkutta, in der der Erzähler die Geschichte seiner Schwester und ihres Kindes vor Augen stellt. "Oft werden die Erinnerungen so sanft schraffiert, dass sie sich - kaum haben sie sich eingestellt - zu verflüchtigen scheinen."

© Perlentaucher Medien GmbH