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Produktdetails
  • Verlag: Rotbuch Verlag
  • Seitenzahl: 449
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 852g
  • ISBN-13: 9783434530084
  • ISBN-10: 3434530088
  • Artikelnr.: 23923589
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2000

Unter der Rollsonne
Peter Matthiesens Roman "Far Tortuga" · Von Heinrich Detering

Wenn das Mittagslicht senkrecht fällt, wirft ein Mensch keinen Schatten. Es ist die gefährlichste Zeit des Tages, "weil die Schatten von den Toten fliegen rum und schauen nach Leuten, die wo kein Schatten ham". Die Helden dieses Buches sind Leute, die wo kein Schatten ham, und deshalb hängt der Tod sich an sie und lässt sie nicht los, ehe er sie auf den letzten Seiten hinabgezogen hat in den Ozean. Schildkrötenfänger sind sie, im karibischen Meer zwischen den Cayman Islands, Kuba und Nicaragua. Nur einer dieser Schattenlosen stolpert am Ende doch noch ans blendend weiße Ufer, am äußersten Rand unseres Leserhorizonts, beinahe schon unsichtbar auf der Grenze zum letzten, leeren Blatt.

Aber welche Abenteuer gibt es bis dahin zu lesen! Von Haien und Piraten wird erzählt, von Korallenriffen und Mangrovenküsten und von Indianern auch; selbst wer nicht mehr wissen sollte, was das Wort "Greenhorn" bedeutet, findet die Antwort auf die Eröffnungsfrage von Winnetou nun auch in der Karibik. Einen Abenteuerroman von großem Format hat der in New York lebende Peter Matthiesen geschrieben. Und ein Kunstwerk, dessen erzählerische Meisterschaft weniger an Shatterhand und Schatzinsel denken lässt als vielmehr an Steinbeck, an Melville und Conrad. Wie dort ergibt sich die existenzielle Gleichnishaftigkeit des Geschehens so unaufdringlich von selbst, weil sie in einem erfahrungsgesättigten Realismus gründet.

Auch hier also ist beim Katboot "das Segel auf Gaffel getakelt, und es gibt einen kleinen Klüver"; und wie man Kingfish häutet, ist hier so anschaulich zu lernen wie das Zerlegen des Wals bei Melville. So entsteht trotz aller Bewegung ein gelassener, ruhiger Erzählrhythmus; die Geschichte lässt sich Zeit. Wenn auf Seite zweiundfünfzig das Boot endlich in See sticht, nein: sich langsam "weg vom Ufer bewegt", dann kennen wir seine Besatzung ebenso genau wie die Konstruktion ihres unverdrossen unter dem Namen "Eden" segelnden Schiffes. Und wir wissen von "Far Tortuga", dem fernen Schildkrötenland.

Am Ende ist Far Tortuga wohl nur eine Inselruine irgendwo in der Karibik. Aber es bleibt auch die Fata Morgana eines zwielichtigen Traumlandes: eine versinkende Welt, deren Status zwischen Wirklichkeit und Utopie keineswegs entschieden ist. Auf dem Weg dorthin segeln auch diese Nachfahren von Kapitän Ahab und Kapitän Marlow ins Herz einer Finsternis, die nur von ferne noch an das Paradies erinnert, das sie vielleicht einmal gewesen ist. Was sich hier im kalten Morgenlicht zeigt, gilt ohne Ausnahme: "Die Welt ist leer."

Immer ähnlicher werden in dieser Welt die Fänger und die Schildkröten einander. Wie Schattenbilder ihrer Verfolger umkreisen auch die Schildkröten das im Sturm versunkene Riff von Far Tortuga, hundert Jahre lang, bis sich wirklich eine neue Insel gebildet hat und sie wieder an Land gehen können. Und wie ihr von dieser Hoffnung getriebenes Leben, so geht auch ihr langsames Sterben dem ihrer Jäger voraus, mit denselben Symptomen, denselben Vokabeln. Dennoch bleiben diese Tiere bis zum Ende so fremdartig wie ein weißer Wal. Noch die wenigen Exemplare, die den Fängern in die Netze gehen, umgibt die Aura des Mythischen. Wer sie auf den Rücken dreht, wird aus der Maserung ihres Bauchpanzers von einem fremden Gesicht angeblickt. Wenn am Ende die letzte Schildkröte sterbend versinkt, starrt dieses Gesicht noch immer aus den Wellen, ausdruckslos, blass und nun "leer": als spiegle sich in ihm der Schauplatz dieses Endspiels.

In einem archaischen Bild bringt Matthiesen diese Welt auf den allegorischen Begriff. Der alte Kapitän ist nach schweigender Agonie, an seinen Sitz gefesselt, auf Deck gestorben, und nun sieht die Besatzung den Toten "wie den Herrgott auf dem gottverdammten Thron da, bis ihn der Wind ausgetrocknet hat". Der Tod Gottes geht auch hier dem Verschwinden des Menschen voraus. Von der Zeit zwischen beiden Ereignissen erzählt der Roman.

In ihm haben längst die synkretistischen Mythen das Wort, der Voodoo-Zauber etwa, der hier "Obeah" heißt und durchaus in der Reichweite alltäglicher Erfahrungen liegt, oder die Visionen, in denen "Duppys" umgehen: geisterhafte und gleichwohl reale Wesen, die sich als Feuerkugeln zeigen können oder als lebende Tote. Wer mit einer Glückshaut geboren ist, kann sie am besten sehen, weiß ein erfahrener Fischer zu berichten. Aber auch dem Leser bleiben sie nicht verborgen. Am Ende sehen auch wir einen Ruderer im blauen Boot vorübergleiten - ist er nur ein Fremder, der nicht angesprochen werden will, oder ein Vorbote des Todes? Der Erzähler deutet und erklärt nicht, er zeigt nur die Szene; alles Übrige stellt er anheim. Die leere Welt braucht keinen Dolmetscher.

Die erzählerischen Kunstmittel des Romans ergeben sich aus diesem Prinzip. Konsequent also verzichtet er auf einen subjektiven Erzähler und inszeniert sich wie eine filmische Dokumentation, halb Dreh-, halb Logbuch. Wie Szenenanweisungen lesen sich die Schilderungen der Schauplätze; und die Figuren selbst werden durch ihre Stimmen vergegenwärtigt, im Druckbild abgesetzt und zuweilen ohne eindeutige Sprecherbezeichnung. Im so entstehenden Stimmengewirr kümmert es tatsächlich oft nicht mehr, wer spricht. Eben aus dieser Askese aber gewinnt der Text eine Kraft, die eindringlicher wirkt als jede Rhetorik der Überwältigung.

Das verdankt sich vor allem den suggestiven Bildfügungen. In Kameraführung und Schnitt zeigt sich eine Regie, die ganz nah an ihren Gegenständen bleibt und so nüchtern, dass sich der Verzicht auf Emotionen leicht mit Kälte verwechseln lässt. Erst allmählich wird spürbar, dass diese kargen Szenenanweisungen in Wahrheit lyrische Evokationen darstellen, streng und scheinbar subjektlos wie japanische Verse: "Fischgekräusel / ein weißer Reiher, starr / langsam kreisende Raubvögel weiter drinnen / vorbeiziehender Regen." Immer zieht irgendwo so ein Regen vorbei, befindet sich ein Reiher am Rande des Geschehens, wie ein stummer und teilnahmsloser Begleiter. Es sind diese Kombinationen überscharf gezeichneter Einzelheiten, die das Geschehen perspektivieren und das Verhältnis von Groß und Klein, von Vorder- und Hintergrund umkippen lassen. "Die Sonne rollt rasch um die Welt herum: Die Insel steigt aus dem Meer, sinkt, steigt, hält." So beginnt die Handlung, über der allein der Polarstern unverrückbar stehen wird, das starre Auge eines gleichgültigen Himmels.

Und dieser Blick trifft auch den Leser - dank eines Verfahrens, das in einem weniger konzentrierten Text leicht zum avantgardistischen Overkill hätte missraten können. Durchgängig nämlich oszillieren hier Schrift und Bild. Je weiter der Text fortschreitet, desto mehr verlieren Schrift und Zeichen ihre abstrakten Funktionen und gehen über in die Elemente, die sie bezeichnen: lösen sich auf in Atem, Wasser und Wind. Typographische Varianten signalisieren Sprechlautstärken vom geflüsterten Dialog bis zum Verzweiflungsschrei; der Sturm, der den Rufenden das Wort abschneidet, zerfetzt die Druckzeilen und löscht Satzteile aus. Getuschte Zeichen zwischen den Abschnitten, anfangs noch lesbar wie Kalligraphien, deuten das Verhältnis von Himmel und Meer, Tag und Nacht an. Diese je nach Tageszeit weiß oder schwarz gefüllten, durch eine Horizontlinie halbierten oder durch einen kräftigen Pinseldruck bewölkten Kreise dehnen sich zuweilen zur dünnen Kimmungslinie aus, ziehen sich wieder zusammen zum nachtschwarzen Sturmhimmel oder kristallisieren zur Chiffre des Polarsterns. Am Ende zerfließen sie in Strömungen und Wogen; und Kleckse zeigen das Aufspritzen des Wassers, in das sich die Fischer, einer nach dem anderen, über den Bootsrand gleiten lassen. Danach sieht dann das Weiß des Papiers aus wie das Meer, das sich über den Sterbenden geschlossen hat.

Mit derselben Konsequenz verzichtet der Roman auf jede Romantisierung dieser unchristlichen Seefahrt. Inmitten der Gegenwart der traurigen Tropen spielt er sich ab; und gewidmet ist er dem Andenken eines der Protagonisten, der im April 1968 auf den Miskito Banks gestorben ist, irgendwo dort, wo Far Tortuga versunken sein muss. Die Erinnerung an die Kämpfe zwischen "Che" und den "Yankees" ist hier so allgegenwärtig wie die Klassen- und Rassenkonflikte Mittelamerikas und die Dampfer der United Fruit Company. Längst sind am Horizont der erzählten Welt Öltanks und Spielcasinos aufgetaucht, und immer wieder treiben die Vergessenen der neuen Völkerwanderungen durch die Szenerie: Flüchtlinge in überladenen Booten, ausgesetzt auf Sandbänken und in Küstenwäldern, Nomaden einer postkolonialen Wildnis.

Wie diese Ausgesetzten auf einer Sandbank sich einen Augenblick des Glücks verschaffen, die kalte Mechanik, mit der sie sich hastig betrinken und paaren im Niemandsland zwischen Exkrementen, Müll und den Kadavern von Schildkröten: in solchen Szenen bewährt sich Matthiesens unsentimentale Erzählkunst. Seinem Kamerablick entgeht kein Detail, nicht die "Blätterschatten, die sich drehen im frühen Licht", noch der Umstand, dass "der vögelnde Mann und der sterbende Mann kleine Stadthüte tragen." Matthiesens Logbuch entwirft das Bild unserer Welt aus einem toten Winkel der Globalisierung. "Wir sin' zu spät dran", erkennt einer seiner Helden. Sie sind Letzte und Vorboten zugleich, "dead men walking" in einer Epoche, die erst begonnen hat.

Dabei sind immerhin fünfundzwanzig Jahre vergangen, seit dieser Roman eines bei uns bis heute unbekannten Autors in Amerika von der Kritik gefeiert wurde. Nun endlich wird er auch bei uns zugänglich, in einer kongenialen Übersetzung. Joachim Kalkas Gespür für die rhythmischen Phrasierungen des Textes, für die Poesie seiner Naturbilder und für seine unerschiedlichen Stimmen und Stillagen ist frappierend. Dem oft beklagten Mangel deutscher Äquivalente für den Reichtum amerikanischer Slangs begegnet er mit einer raffiniert kalkulierten Kunstsprache, wie sie akribischer und karibischer nicht sein könnte: "dass mir jetz alles fungo". So lässt sich nun, endlich, Matthiesen in Deutschland entdecken. Er habe die Bücher dieses Schriftstellers verschlungen, bekennt Thomas Pynchon im Klappentext, und "Far Tortuga" sei das beste. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Peter Matthiesen: "Far Tortuga." Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Kalka. Rotbuch Verlag, Berlin 2000. 450 S., geb., 58,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Georg Sütterlin erweist sich als kundiger Leser sämtlicher Werke des 1927 geborenen amerikanischen Schriftstellers, Journalisten und Naturforschers Peter Matthiessen. Ausführlich würdigt er eine ganze Reihe von Texten des Autors, dem er mehr Bekanntheit im deutschen Sprachraum wünscht. Denn dessen Sprache sei stets glasklar, präzise und voller literarischem Verve. So auch in "Far Tortuga", das erst jetzt von Joachim Kalka sehr gelungen ins Deutsche übersetzt worden sei, lobt der Rezensent. Subtil, verhalten und ohne jeden Pomp, mit einer eigentümlichen Poesie, schildere Matthiessen das Leben von karibischen Schildkrötenfischern, Menschen, deren Gewerbe dem Aussterben geweiht sei. Matthiessen habe dafür nicht die klassische Romanform gewählt. "Far Tortuga" sei ein Prosapoem. Kurze Textblöcke, Satzfragmente, manchmal nur einzelne Worte auf großformatigen Seiten sowie die Skizzen und Vignetten von Kenneth Miyamoto geben dem Buch einen außergewöhnlichen typographischen Anstrich, der auch in der deutschen Ausgabe "lobenswerterweise" übernommen worden ist, gibt ein zufriedener Sütterlin bekannt.

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