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Tausende von Briefen schrieben DDR-Bürger an die Staatsspitze, Funktionäre und Medien, manche ganz offen, die meisten anonym: Verbesserungsvorschläge, Ängste, Kritik an der Mangelwirtschaft. Sehr deutlich spiegeln die Briefe die zunehmende Wut der Bevölkerung wider. Bei den Adressaten kamen sie nie an, dafür sorgte die Stasi.

Produktbeschreibung
Tausende von Briefen schrieben DDR-Bürger an die Staatsspitze, Funktionäre und Medien, manche ganz offen, die meisten anonym: Verbesserungsvorschläge, Ängste, Kritik an der Mangelwirtschaft. Sehr deutlich spiegeln die Briefe die zunehmende Wut der Bevölkerung wider. Bei den Adressaten kamen sie nie an, dafür sorgte die Stasi.
Autorenporträt
Suckut, Siegfried
Siegfried Suckut, geboren 1945, ist promovierter Politologe. Von 1978 bis1992 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Geschichte und Politik der DDR an der Universität Mannheim. 1992 Mitbegründer der Abteilung Bildung und Forschung in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR in Berlin, dort Fachbereichsleiter und von 1997 bis 2005 Leiter dieser Abteilung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2016

Briefe vom Abgrund zwischen Wahrheit und Lüge
Engstirnig oder voller Sehnsucht nach der Welt hinter der Grenze: Siegfried Suckut liest, was ganz normale DDR-Bürger ihrer Parteiführung mitzuteilen hatten

Der Wutbürger, seit einiger Zeit wieder im Gerede als ewiger, vor allem uneinsichtiger Störenfried und angeblich kleingeistiger Besserwisser, hatte in der DDR, von Anbeginn bis Untergang, einen Vorläufer. Doch ist es ein Kurzschluss, ihn nach Sichtung seiner schriftlichen Hinterlassenschaft sogleich in die Pegida-Bewegung oder die AfD einzugliedern, wie es einige Rezensenten dieser außerordentlichen Quellensammlung meinten tun zu müssen. Das geben die Dokumente nicht her, die der Politikwissenschaftler Siegfried Suckut für sein Buch "Volkes Stimmen" zusammengestellt hat. Suckut war lange Leiter der Forschungsabteilung der Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes.

Um diese Briefe, die nie ihre Adressaten erreichten, dafür ihre Absender unter Umständen in Gefahr brachten, verstehen zu können, muss man sich schon den Kontext, das wahre Leben im vermeintlichen Arbeiterparadies, dazudenken: den exorbitanten Mangel an Freiheiten, der schwer zu ertragen war; den dauerhaften Mangel an lebensnotwendigen Alltagsdingen, die zu beschaffen so ungeheuer viel Lebenszeit und Lebenskraft vergeudete; die allgegenwärtigen Schikanen im zugemauerten Land, wo noch jede Kritik unter Verdacht geriet, das verordnete sozialistische Glück nicht nur stören, sondern angreifen zu wollen.

Den verzweifelten bis wütenden DDR-Bürger haben jene, die für Ordnung im Sinne der SED zu sorgen hatten, nie als Populisten angesehen. Er galt ihnen als Feind des großen Menschenexperiments an sich, weshalb die Staatssicherheit so ziemlich alles abfing, was er aus Sorge oder im Zorn an Parteiführer und Regierung schrieb. Diese Briefe, die oft nur aufklären wollten und nur selten in die extreme Tonlage wechselten, wurden grundsätzlich als "Hetzschriften" abgeheftet.

Egal, ob es um ungenießbaren Kaffee oder die Ausreise in den Westen ging, ob um eine beargwöhnte, weil weltweit gepflegte Jugendkultur oder die nie erloschene Sehnsucht nach Wiedervereinigung, weil "wir doch Deutsche sind". Tausende dieser Briefe gehören nun zum Erbe der Stasi, authentische Zeugnisse einer umfassenden Lebensunzufriedenheit, die von Verzweiflung und zuweilen auch von unreflektiertem Hass mit rechtsextremen Untertönen kündet. Es schrieben die entschiedenen Gegner der SED-Politik, aber auch irritierte, enttäuschte Parteimitglieder, die sich einen anderen Sozialismus vorgestellt hatten, und fragen: "Wie soll nun erst der Kommunismus aussehen?"

Suckut hat als Erster diese ungewöhnlichen Quellen ausgewertet, zweihundert Akten von etwa 45 000 Blatt, aus denen er 248 Briefe auswählte für sein Buch. Er betont, dass diese Auswahl nicht repräsentativ sein kann, weil in anderen Archiven vermutlich noch mehr schlummert, weil gerade die Alltagsgeschichte der DDR noch immer kein gut erforschtes Gebiet ist, weil Äußerungen von Dissidenten und Bürgerrechtlern nicht darunter sind - sie wurden anderswo archiviert - und keine sogenannten Eingaben (Beschwerden an einzelne Institutionen). Er hat die Briefe nach Schwerpunkten geordnet, die sich ungefähr, jedoch nicht streng proportional zu ihrer Häufigkeit ergaben. Ein Steinbruch also, den wissenschaftlich auszubeuten Historikern und Soziologen vorbehalten bleibt.

Ein ganzes Kapitel widmet sich der Kritik an den Medien. Sofern sie westdeutsche Adressaten wie den Deutschlandfunk hatten, sind sie eher als Flaschenpost nach drüben zu verstehen, verbunden mit viel Lob und deutlichen Wünschen, doch bitte genau und ehrlich über die Zustände im Osten zu berichten. Darunter findet sich ein anonymes Schreiben, das 1979 zum Boykott der Europawahlen aufrief, aus Sorge um ein schwindendes "Nationalgefühl", was die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf immer unmöglich machen würde. Andere empfahlen wenig später, Strauß zu wählen, dem sie die Wiedervereinigung antrugen.

"Einigkeit und Recht und Freiheit gelten nach wie vor auch für uns", beschwor ein Schreiber 1972 in seinem Brief an den Deutschlandfunk die Regierung Willy Brandts. Er beklagt sich über das DDR-Fernsehen, das alles "zuschneidet", sogar die Berichte über das Attentat bei den Olympischen Spielen in München. Die Trauerfeier jedoch habe man im Radio verfolgt, "mit großer Anteilnahme, wo sich Gelegenheit bot, in Betrieben und Geschäften". Die Briefe an Zeitungen und Sender in der DDR jedoch sind weniger freundlich. Jeder Redaktionschef war darum gehalten, Briefe, sofern sie nur einen Hauch von Kritik enthielten, in besondere Mappen zu sortieren, die von stillen Stasi-Männern regelmäßig abgeholt wurden.

Es äußerten sich Leser, die den Abgrund zwischen Wahrheit und Lüge und die entsetzliche Langeweile der DDR-Medien als immer unerträglicher empfanden. Einige richteten ihre Medienkritik gleich an Erich Honecker (oder zuvor an Ulbricht); zu Recht unterstellten sie ihm, er sei nicht informiert über den wirklichen Zustand des Landes, erst recht nicht über die verbreitete Ablehnung des sozialistischen Projekts. Sie warnten vor den Folgen grassierender "Heuchelei" und "Bewusstseinsspaltung". Es waren, dank der Westmedien, fast immer gut informierte Bürger, die ihre Führer darauf aufmerksam zu machen suchten, dass sie Lüge von Wahrheit unterscheiden können.

Dass sie zum Beispiel wussten, wie es zur Freilassung des chilenischen Kommunistenführers Luis Corvalán gekommen war, nämlich durch den Gefangenenaustausch, der auch dem russischen Sängerdissidenten Wladimir Bukowski die Freiheit brachte. Der Schreiber wusste, warum das verschwiegen wurde: politische Gefangene in der Sowjetunion und in der DDR durfte es gar nicht geben.

Die Arbeiterklasse, angeblich führende Kraft, sparte ebenfalls nicht mit scharfer Kritik. Zum einen wegen unsäglicher Arbeitsbedingungen und der nach "innen" gerichteten Grenze mit ihren vielen Todesopfern. Andere, vor allem alte Kommunisten befürchteten, dass die da oben, wozu sie auch die "Intelligenz" rechneten, sich auf ihre Kosten bereicherten. Wertvolle Arbeitskräfte gingen verloren, beschwert sich ein Genosse, weil immer "neue Berufe geschaffen" würden, etwa "Theaterkritiker".

Der rabiate Ton einiger dieser Schreiben bezeugt ein gravierendes Defizit in der DDR-Gesellschaft: die einseitige Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, so, als hätte es nie Verstrickte und Mitläufer gegeben, die schließlich in der DDR weiterlebten. Weil es nie eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem braunen Gedankengut gab, der Stalinismus wiederum auch den gemäßigten Sozialismus disqualifizierte, ließ sich altes Denken unangefochten konservieren. Und so schrieben manche dann auch. Der Kleinbürger-Sozialismus, den die SED anbot, war mit dieser Gesinnung offenbar kompatibel.

Hinzu kam, das liest man in einigen Briefen und ist inzwischen auch durch entsprechende Forschungen belegt, dass auch die Polizei auf diesem Auge blind war. Ob freiwillig oder befohlen, ist egal. Selten nur ging der Staat gegen radikale Skinheads vor, lieber schon gegen Punks oder andere aus der FDJ-Art gefallene Jugendgruppen, denen man nicht zu Unrecht unterstellte, ihre kosmopolitischen Ideen könnten die Enge sprengen, die der SED-Staat allen verordnet hatte. Und so kam es ja auch: Diese Jugend packte als Erste die Koffer und verschwand im Sommer 1989 durch das Loch im ungarischen Grenzzaun hinaus in die Welt.

Programmatische Briefe mit Manifesten für einen anderen Sozialismus gab es selten. Und wenn, schreibt Siegfried Suckut, gerieten sie rasch "in die Nähe des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells". Ja, wo auch sonst hin mit diesen am eigenen Leibe gemachten Erfahrungen, möchte man entgegnen. Ob sich auf diese Weise immer nur Menschen äußerten, die ihre individuellen Sorgen ausbreiten wollten, "kleinbürgerliche" zumeist, wie Suckut vermutet (was immer das auch sei), oder ob das schon einer unergründlichen Stasi-Auslese zuzurechnen ist, müsste die Forschung erst einmal untersuchen.

Es sind nur in Ausnahmen humorvolle, ironische Briefe. Mangel und Freiheitsbeschneidung machen nicht glücklich. Ein Leben wider die Vernunft nährt auch Neid und Argwohn, entzieht sich, wenn es zu lange anhält, Verstandesargumenten. In der DDR entwickelte sich zudem, dies durchaus reflektiert, eine heftige Sozialismus-Allergie, das kann man deutlich aus Siegfried Suckuts "Volkes Stimmen" heraushören. Er hat mit diesem lehrreichen Buch das Dokument einer tiefen Kommunikationsstörung zwischen Regierung und Regierten vorgelegt; eine vielstimmige Unmutserzählung über vertanes Leben, die ganz zwangsläufig in die Revolution von 1989 mündete. Zum Glück.

REGINA MÖNCH

Siegfried Suckut (Hrsg.): "Volkes Stimmen - Ehrlich, aber deutlich". Privatbriefe an die DDR-Regierung.

dtv Verlagsgesellschaft, München 2016.

576 S., geb., 26,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

"Auffällig ist die Fortexistenz von aus obrigkeitsstaatlicher Vergangenheit tradierten Mentalitäten und Einstellungen", zitiert der Rezensent Michael Pilz den Herausgeber dieses Bandes. Und man ahnt nach Lektüre seiner Kritik: Diese braune Soße klebt schon lange im Osten und äußerte sich in Briefen, die "nicht alle anonym sind" an Zeitungen, an westliche Sender, an staatliche Institutionen der DDR. "Ständig enttäuscht vom deutschen Westen" tümelte es schon damals in Sachsen besonders dumpf, konstatiert Pilz: Wenn es in Dresden keine Bettwächse gab, waren die Untermenschen aus Russland oder die Parasiten aus Berlin schuld. Für Pilz ist dieses Buch eine wichtige Hintergrundlektüre, um die aktuellen Ereignisse richtig zu verstehen und einzuordnen.

© Perlentaucher Medien GmbH
Die faszinierende, bisweilen kuriose Lektüre gibt Einblicke in den Alltag deutscher Briefschreiber - und in die Sammelwut der staatlichen Überwacher. Solveig Grothe Spiegel Online 20160217