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Als 1982 Helmut Kohl unter dem Schlagwort der "geistig-moralischen Wende" Kanzler wurde, hofften seine Anhänger auf Stabilität nach den unruhigen siebziger Jahren, seine Gegner fürchteten eine Zeit der Restauration. 1990 lag die erste Hälfte seiner Kanzlerschaft hinter ihm: Sie war geprägt von Auseinandersetzungen um Nachrüstung und Umweltpolitik; Massenarbeitslosigkeit und Rentendiskussion verunsicherten die Bevölkerung, die Medienlandschaft wurde revolutioniert.
Andreas Wirsching entwirft ein breites Panorama der achtziger Jahre. Er spürt den Tiefenkräften der bundesdeutschen Gesellschaft
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Produktbeschreibung
Als 1982 Helmut Kohl unter dem Schlagwort der "geistig-moralischen Wende" Kanzler wurde, hofften seine Anhänger auf Stabilität nach den unruhigen siebziger Jahren, seine Gegner fürchteten eine Zeit der Restauration. 1990 lag die erste Hälfte seiner Kanzlerschaft hinter ihm: Sie war geprägt von Auseinandersetzungen um Nachrüstung und Umweltpolitik; Massenarbeitslosigkeit und Rentendiskussion verunsicherten die Bevölkerung, die Medienlandschaft wurde revolutioniert.

Andreas Wirsching entwirft ein breites Panorama der achtziger Jahre. Er spürt den Tiefenkräften der bundesdeutschen Gesellschaft nach und beschreibt einen Epochenwechsel, der sich in drei Erscheinungen ausdrückt: einer Individualisierungsspirale, der Expansion des Sozialstaats und der Unterspülung seiner Fundamente infolge des demographischen, ökonomischen und soziokulturellen Wandels. Am Ende stand jedoch das alles überstrahlende Ereignis: die Wiedervereinigung.
Autorenporträt
Andreas Wirsching, geboren 1959, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte.

Joachim Fest - Publizist und Historiker - geboren 1926 in Berlin, studierte Jura, Geschichte und Germanistik. Ab 1963 war er Chefredakteur des Fernsehens beim NDR und veröffentlichte eine Studie über die Führungsfiguren der NS-Herrschaft. Von 1973 bis 1993 war er als Herausgeber der "FAZ" tätig. 2006 erhielt Joachim Fest den Henri Nannen Preis für sein Lebenswerk und starb in Kronberg im Taunus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2006

Kanzler Kohls erste Halbzeit
Strukturreformen hätten einer klaren Willensanstrengung bedurft: Geschichte der Bundesrepublik

Zum Abschluß ihrer Aktionswoche hatte die bundesdeutsche "Friedensbewegung" für den 22. Oktober 1983 zur "Volksversammlung" nach Bonn geladen. Im Koordinierungsausschuß gab es bei der Frage, wer dort reden sollte, heftigen Streit, insbesondere zwischen den Vertreterinnen der verschiedenen Frauengruppen. Dort regte der Protokollant schließlich an: "Die Bemühungen fortan vor allem dahin zu richten, zum Beispiel eine Rednerin zu finden, die autonome Frauenpositionen vertritt, aber doch aus dem konservativen Spektrum kommt, gebürtig in einem Cruise-Missiles-Land, aber heute in den USA beheimatet, möglicherweise Pfarrerin, die aber das ,Nein ohne jedes Ja' so entschieden vertritt, daß sie problemlos auch als Sprecherin der Friedensbewegung am 22. reden könnte, die möglicherweise noch rechtzeitig zum Ehrenmitglied einer größeren Partei ernannt werden könnte, um auch deren Bedürfnis abzudecken, und die - versteht sich - schon in vielen Berufen tätig war und somit für einige Gruppen sprechen könnte." Ein herrliches Zitat, symptomatisch für den Zustand der "Friedensbewegung", nachzulesen bei Andreas Wirsching im Kapitel über die Nachrüstung. Hätte Wirsching doch mehr solcher Zitate gebracht, und die Lektüre seines Buches - zweifelsohne eine anerkennenswerte Arbeitsleistung - wäre möglicherweise leichter gefallen.

Was erwartet den Leser? Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den Achtzigern - als Band 6 jener Reihe, deren erster Band 1983 erschienen ist. Damals konnte man wohl eine Geschichte der "alten" Bundesrepublik schreiben, als man wohlgefällig auf das erfolgreiche Provisorium blickte, das von vielen inzwischen als Dauereinrichtung akzeptiert worden war. Niemand ahnte etwas vom jähen Ende. Entsprechend sahen die bis 1987 erschienenen fünf Bände aus: großformatig, repräsentativ, auf Glanzpapier mit vielen Bildern, einfach staatstragend. Dazu paßte auch das "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" in der "Hauptstadt" Bonn. Der andere deutsche Staat kam in diesen Bänden nicht vor.

16 Jahre nach der Wiedervereinigung wird nun der abschließende sechste Band dieser Reihe vorgelegt. Geht das überhaupt? Natürlich ist sich Wirsching dieser Problematik bewußt. Er ist zweifelsohne ein exzellenter Kenner der Materie, die er leider allzu oft in verquirlter Sprache aufbereitet. Er weiß sich, wie er in der Einführung schreibt, seinen Vorgängern und der Konzeption der Reihe insofern verpflichtet, als sein Buch "mehr oder minder strikt aus der Perspektive der alten Bundesrepublik geschrieben ist" - wobei es ganz eindeutig "mehr" ist. Zum anderen aber könne und wolle er natürlich nicht verleugnen, "daß sein Standort in der ,neuen' Bundesrepublik liegt". Das ist schon äußerlich erkennbar. Anders als die Bände 1 bis 5 kein Großformat, kein Spezialpapier, keine Bilder. Wirsching schreibt: "Die bewußt repräsentative Ausstattung seiner Vorgänger fehlt." Offensichtlich ist dies Ausdruck der neuen, weniger erfolgreichen Zeit.

Waren die Achtziger eine erfolgreiche Zeit? In seinen "Erinnerungen" verweist Helmut Kohl auf eine glänzende Bilanz: "In siebenjähriger Regierungszeit hatten wir Deutschland aus der Krise herausgeführt und langsam, aber beständig wieder auf einen soliden wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs gebracht. Wir hatten einen grundlegenden Stimmungswechsel und eine wirtschaftspolitische Trendwende erreicht. Die Menschen in Deutschland hatten wieder Vertrauen in die Wirtschaft und die Politik gefaßt und schauten mit Zuversicht und Optimismus in die Zukunft." Nach Wirsching stimmt das nicht, war alles anders. In dem Bemühen, ja nichts zu vergessen, werden so ziemlich sämtliche Ereignisse aufgelistet, die es in den achtziger Jahren gegeben hat - mit zuweilen merkwürdiger Gewichtung, wie etwa bei der "Friedensbewegung" des Jahres 1983. Da erfahren wir zwar viel über die publizistische Auseinandersetzung zwischen Franz Alt und dem Politikwissenschaftler Manfred Hättich, aber nichts über die Finanzierung durch die SED. Darüber hätte man gern etwas erfahren. Und darüber, ob diese "Friedensbewegung" zur nuklearen Abrüstung seit Ende der achtziger Jahre beigetragen hat, wie Wirsching meint, läßt sich wohl trefflich streiten.

Prägende Ereignisse - zumindest für den Rezensenten - werden merkwürdig blaß beschrieben. Etwa der Kanzlersturz 1982 oder Erich Honeckers Besuch 1987 in der Bundesrepublik. Für letzteres gibt es ganze drei Seiten, dafür aber sechs Seiten über ein umweltfreundliches Auto. Das Kapitel über die "Deutschlandpolitik mit überraschendem Ausgang" (1983 bis Oktober 1990) gehört zu den schwächsten des ganzen Buches; ähnlich auch das Kapitel zur Außenpolitik. Da gibt es inzwischen Besseres und wirklich Lesbares.

Wirschings Stärke sind Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik - mit vielen Tabellen und mühsam gestrickten Sätzen. Wirschings favorisierte Begriffe sind der "Epochenwandel", die "Gesellschaft im Umbruch", der Strukturwandel als "Schicksal". Helmut Kohls Erfolgsmeldungen in seinen Erinnerungen, wonach die Regierung unter seiner Führung "weitreichende Maßnahmen und Reformen in vielen Feldern der Wirtschaftspolitik eingeleitet und durchgesetzt" habe, in der Finanz- und Steuerpolitik, für die Familien, bei der Privatisierung, in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sowie im Bereich der sozialen Sicherungssysteme seien "trügerisch". Das Steuer- und Sozialsystem wurde nach Wirschings Meinung nicht reformiert, was ihn zu der Diagnose verleitet, daß die Kohl-Regierung "Entscheidendes versäumte", allerdings bei einer "klaren Willensanstrengung weitergehende Strukturreformen hätte durchführen können".

Warum fanden keine Reformen statt? Nach 700 Seiten ohne Lesevergnügen und dazu noch mehr als 2000 Anmerkungen auf 108 Seiten - wenig lesefreundlich angeordnet - und zehn Seiten Literaturangaben (im übrigen ziemlich willkürlich ausgesucht, Standardwerke fehlen) gibt Wirsching die Antwort: "In den meisten innenpolitischen Kernfragen blieb das Lager der Koalition uneins, wenn nicht gespalten. In einem zu Überkomplexität tendierenden System politisch-gesellschaftlicher Machtverteilung, an dem eine vergleichsweise hohe Zahl an Vetospielern teilnahm, minimierte diese die Spielräume der politischen Akteure und die Erfolgsaussichten ihrer Pläne. Offenkundig konnte die Bundesregierung nichts anderes erreichen, selbst wenn sie es gewollt hätte. Dann aber entsprach es einer unerbittlichen und politisch-international nicht veränderbaren Logik, daß letztlich die gesellschaftlich und kulturell fundierten Pfadabhängigkeiten der Politik den Ausschlag gaben." Na also! Neben den "Pfadabhängigkeiten" liegen die eigentlichen Wurzeln für diese so traurige Entwicklung laut Wirsching aber woanders, wie er uns verrät, nämlich "in den Veränderungen der ,forces profondes' - der Tiefenkräfte". Wie die wohl aussehen, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht waren sie es ja auch, diese Kräfte aus der Tiefe, die die Mauer in Berlin zum Einsturz gebracht haben. Wer weiß.

ROLF STEININGER

Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium 1982-1990. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 847 S., 49,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Äußerst mühsam findet Rolf Steininger die Lektüre dieser Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, die Andreas Wirsching verfasst hat. Den Autor würdigt er zwar als ausgezeichneten Kenner der Materie. Dessen anstrengender Schreibstil aber stößt ihm sauer auf. Kein Wunder: 700 Seiten "ohne Lesevergnügen" schaffen selbst den stärksten Rezensenten. Aber auch inhaltlich hält Steiniger das Werk für nicht rundum gelungen. So moniert er eine "merkwürdige Gewichtung", etwa wenn von den Leistungen der Friedensbewegung im Blick auf die nukleare Abrüstung Ende der achtziger Jahre die Rede ist, nicht aber von ihrer Finanzierung durch die SED. Wichtige Ereignisse wie der Kanzlersturz 1982 oder Erich Honeckers Besuch 1987 werden für seinen Geschmack seltsam unlebendig geschildert. Generell durchwachsen scheinen Steininger die Kapitel über die Deutschland- und Außenpolitik. Pluspunkte vergibt er dagegen für die Kapitel über die Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik. Zu einer Eins mit Stern reicht es wegen des Stils aber auch hier nicht.

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