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Als das erste Opfer eines Krieges gilt die Wahrheit, die Kinder sind sein letztes, denn sie tragen die Erinnerungen an Schrecken, Not und Tod viele Jahrzehnte lang mit sich. So vielfältig die Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen unter den Nazis waren, so sehr sie sich durch die jeweiligen Lebensumstände unterschieden - im Dritten Reich und in den Konzentrationslagern, auf dem Land und in den vom Bombenkrieg zerstörten Städten, in Kriegsgefangenenlagern und in den großen Flüchtlingstrecks, haben sie doch gemeinsam, daß der Zweite Weltkrieg sie tief geprägt hat.
Nicholas Stargardt hat sich
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Produktbeschreibung
Als das erste Opfer eines Krieges gilt die Wahrheit, die Kinder sind sein letztes, denn sie tragen die Erinnerungen an Schrecken, Not und Tod viele Jahrzehnte lang mit sich. So vielfältig die Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen unter den Nazis waren, so sehr sie sich durch die jeweiligen Lebensumstände unterschieden - im Dritten Reich und in den Konzentrationslagern, auf dem Land und in den vom Bombenkrieg zerstörten Städten, in Kriegsgefangenenlagern und in den großen Flüchtlingstrecks, haben sie doch gemeinsam, daß der Zweite Weltkrieg sie tief geprägt hat.

Nicholas Stargardt hat sich die gewaltige Aufgabe gestellt, die Erlebnisse und Erinnerungen dieser Generation in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu sammeln und als große Erzählung den Generationen der Kinder und Enkel zu vermitteln. Ein Buch, das vielen Familien Gesprächsstoff liefern wird.
Autorenporträt
Nicholas Stargardt, geboren 1962 in Melbourne, ist Professor für Neuere Europäische Geschichte an der Universität Oxford. Er zählt zu den interessantesten Köpfen der britischen Historikerschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Neuere Deutsche Geschichte und der Holocaust.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2006

Kein Maikäfer fliegt
Nicholas Stargardt beschreibt, wie Kinder den Krieg Hitlers erlebten / Von Nils Minkmar

Kinder leiden am meisten. Ohne diesen Satz kommt kaum ein Bericht aus einem Kriegsgebiet aus. Vor vielen Jahren hat Max Goldt ihm mit guten Gründen widersprochen: Man könne, so ging in etwa sein Argument, Leid nicht quantifizieren, und außerdem sei es durchaus möglich, daß Greise, die wehrlos den vollen Umfang des Elends begreifen, stärker leiden als kleine Kinder, die gar keinen Begriff davon haben, was Krieg ist. Trotz dieser Einwände hat sich das Motiv des Kinderleids gehalten, die Gründe dafür sind auch historischer und kultureller Natur: Kinder sind heutzutage in der Regel Wunschkinder, ihr Wohlergehen ist ein Ziel, auf das sich Menschen über alle Religions- und Parteigrenzen hinweg verständigen können, ja, es gilt heute allgemein als das höchste Gut überhaupt.

Taugt das heutige Interesse für die neue Intimität im Verhältnis zu Kindern aber etwas für die historische Untersuchung der Zeitgeschichte? Mit dieser Neugier schlägt man das Buch des britisch-australischen Historikers Nicholas Stargardt auf. Stargardt selbst, obwohl erst 1962 geboren, versteht etwas von den langen und verwinkelten Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, schließlich war es der organisierte Antisemitismus, der seinen Vater, der aus einer linken, assimilierten jüdischen Berliner Familie stammte, 1939 in die Emigration nach Australien zwang - und wie groß wären sonst wohl die Chancen gewesen, daß der Berliner Junge eine Frau aus Melbourne geheiratet hätte?

Stargardts Vater verließ als Jugendlicher Berlin, daher bleiben seine Schilderungen von der Weimarer Republik und dem Aufstieg der Nazis der Perspektive des Heranwachsenden verhaftet. Etwa in der Anekdote, wie er dafür getadelt wurde, daß er im Treppenhaus eines widerständigen Cousins die Marseillaise gepfiffen hatte. Das NS-System und der Krieg, so verdeutlicht es dieses Buch, drang eben auch in Erlebnisse und Vorstellungswelten der Kinder ein. Und hier bekommt der interessierte Leser schon ein Problem, denn gerade die Sicht von Kindern und Jugendlichen auf die NS-Zeit ist eigentlich ganz gut bekannt, das hat den einfachen Grund darin, daß es die Jahre der auch strafrechtlichen Unschuld sind und es darum immer leichter war, etwa von kindlicher Begeisterung für die Nazis und ihre Symbole zu berichten. Tomi Ungerer hat schon vor Jahren seine bunten, starken Zeichnungen siegreicher NS-Soldaten veröffentlicht, Martin Walser hat den "Springenden Brunnen" geschrieben, und auch Georges-Arthur Goldschmidt hat auf unvergeßliche Weise beschrieben, wie er als jüdischer Junge heimlich einen Hakenkreuzwipfel an sein Fahrrad steckte. Die Opferseite hat sich ohnehin ins Weltgedächtnis eingeschreiben: Es gab Anne Frank.Wir wissen seit Judith Kerr, daß Hitler selbst rosa Kaninchen stahl. Es gab Janina David, die auch in "Maikäfer flieg" eine wichtige Quelle ist. Wir hatten natürlich kein umfassendes Bild von den Erfahrungen der Kinder, aber wir wußten doch mehr als etwa von der Mordpraxis der Einsatzgruppen oder den Erfahrungen der Zivilbevölkerung im Bombenkrieg.

Stargardt arbeitet sich unglücklicherweise an der Widerlegung eines a priori wenig plausiblen Konzepts ab, dem des "kollektiven Traumas", das der Krieg für deutsche wie polnische oder jüdische Kinder gleichermaßen bedeutet hätte, und er weist im Laufe des voluminösen Buches nach, daß es eben sehr stark davon abhing, wo ein Kind lebte, wer die Eltern waren, um zu ermessen, welche Erfahrungen es im Krieg machen mußte. Aber ist dieser Erkenntnisgewinn wirklich so groß?

In der Darstellung ist die These eines "kollektiven Traumas" ohnehin nicht durchzuhalten: Augenzeugenberichte von den Massenerschießungen etwa sind so grauenvoll, daß sie die Struktur eines solchen Buches sprengen. Überhaupt ist es dem Autor gelungen, erstaunliches und ergreifendes Quellenmaterial aufzubereiten, man erfährt von Schicksalen und Geschichten, die einen auch nach der Lektüre nicht loslassen. Doch Stargardt scheint der Kraft der Geschichten nicht zu trauen. Immer wieder schieben sich Erklärungen in die Erzählung, die angesichts der Heftigkeit der Quellen zwar gutgemeint, aber schwach klingen. Wenn ein Wehrmachtssoldat erbeutete Lebensmittel nach Hause zur Familie schickt, kann man das darstellen, ohne zu erläutern, daß er seiner "traditionellen Ernährerrolle" nachzukommen suchte. Besonders überflüssig ist der wissenschaftliche Kommentar auch dort, wo Stargardt schildert, daß sich die Ehemänner von Vergewaltigungsopfern schwertaten. "Sie waren in männlichen Ehrvorstellungen erzogen worden, die Vergewaltigung als eine Verletzung der Ehre des Hauses ansahen, die zu verteidigen ihre Pflicht gewesen wäre." Mag sein, aber selbst in den abgedrehtesten Sekten, den ausgeflipptesten Hippie-Kommunen oder unter Astronauten: Nirgendwo ist die Vergewaltigung der eigenen Frau durch feindliche Soldaten eine besonders gute Nachricht.

Dennoch ist "Maikäfer flieg!" ein lesenswertes Buch, allein wegen der Akribie, mit der alle Facetten der Kindheit im Dritten Reich untersucht werden, insbesondere auch die Erfahrungen in Behindertenheimen, Internaten und Jugendstrafanstalten. Es leidet unter einem etwas lieblosen Lektorat. Nicht nur hätte man zahlreiche, lange Passagen, in denen noch einmal die Entwicklung der NS-Besatzungspolitik und der Gang des Krieges dargestellt werden, straffen oder gar weglassen können, es hätte auch einer umsichtigeren Überarbeitung für die deutsche Ausgabe bedurft. An einer Stelle ist von "Leipzig in Sachsen" die Rede. Das ist natürlich besser, als wenn da "Leipzig im Saarland" stünde, aber es ist beispielhaft für die Redundanz gutgemeinter Information in diesem schönen, aber zu wenig konzentrierten Buch.

Nicholas Stargardt: "Maikäfer flieg!" Hitlers Krieg und die Kinder. Aus dem Englischen von Gennaro Ghirardelli. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006. 581 S., geb., mit Abb., 34,90 [Euro].

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"Der Autor läßt zahlreiche Zeitzeugen zu Wort kommen und gibt seiner Schilderung damit eine Lebendigkeit und Eindringlichkeit, die ich bisher aus keiner ähnlichen Darstellung kenne." - Ruth Klüger

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Es sei ja nun keineswegs so, dass man über Kindheit im Dritten Reich wenig wüsste, stellt der Rezensent Nils Minkmar erst einmal fest. Dennoch erfährt man in diesem Buch des britisch-australischen Historikers Nicholas Stargardt manch Neues. Lobenswert findet Minkmar vor allem die "Akribie" der Untersuchungen und mehr noch die Auswahl des "erstaunlichen und ergreifenden Quellenmaterials". Vor allem im Bereich der "Behindertenheime, Internate und Jugendstrafanstalten" finde sich hier doch manch Unbekanntes dargestellt. Einwände hat der Rezensent freilich auch: Unglücklich scheint ihm, dass sich der Autor an einer von vornherein wenig überzeugenden "Kollektivtrauma"-These abarbeitet. Auch das deutsche Lektorat hat für seine Begriffe eher schlampige Arbeit geliefert, für die die "Redundanz" einer Angabe wie "Leipzig in Sachsen" dem Rezensenten bezeichnend ist.

© Perlentaucher Medien GmbH