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Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 520
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 845g
  • ISBN-13: 9783421053497
  • ISBN-10: 3421053499
  • Artikelnr.: 24813805
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2002

So lichten sich Europas Nebel
Gerhard Schulz entwirft Universalhistorie als Zeitgeschichte

Vor etwa zwei Jahrzehnten beklagte Joachim Fest in dieser Zeitung das übermäßige Spezialistentum unter den Historikern. Heute scheint die gegenläufige Tendenz vorzuherrschen; der Zugriff allgemeinhistorischer Darstellungen mit umfassendem Anspruch kann gar nicht weit genug sein. Und natürlich ist Europa das große Thema geworden. Geschichten Europas kommen in Mode, und nach Michael Salewski und Wolfgang Schmale hat sich nun auch der emeritierte Tübinger Zeithistoriker Gerhard Schulz an einen solchen Wurf gewagt. Der Autor - Jahrgang 1924, bekannt geworden vor allem durch seine Studien zur Weimarer Republik und zur Machtergreifung Hitlers - hat ein typisches Alterswerk vorgelegt, mit allen Stärken, aber auch manchen Schwächen dieses Genres.

Dazu gehört, daß der Zeithistoriker an keiner Stelle zu verkennen ist. Von etwa vierhundert Textseiten sind mehr als die Hälfte dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gewidmet; die Aufklärung beginnt in dem Werk, das "Staaten und Imperien seit dem Altertum" beschreiben möchte, tatsächlich schon auf Seite 130. Ein existentielles Problem war für den Verfasser stets die Frage nach der Entstehung und dem Aufstieg der braunen deutschen Diktatur, die Frage also nach der Eigenart jener negativen geschichtlichen Kräfte, die ein weitgehend intaktes demokratisches Gemeinwesen mitten in Europa zu zerstören und den Aufstieg eines mörderischen Regimes zu ermöglichen vermochten. Dem entspricht es, daß "Europa und der Globus" weitgehend politikhistorisch und geistesgeschichtlich ausgerichtet ist; sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Zusammenhänge werden, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Und im Mittelpunkt der weit ausholenden, aber niemals weitschweifigen, meistens präzisen, sehr häufig originellen und perspektivenreichen Ausführungen steht das "Gemeinwesen" im weitesten Verständnis. Es gehe ihm, so Schulz, vornehmlich um "die Formen des Zusammenhalts der Menschen, der Bewährung ihrer kulturstiftenden Gemeinschaftsbildungen, der Art ihrer politischen Durchsetzung und Erhaltung" - was letztlich immer "auf die Art der Regierungen und Regierungsweisen" hinauslaufe.

Die "ordnende Kraft der Gemeinschaft" findet er zuerst in den alten Kulturen des Vorderen Orients, sodann in der griechischen Polis und im Römischen Reich, als dessen stärkste bewegende Kraft die "Ordnung des Staates in stetig sich mehrenden Funktionen" anzusehen sei. Freilich zeigt sich hier bereits die Kehrseite: Neben einem "Bewußtsein der Zusammengehörigkeit" entsteht die Notwendigkeit, sich von den "Anderen", den "Fremden", den "Barbaren" abzugrenzen. Hinzu kommt die Diversität des religiösen Lebens, die für die historische Ausdifferenzierung nach einzelnen Nationen wesentlich mitverantwortlich ist. Damit ist ein Grundthema des Buches angeschlagen, das in kluger Beschränkung jeder Behauptung einer Einlinigkeit historischer Entwicklung, jeder Teleologie und damit auch jedwedem modisch gewordenen Glauben an die segensreichen Wirkungen "der Moderne" widerspricht.

Diese historische Dialektik setzt sich in der frühen Neuzeit fort. Denn auch das "Monopol legitimer Herrschaft" erfährt seine Konterkarierung durch die Idee und die rechtliche Festsetzung eines "Widerstandsrechts", dessen Wurzeln bereits im hohen Mittelalter zu finden sind. Spiel und Widerspiel, Entwicklung und Gegenentwicklung finden sich in Europa überall, auch in der Struktur des alten Deutschland: Landesherrschaften auf der einen, die übernationale Reichsstruktur auf der anderen Seite. Freilich widerspricht der Autor einer neuerdings vorherrschenden Reichsnostalgie entschieden, indem er die "verwegene geschichtspolitische Suggestion", im Alten Reich eine "europäische Ordnungsmacht" erkennen zu wollen, zurückweist.

Überhaupt sieht Schulz die irrationalen, auch die religiösen Kräfte in der Geschichte - jedenfalls dann, wenn sie sich in den Bereich des Politischen hineindrängen - mit allergrößter Skepsis. Augustins Idee der Civitas Dei als dem "monotheistischen, friedensgewährenden Gottesstaat" deutet der Autor als zentrales Erbteil der Antike an die nachfolgenden Zeitalter. Die andere Seite der Medaille zeigt sich ebenfalls: Inquisition und Denunziationen, Hexenverbrennungen, Astrologie, Dämonen sowie die Formen exaltierter Religiosität werden als zentrale Hindernisse auf dem Weg zur Etablierung des modernen europäischen Gemeinwesens interpretiert. Und von hier aus zieht Schulz eine Linie bis zu den Einzelphänomenen der modernen extremen Nationalismen. Er führt sie in letzter Konsequenz zurück auf den geschichtlichen Auserwähltheitsglauben eines einzigen Volkes, der sich vom antiken Judentum bis in die Neuzeit hinein verfolgen läßt.

Die allgemeine Krise des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts wird jedoch von Schulz keineswegs monokausal erklärt. Neben dem (religiös grundierten) integralen Nationalismus sind als weitere Auslöser hinzuzurechnen: die industrielle Revolution und ihre Folgeprobleme, vor allem die Verarmung der Unterschichten, sodann der Imperialismus und die mit ihm in Verbindung stehende Rassenideologie und schließlich eine Spielart des neueren politischen Denkens, die Schulz am Beispiel von Saint-Simon erörtert. Gemeint ist jener Utopismus, dem es auf den im wörtlichen Sinne "radikalen", grundstürzenden Wandel aller Verhältnisse ankommt. Die katastrophalen Folgen jenes in politische Praxis umgesetzten utopischen Denkens - von Lenin und Stalin bis zu Pol Pot - sind nur allzu bekannt.

Den als negativ angesehenen Traditionen stellt Schulz allerdings auch eine positive Tradition Europas gegenüber. Er sieht sie, allgemein gesprochen, in der Bildung freier menschlicher Vereinigungen, selbsttätiger Organisationen im gelehrt-kulturellen, im religiösen, im politischen Bereich. Gemeint sind hier ebenso die Gelehrtengesellschaften, die sich als "universales Vorbild" künftiger politischer Organisation sahen, wie auch die frühen Formen des "selfgovernment" im angelsächsischen Raum. Es gäbe wahrscheinlich keine neuzeitliche Demokratie, so Schulz, wenn sich nicht bereits vorher "vielfältige Formen der Vereinigung in kleinerem Rahmen, teilweise in unpolitischem oder vorpolitischem Raum entwickelt hätten".

Mit dieser These, die das gewissermaßen "Europäische" an Europa erkennen zu können meint, steht Gerhard Schulz freilich nicht allein. Die Idee verweist zurück auf das neunzehnte Jahrhundert, und die großen Juristen Rudolf von Gneist und Otto von Gierke (letzterer wird von Schulz zitiert) dürften ebenfalls nicht deren erste Vertreter gewesen sein. In jenem Freiheitsbewußtsein, jener geistigen wie auch organisatorischen Autonomie lag offenkundig ein genuines Freiheitspotential begründet, das die Entstehung eines "orientalischen Despotismus", den Karl Wittfogel mit seinem Modell "hydraulisch" organisierter unmittelbarer staatlicher Gewaltanwendung anschaulich charakterisiert hat, in Europa letztlich nicht zuließ.

Die Kernfrage des Buches ist damit indes noch keineswegs beantwortet: Wie konnte es, trotz allem, zur Entstehung von radikal destruktiven Regimen, totalitären politischen Gebilden kommen, in denen ebenjene Tradition - und zwar ganz bewußt - mit Füßen getreten wurde? Eine klare, allseits befriedigende Antwort vermag der Autor nicht zu geben. (Aber wer könnte das schon?) Seine Überlegungen taugen jedoch dazu, den Nebel etwas lichten zu helfen. Neben dem Nationalismus und einem - vom Autor sicher überschätzten, vorgeblich "romantischen" - Irrationalismus sieht er besonders im Ersten Weltkrieg, der für ihn bereits ein "totaler Krieg" gewesen ist, den eigentlichen Auslöser jener katastrophischen Entwicklung, deren Folgen im Jahr 1945 vor aller Augen sichtbar werden sollten. Allgemeine Revolutionierung sämtlicher Lebensbereiche, Gewalttätigkeit, tief empfundener Haß, Demütigungen, Verlustängste aller Art, ökonomische Krisen, latenter Bürgerkrieg - dies alles ebnete nach 1918 viele Wege in die Diktatur.

Gleichwohl werfen die letzten Abschnitte des Bandes Fragen auf, denn hier findet sich mehr oder weniger nur eine knappe Zusammenfassung dessen, was der Autor in seinen monumentalen Darstellungen zum Zerfall der Weimarer Republik bereits andernorts ausführlich dargestellt hat. Die knappen Seitenblicke auf die Entwicklungen im übrigen Europa vermögen an der Deutschlandzentrierung dieser (und auch mancher früheren) Partien kaum etwas zu ändern. Auch sonst bleibt das Buch, bei aller Gelehrtheit, bei aller Originalität vieler Beobachtungen, in seinen Schwerpunktsetzungen etwas disparat und vielleicht allzu abhängig von den persönlichen Vorlieben und Kenntnissen des Autors. Ziemlich abrupt und ohne nähere Begründung bricht die Darstellung mit einer knappen Skizze des "Röhm-Putsches" im Juni 1934 ab. Um ein Buch für einen breiteren, nicht schon einschlägig vorgebildeten Leserkreis, wie ihn Titel und Aufmachung des Buches suggerieren, dürfte es sich jedenfalls kaum handeln. Ein Fünftel des Gesamttextes, fast einhundert Seiten, besteht aus reichhaltigen (in der Sache nicht immer notwendigen) Anmerkungen und Exkursen.

In einem nicht einmal zwei volle Seiten umfassenden Ausblick schließlich wagt Gerhard Schulz doch noch so etwas wie eine zusammenfassende Deutung der Geschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er erinnert an die von Jules Michelet, von Karl Lamprecht, vor allem aber von Henry Adams thematisierte Idee der "geschichtlichen Beschleunigung", der historischen Sprünge: "Ein solcher Sprung war", so Schulz, "im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts insofern geschehen, als er zur Begeisterung gebrachte Massen unter neue Formen diktatorischer Regimes formierte, Tyrannis in mehrfacher Gestalt, die Widerstrebende bekämpfte, niederzwang und vernichtete." Eine nähere Erläuterung sucht man vergebens. Aber vielleicht liegt hierin nur eine Aufforderung an den interessierten Leser zum Weiterdenken. Er sollte den Ball, der ihm hier vom Autor zugespielt wurde, aufnehmen.

HANS-CHRISTOF KRAUS

Gerhard Schulz: "Europa und der Globus". Staaten und Imperien seit dem Altertum. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, München 2001. 520 S., geb., 34,77 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Nach Auffassung des Rezensenten hat der Autor Chancen vertan, die ihm als Nicht-Spezialisten auf dem Gebiet der Weltgeschichte zur Verfügung gestanden hätten: Unbefangenheit etwa und die Möglichkeit, "vielerlei über die Zeiten hinweg in Beziehung zu setzen". Enttäuscht zeigt sich Rezensent Christian Meier vor allem darüber, "dass Schulz keine Frage hat". Zum Beispiel zur politischen und kulturellen Formung Europas oder zum Spezifischen antiker Kultur. Dicht, so Meier, werde der Band erst ab Seite 130 mit dem Kapitel "Aufklärung". "Das liest man mit viel Gewinn". Als "subjektiv reizvoll akzentuiertes Bild" freilich. Doch Probleme tauchen bald wieder auf. Meier erkennt sie im sturen Eurozentrismus der Arbeit, im mangelnden Gegenwartsbezug und einem abrupten Ende mit dem Tod Hindenburgs. Wie, rätselt da der Rezensent und findet keine Antwort, kann eine europäische Geschichte vor Auschwitz, vor ihren eigenen fürchterlichsten Konsequenzen also, Halt machen?

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Was der Historiker also unter kluger Vermeidung von Verengungen, unangemessenen Verkürzungen vermag, wäre in Unparteilichkeit die Antriebskräfte und Leitmotive unserer Gesellschaft aufzuzeigen: und zwar der Entstehung und Tradierung der Phänomene sich zu widmen, die eben unsere Epoche faktisch und geistig prägten. Nicht Ideen zu untermauern, in dem man nützliche Wahrheiten aus der Geschichte isoliert, erscheine als Programm einer Darstellung, sondern sie sollte Humanität wie wirkungsmächtige Einsichten durch die Zeiten dokumentieren: Es kann, schreibt Schulz (S. 42), eine Geschichte der Menschheit geben. Wir studieren sie in der Geschichte von Gemeinschaften und ihren Ordnungen. Wesentliche Konfigurationen und Grundprobleme der politischen Organisation kehren in der Geschichte wohl immer wieder oder verändern sich nur bedingt auf verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungsstufen unter sich verändernden Voraussetzungen. Auch die einzelnen, die hervortreten, stehen unter diesem Gesetz. Immer wieder aber ist das Ideal der humanitas auch zur Realität geworden, so dass ihm ein anthropologischer Urtrieb zugrunde liegen muss. Bei Schulz findet man folglich auch keine eigenwilligen Interpretationen, kein Strapazieren der Quellen, keine Konstruktion von Ideen, kein Moralisieren zum höheren Lobe unserer friedlichen Zeiten. Aber Nachdenkenswertes bietet Schulz in reicher Fülle. Wo immer man Europa und der Globus aufschlägt, beginnt man sich alsbald festzulesen. Im Abschnitt Lehre von der Politik des ersten Kapitels Polis und Politeia. Stadt und Politik im Altertum stößt man auf einen bedenkenswerten Satz des Aristoteles (S. 31): Der Gesetzgeber und der Staatsmann muss wissen, welche demokratischen Einrichtungen die Demokratie erhalten und welche sie zugrunde richten wichtiger aber ist für die Erhaltung der Staatsform die Erziehung im Geiste der Verfassung. Das vermag wohl kein Leser als ein beliebiges Zitat des Verfassers der Nikomachischen Ethik aufnehmen, das gilt wohl auch vom Autor Gerhard Schulz als in unsere Gegenwart gesprochen. Überhaupt sind die Zitate stets treffend gewählt nicht nur in der Anschaulichkeit, sondern auch im Hinblick auf die Autorschaften. Neben Carl Welcker (Staatslexikon) wird ein ungedrucktes Fragment August Ludwig von Schlözers zitiert, ferner Hamann, der dunkle Magus im Norden, Dostojewski, Christian Wilhelm Dohm, der von Goethe geschätzt wurde, der Marquis de Condorcet, der Comte de Saint-Simon und der mitunter überraschend moderne Friedrich Gentz, Paul Achatius Pfizer, Christoph Martin Wieland, der Phantasie und Aufmerksamkeit mit Scharfsinn zu präsentieren wusste (S. 171). Eine Reihe von Unterkapiteln las ich vor allem deshalb angeregt, weil sie neuartige Komprimierungen darstellen, so Deutschland und der Westen, Gelehrtenrepublik und Nation, Condorcet und die Grundlegungen des Sozialstaates, die Kapitel Deutsche Wende, Europäische Politik und die drei Abschlusskapitel von der Pariser Friedenskonferenz bis zum totalitären Führerstaat. Neben einem ausführlichen und zuverlässigen Personenregister bietet das Buch von Schulz einen hervorragenden Anmerkungsteil von fast 100 Seiten. Darin wird nicht einfach, wie leider oft üblich, darauflos zitiert, um Masse und Kenntnis auszubreiten, sondern es werden die wichtigsten Werke der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte zur weiterführenden Auseinandersetzung empfohlen und oft auch kommentiert. Fast überflüssig zu sagen, dass sich darunter auch die wichtigsten englischen, amerikanischen und französischen Darstellungen befinden. Man könnte umfangreichere Zusammenfassungen schreiben, aber doch nur andere und kaum bessere. (Wilhelm Ziehr)…mehr