Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 4,00 €
Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 335
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 491g
  • ISBN-13: 9783421051912
  • ISBN-10: 3421051917
  • Artikelnr.: 08195351
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.1999

Tausend fußlose Stimmen
Siebzehn junge Autoren unterwegs · Von Friedmar Apel

Die Magie des Kalenders will es, dass sich nachdenkliche junge Individuen an Jahrhundertenden verloren und zerstreut fühlen. Der Globetrotter Christian Kracht, der zurzeit in Phnom Penh lebt, hat einige gefunden und eingesammelt, um mit ihnen vor dem Jahrtausendende zu erörtern, wie es in der entgrenzten Welt zugeht. Diese Erörterung hat er in eine besinnliche Ordnung gebracht, auf dass sich die Individuen aufgehoben fühlen im Strom der Zeit; Werden, Sein und Vergehen lauten die Wegweiser im Zwischenland. In dieser schönen neuen Welt sind die Individuen unterwegs zu Orten und zur Sprache, und alle können Englisch.

Moritz von Uslar fährt unter Klängen von Elton John, Van Morrison und Cher auf einen "super Kurzurlaub" nach Davos, wo er mit Tofix und dem Kafix Ski fährt und erholsame Gespräche führt, in denen häufig Worte wie "logisch" oder "superlogo" vorkommen. ". . . how much I care." Alexander von Schönburg befindet sich, Bruckner hörend, "im Wettlauf mit Gott, ihm mit seiner Apokalypse zuvorzukommen". "Each man kills the thing he loves." Andreas Neumeister möchte gern ein "Satelite" sein, um sich Fragen beantworten zu können wie: "Wer belegt zurzeit Platz zwei der nordkoreanischen Charts?" Oder: "World of Music, World of Sex. Where do you want to go today?" Er weiß aber jetzt schon: "Entfernung ist ein dehnbarer Begriff."

Annie Phrommayon macht mit Mom, die alles über den Film "Viva Las Vegas" mit Elvis weiß, und Dad einen Ausflug an den Ort des Geschehens, wo sie sich einen schönen Tag machen: "Nach unserem All-you-can-eat-Frühstücksbuffet marschierten wir in The World's Biggest Gift Shoppe, und Dad kaufte allen ein Geschenk." Ingo Niermann hat dagegen Mühe, sich "eine Stunde zu vertreiben, ohne etwas zu suchen". So viel zum Werden, nun zum Sein.

Joachim Bessing pilgert zur Buchmesse nach Frankfurt, wo viel gesoffen wird und wo es auch "Techno, Sven Väth und Das Omen, das früher ja Vogue hieß", gibt. Und auch Rainald Goetz als literarische Person, die sagt: "Hey super ihr hier. Was hast du für einen supertollen Streifen an deinem Hemd?" Carl von Siemens reist nach Sri Lanka, wo er "unter einem trompetenden Vollmond" die australischen Nachrichten hört: "And here are the cricket results . . ." Rainald Goetz als Fotoautor schaut sich derweil im "Hotel Europa" um. Lorenz Schröter fährt, fährt, fährt lieber nach Bellersen, wo es "unendlich schön" ist: "Es gibt eine grüne Bank mit einer Metallplakette, darauf steht, wer sie gespendet hat." Nika Scheidemandel weiß, dass die Bewohner Mesopotamiens ein "kapriziöses Völkchen" sind, das gern auch weggeht. Ihr aber kommt bei der Fortbewegung immer das gleiche Gefühl: "Tausend fußlose Stimmen, die durch mich rattern und von denen ich mir irgendeine komplexe Struktur erhoffe, damit ich endlich einmal ankommen kann."

Eva Munz fährt in Gestalt eines Kroaten nach "New Delhi", wo ihr Dinge widerfahren, die ihr "sehr sombre" vorkommen. Eckhard Nickel setzt von Malta nach Gozo über und erfindet sich "eine völlig absurde Existenz, um der Unterhaltung einen Hauch von Spannung zu verleihen". In Elke Naters Hotel geht es schlimmer zu als daheim in der Wohngemeinschaft, und abends wird Karten gespielt. Christian Kracht imaginiert sich immerhin als reisender Drogenhändler und Mörder in Südamerika, der besoffen mit einem Koffer Nervengift stiften geht, während er Musik von Henry Purcell hört. In Rebecca Casatis Auenstraße langweilt sich Sofie, Anna ist schlecht, und Jakob ist "mit Breitsein beschäftigt". Kein Wunder, dass Beziehungen auseinander gehen. Uwe Kopf schließlich verlebt den letzten Frühling des Jahrtausends in Bamberg, "wohin damals auch der Dichter Thomas Bernhard mitunter geflüchtet ist". Da wird Christoph Schlingensief wegen Gotteslästerung verhaftet. Nun weiß auch dieser Erzähler nicht mehr, wo er hin soll.

Irony is over, sagt das Buch zum Abschied, und auch dem Leser ist der Sinn für Scherz, Satire und tiefere Bedeutung längst abhanden gekommen. In Werden, Sein und Vergehen hat er sich herzlich mit den dargestellten wie mit den schreibenden jungen Individuen gelangweilt, und nun ergreift ihn Mitleid mit allen, die am Ende des Jahrtausends unter Mediengeplärre in das supertolle entgrenzte Weltbild hineinwachsen müssen oder wollen. Nicht, dass sie nicht schreiben könnten, sie wissen nur nicht recht, worüber.

Christian Kracht (Hrsg.): "Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends". Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 336 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

In einer Doppelbesprechung rezensiert Daniel Bax zwei Bücher mit Erzählungen junger deutscher bzw. ausländischer Autoren. Beide schneiden allerdings bei ihm nicht besonders gut ab.
1) Christian Kracht (Hg,): "
"Erstaunlich ist an diesem Buch das Selbstbewußtsein, mit dem die Autoren erzählen, man kann ruhig sagen: die Unverschämtheit, mit der sie lostexten und darauf vertrauen, daß es jede Menge Leser gibt, die sich für ihre Geschichten interessieren. Und sie haben recht." Wolfgang Höbel im 'Spiegel'

"Ob das Marcel Reich-Ranicki freuen wird? In der deutschen Literaturszene tut sich jedenfalls endlich wieder etwas. Nach jahrelanger kreativer Flaute tritt eine ganze Reihe junger Nachwuchsliteraten selbstbewußt auf." GQ - Männermagazin

"Dem Pop ist das Kunststück gelungen, sowohl Mainstream zu werden als auch Avantgarde zu bleiben." Axel Henrici im 'buchreport magazin'

"Die Autoren dieser Generation, die noch keinen Namen hat, eint eine gemeinsame Weltsicht und ein gemeinsamer Erfahrungshorizont, die sich - zum ersten Mal - grundsätzlich von den Nachfolgern der 68er Generation unterscheiden. Diese Generation ist die erste, die das Utopische nie empfunden hat ... Einer Generation, die mit gutem Grund das Ende der moralischen Verbindlichkeiten zu einem ihrer Hauptthemen gemacht hat, kann man mit dem Weltverbesserungspathos der Post-68er am allerwenigsten beikommen." Harald Martenstein im 'Tagesspiegel'