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Mit der Wende Bismarcks zur sozialstaatlichen Intervention Ende der 1870er Jahre begann das liberale Bürgertum, das Verhältnis von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit neu zu überdenken. Wie reagierte der politische Liberalismus auf den sozialen und wirtschaftlichen Wandel im Zeitalter der Hochindustrialisierung? Wie wirkungsvoll waren dessen Leitbilder im Übergang zur industriellen Massengesellschaft? Dieses Buch befasst sich mit den wesentlichen Ebenen der liberalen Bewegung - mit Parteien und Parlamentsfraktionen ebenso wie mit dem Netzwerk bürgerlich-liberaler Kommunikation.…mehr

Produktbeschreibung
Mit der Wende Bismarcks zur sozialstaatlichen Intervention Ende der 1870er Jahre begann das liberale Bürgertum, das Verhältnis von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit neu zu überdenken. Wie reagierte der politische Liberalismus auf den sozialen und wirtschaftlichen Wandel im Zeitalter der Hochindustrialisierung? Wie wirkungsvoll waren dessen Leitbilder im Übergang zur industriellen Massengesellschaft? Dieses Buch befasst sich mit den wesentlichen Ebenen der liberalen Bewegung - mit Parteien und Parlamentsfraktionen ebenso wie mit dem Netzwerk bürgerlich-liberaler Kommunikation. Es entsteht eine Fallstudie über den Zusammenhang von parlamentarischen Entscheidungsprozessen und öffentlichem Meinungs- und Massenmarkt. Das Beispiel der Sozialpolitik zeigt, wie dynamisch das Machtgefüge von Regierung, Bürokratie, Parteien, Bundesstaaten und öffentlicher Meinung in der Bismarckzeit gewesen ist. In einer Zeit, in der die Möglichkeiten und Grenzen des Sozialstaats erneut diskutiert werden, öffnet die Untersuchung den Blick für Alternativen zum Bismarckschen Weg in der Sozialpolitik und belegt die Vielfalt der diskutierten Lösungsansätze. Durch übergreifende Kapitel wird die Studie - über den Liberalismus hinaus - zu einer Darstellung der historischen Grundlagen des modernen Sozialstaats.
Autorenporträt
Wolther von Kieseritzky, geb. 1960, Dr. phil., studierte Geschichte, Literatur und Philosophie in Berlin, Freiburg und Ann Arbor, USA. Veröffentlichungen zur Geschichte der Demokratie, zur Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zur politischen Theorie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2002

In der Defensive
Liberale Politik im kaiserlichen Deutschland 1878 bis 1893

Wolther von Kieseritzky: Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878-1893). Böhlau Verlag, Köln 2002. 564 Seiten, 54,- Euro.

Die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren nicht das Jahrzehnt des Liberalismus. Im Gegenteil: Bismarck vollzog nach 1878/79 einen scharfen antiliberalen Kurswechsel. Der Reichskanzler ließ ab vom Freihandel und setzte das Sozialistengesetz durch, das die anschwellende "rote Flut" der Arbeiterbewegung eindämmen sollte. Weil er nicht nur auf repressive Maßnahmen setzen konnte, inaugurierte Bismarck 1881 eine ehrgeizige Sozialpolitik. Innerhalb einer Dekade wurden zunächst die Kranken-, dann die Unfall- und schließlich die Alters- und Invalidenversicherung geschaffen. "Der Staatssozialismus paukt sich durch", lautete jetzt die Parole des Reichskanzlers.

Mit den Liberalen geriet damals die dominierende Partei der Reichsgründungsära in die Defensive, aus der sie sich bis heute, da die Staatsquote in Deutschland rund 47 Prozent beträgt, nicht hat befreien können. Bismarck mit seiner Witterung für populäre Parolen hatte wieder richtiggelegen: Schon bei der Reichstagswahl von 1881 fiel der Stimmenanteil der Nationalliberalen erstmals unter 18 Prozent. Wolther von Kieseritzky hat den Umgang der liberalen Parteien mit der sozialpolitischen Herausforderung in den Jahren zwischen 1878 und 1893, gewissermaßen der Gründerzeit des Interventionsstaats, untersucht.

Das ist ein aufwendiges Unterfangen, denn der Liberalismus zerfiel in drei Parteiungen: die Nationalliberalen, die sogenannte Sezession und die Fortschrittspartei Eugen Richters. Untereinander schon heftig zerstritten, gab es in allen drei Parteiungen wiederum Flügelkämpfe. Die innerliberalen Auseinandersetzungen und die parlamentarischen Debatten mit dem politischen Gegner hat Kieseritzky präzise zusammengefaßt. Da die Liberalismusforschung die großen Linien jedoch längst herausgearbeitet hat, ist das Buch vor allem für Spezialisten interessant, die das Interesse für argumentative Nuancen aufbringen.

Der Manchesterliberalismus war für die meisten Liberalen nach 1880 nur noch "metapolitische Hintergrundidee" (Thomas Nipperdey). Angesichts der Erfolge der Sozialdemokratie und ihrer revolutionären Programmatik brauchte es starke Nerven, weiterhin allein auf die heilende Kraft des Marktes zu vertrauen. Die soziale Not weiter Kreise der Arbeiterschaft konnte nicht länger geleugnet werden, vor allem der Verein für Socialpolitik hatte das Bewußtsein der Öffentlichkeit geschärft. Nur wenige Liberale wie Ludwig Bamberger bekannten sich trotzdem noch zum "Standpunkt des Nachtwächterstaates". Kein Wunder, daß sie über lange Jahre nicht mehr aus der Rolle einer rhetorisch volltönenden, machtpolitisch aber stimmlosen Partei herausfanden. Erst kurz vor der Jahrhundertwende wanderte das sozialpolitische Banner innerhalb des Liberalismus wieder nach links.

Die Nationalliberalen, von jeher stärker an der Teilhabe an der Macht und am Einverständnis mit Bismarck interessiert, waren dagegen bald bereit, vom Prinzip der Eigenverantwortung des einzelnen abzurücken. Die Linksnationalliberalen plädierten allerdings anders als Bismarck, der den Staat als Wohltäter in Szene setzen wollte, vor allem für die Förderung von Genossenschaften oder privaten Versicherungen. Es gelang den Nationalliberalen in langwierigen parlamentarischen Verhandlungen immerhin, den Einfluß des Staates auf die Sozialversicherungen gegenüber Bismarcks ursprünglichen Vorstellungen zurückzudrängen. Nur in der Alters- und Invaliditätsversicherung setzte der Kanzler einen staatlichen Zuschuß durch.

Eigene positive Akzente setzten die Liberalen in der Sozialpolitik des Reiches kaum. Es wäre daher verdienstvoll gewesen, wenn Kieseritzky stärker der Rolle des sozial aufgeschlossenen, kommunalen Liberalismus nachgegangen wäre. In vielen Städten, in denen liberale Bürger das Heft des Handelns in der Hand hatten, bewiesen sie ihre Fähigkeit zu pragmatischen Lösungen drängender sozialer Fragen. Sie schufen ein engmaschiges Netz der Daseinsvorsorge. Anhand des Frankfurter Oberbürgermeisters und nationalliberalen Parteiführers Johannes von Miquel, der das Elend städtischer Arbeiter kannte und sich unter anderem für einen besseren Arbeiterschutz einsetzte, könnte der Frage nachgegangen werden, warum die Errungenschaften in den Städten auf nationaler Ebene nur eingeschränkt weiterverfolgt wurden.

Kieseritzky hält sich mit nachträglichen Ratschlägen an die Liberalen zurück, wie sie die Herausforderung auf Reichsebene besser hätten meistern können. Ihre Ausgangsposition war schwierig: Die Wählerschaft wurde sozial und ökonomisch immer heterogener, nicht nur regional, sondern auch innerhalb der einzelnen Wahlkreise. Mit dem Interventionsstaat, der erhebliche materielle Umverteilung mit sich brachte, gerieten auch die Wählerbindungen in Bewegung. Der Primat der Rechts- und Verfassungspolitik, der Kitt der alten liberalen Bewegung, trat in den Hintergrund. Die Sozialpolitik war und ist nicht das geeignete Feld für Liberale, um sich mit eingängigen und populären Parolen zu profilieren.

MATTHIAS ALEXANDER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Matthias Alexander hält Wolther von Kieseritzkys Buch über liberale Politik im kaiserlichen Deutschland zwischen 1878 und 1893 - zwischen Bismarck, Machtstaat und Arbeiterbewegung also - für ein ziemlich aufwändiges und einigermaßen gelungenes Unterfangen. So lobt der Rezensent, dass Kieseritzky präzise die innerliberalen Auseinandersetzungen und die parlamentarischen Debatten mit dem politischen Gegner aus der Zeit zusammenfasst, als Bismarcks Interventionsstaat und die Erfolge der Sozialdemokratie den Vertretern liberaler Positionen starke Nerven abverlangten. Alexander bedauert allerdings, dass der Autor die - wenigen - sozialpolitischen Akzente vernachlässigt, die die Liberalen gesetzt hätten, denn zumindest auf kommunaler Ebene seien sie durchaus sozial aufgeschlossen und zu pragmatischen Lösungen bereit gewesen. Da aber die Liberalismusforschung die großen Linien bereits herausgearbeitet habt, lautet indes das Fazit des Rezensenten, ist das Buch vor allem "für Spezialisten interessant, die das Interesse für argumentative Nuancen aufbringen".

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