Marktplatzangebote
11 Angebote ab € 3,28 €
  • Gebundenes Buch

Freud, der uns das Bild des Menschen als eines tragisch zerrissenen Wesens vor Augen führt, nahm zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen die im ersten Weltkrieg zerstörte bürgerliche Welt - und verfasste davon ausgehend nicht mehr und nicht weniger als eine Anthropologie des 20. Jahrhunderts.
Freud zeigt sich mit der Psychoanalyse als - vorausschauender - Chronist seines Jahrhunderts, seiner Kriege, den Erfahrungen des massenhaften Sterbens und Tötens bishin zum systematisch organisierten Massenmord an den europäischen Juden. Micha Brumlik beschreibt, unter welchen historischen…mehr

Produktbeschreibung
Freud, der uns das Bild des Menschen als eines tragisch zerrissenen Wesens vor Augen führt, nahm zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen die im ersten Weltkrieg zerstörte bürgerliche Welt - und verfasste davon ausgehend nicht mehr und nicht weniger als eine Anthropologie des 20. Jahrhunderts.
Freud zeigt sich mit der Psychoanalyse als - vorausschauender - Chronist seines Jahrhunderts, seiner Kriege, den Erfahrungen des massenhaften Sterbens und Tötens bishin zum systematisch organisierten Massenmord an den europäischen Juden. Micha Brumlik beschreibt, unter welchen historischen Voraussetzungen diese Theorie des Unbewussten entstehen konnte und nähert sich den Schriften Freuds fortan aus verschiedenen Richtungen, von der Traumtheorie ebenso wie von der Geschlechtertheorie und Trieblehre bis zu den zahlreichen kulturkritischen Schriften in seinem Werk. Zum Schluss des Buches stellt er die Frage, ob der Beitrag des Judentums zur europäischen Kultur - seine und die Tradition des Christentums reflektierend - nicht zuletzt in der Erfindung der Psychoanalyse bestand.
Autorenporträt
Micha Brumlik, geb. 1947, lehrte nach Assistenzjahren in Göttingen, Hamburg und Mainz Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seit dem Jahr 2000 lehrt er Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt »Theorien der Bildung und Erziehung« an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt, wo er von 2000 bis 2005 zugleich Direktor des »Fritz Bauer Instituts, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust« war. Zwischen 1989 und 2001 war er in Frankfurt zudem Stadtverordneter der GRÜNEN. Seit 2013 ist er Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2006

Sachbücher im März
Empfohlen werden nach einer monatlich erscheinenden Rangliste Bücher der Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. JARED DIAMOND: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Übersetzt von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, 704 Seiten, 22,90 Euro.
2.-3. CHRISTOPHER DE BELLAIGUE: Im Rosengarten der Märtyrer. Ein Portrait des Iran. Übersetzt von Sigrid Langhäuser. C. H. Beck Verlag, 341 Seiten, 24,90 Euro.
KLAUS-DIETMAR HENKE (Hg.): Die Dresdner Bank im Dritten Reich. In vier Teilbänden von Johannes Bähr, Dieter Ziegler, Harald Wixforth und Klaus-Dietmar Henke. R. Oldenbourg Verlag, 2374 Seiten, 79,80 Euro.
4.MICHA BRUMLIK: Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Beltz Verlag, 280 Seiten,
22,90 Euro.
5.KLAUS HERBERS, HELMUT NEUHAUS: Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843-1806). Böhlau Verlag, 343 Seiten, 34,90 Euro.
6. ALEXANDER STILLE: Citizen Berlusconi. Übersetzt von Karl H. Siber. C. H.Beck Verlag, 383 Seiten, 24,90 Euro.
7.KARL ERICH GRÖZINGER: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Chassidismus. Campus Verlag, 600 Seiten,
65 Euro.
8.-10.WOLFGANG HAGEN: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks. Wilhelm Fink Verlag, 394 Seiten, 39,90 Euro.
NAVID KERMANI: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte. C. H. Beck Verlag, 336 Seiten, 24,90 Euro.
ROBERT WINSTON (Hg.): Der Mensch. Die große Bild-Enzyklopädie. Verlag Dorling Kindersly, 512 Seiten, 49,90 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats März 2006 von Hans Martin Lohmann: Freud’s Library. A Comprehensive Catalogue – Freuds Bibliothek. Vollständiger Katalog. Bearbeitet und herausgegeben von J. Keith Davies und Gerhard Fichtner. Edition Diskord, 144 Seiten, 36 Euro.
Mitglieder der Jury:
Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Matthias Kamann, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Rolf Rietzler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Albert von Schirnding, Norbert Seitz, Eberhard Sens, Hilal Sezgin, Volker Ullrich, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR)
Die nächste SZ/NDR/Buch-Journal-Liste der Sachbücher des Monats erscheint am 31. März.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2006

Gar nicht so tief gesunken
Ein Bildungsroman: Micha Brumlik liest Sigmund Freud

Die Psychoanalyse schaut zurück und nach vorne. Ihr Material holt sie sich aus der Vergangenheit des Patienten, um ihn mit seiner Gegenwart auszusöhnen und auf eine bessere Zukunft vorzubereiten. Der Rückblick orientiert sich nicht allein an der persönlichen Vergangenheit des Patienten, sondern mit den Mythen der Antike auch an einer kollektiven Vergangenheit. Micha Brumlik aber ist in erster Linie an dem nach vorne gerichteten Blick des Janus interessiert. Er nennt Sigmund Freud den Denker des zwanzigsten Jahrhunderts, und die Zukunft, in die er schaut, ist erschreckend.

Die Achsenzeit der Psychoanalyse liegt für Brumlik im Ersten Weltkrieg, und das ist zunächst unerwartet. "Die Traumdeutung", das erste große Werk der neuen Lehre, erschien 1900, und Freud vollzog seinen Bruch mit der Schulmedizin schon um die Jahrhundertwende. Doch Brumlik setzt andere Akzente und macht damit deutlich, daß er Freud und seine Lehre nicht auf einer persönlichen, werkbiographischen Ebene liest, sondern als historisches Phänomen innerhalb einer Geschichte der Weltanschauungen.

Ein Beispiel ist der Begriff des Kindes, mit dem die Psychoanalyse arbeitet. Es habe sexuelle Bedürfnisse, betonte Freud und schuf damit das Skandalon, das ihn vor der medizinischen Zunft zum Außenseiter stempelte. Brumlik aber weist darauf hin, daß die "Unschuld" des Kindes keineswegs als das Ergebnis empirischer Wissenschaft zu gelten habe. Im Gegenteil: Lange herrschte die Auffassung von "Kindern als lüsternen und aggressiven, letztlich verstockten Wesen", und erst seit dem siebzehnten Jahrhundert sei sie allmählich einer anderen Anschauung gewichen. In der Romantik und unter dem Einfluß der "bürgerlichen und biedermeierlichen Transformation des Christentums durch Schleiermacher" habe sich im neunzehnten Jahrhundert schließlich ein Bild des engelhaften Kindes verfestigt, das sich auch auf entsprechende Perikopen bei Markus und Lukas berufen konnte.

Brumlik ist Erziehungswissenschaftler, und die Entwicklung der Psychoanalyse liest er auf dem Hintergrund der Dynamik, mit der das moderne Menschenbild sich gewandelt hat. Freuds zwanzigstes Jahrhundert definiert er mit dem Historiker Eric Hobsbawm als das "kurze Jahrhundert", das erst 1914 mit dem Untergang des alten Europa begann, und dem Ersten Weltkrieg mißt er daher besonderes Gewicht bei. Als Freuds Sohn Martin 1915 an der russischen Front verwundet wird, veröffentlicht er den Aufsatz "Zeitgemäßes über Krieg und Tod", und dort heißt es: "Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde."

Auf solche Kriegserfahrung führt Brumlik die pessimistische Bildungstheorie Sigmund Freuds zurück, die anders als die Theorien der Aufklärung und des Idealismus dem Menschen alle angeborene Neigung zur ethischen Vervollkommnung abspricht. "In Wirklichkeit", so zitiert er Freud, "sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen glaubten."

Das berührt einen Widerspruch in Freuds Lehre, den Brumlik nicht scharf genug hervorhebt. Der "kriegführende Staat" setzt sich über moralische Grenzen hinweg, die für jeden seiner Bürger gelten, und er schafft damit einen schwer überbrückbaren Gegensatz zwischen dem "Menschen" als individueller und als kollektiver Erscheinung. Brumlik arbeitet diese Dichotomie erst für die Jahre nach 1914 heraus, aber auch vorher schon prägt sie die Entwicklung der Psychoanalyse.

Als Therapie wendet sie sich dem Individuum zu, seiner persönlichen Lebensgeschichte sucht sie die Heilmittel für seine Neurose zu entnehmen; als Gedankengebäude aber bemüht sie sich um die menschliche Kollektivgeschichte, in der ein anderes Gesetz herrscht als das des Individuums. In "Totem und Tabu", noch vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben, konstruiert Freud nicht einen individuellen, sondern einen kollektiven Vatermord: Als Gruppe erheben sich die Söhne gegen den Vater und erschlagen ihn; und erst in einem zweiten Schritt - im schlechten Gewissen, mit dem sie das väterliche Inzestverbot nachträglich akzeptieren - wird die Moral zur individuellen Verpflichtung.

Schon am Ursprung der Moral beobachtet Freud also, was sich im Krieg wiederholen wird: Die Gruppe darf morden, dem Kollektiv der Soldaten ist erlaubt, was dem einzelnen untersagt bleibt. Nicht zufällig hat Freud die Gesellschaftsnormen, unter deren Zwang das Individuum steht, erst nach dem Weltkrieg in einem Über-Ich verortet, das deutlich gewaltsame Züge aufweist.

Im Krieg tritt ein Widerspruch zutage, der in der Psychoanalyse längst angelegt ist, und wenn es Brumlik nicht gelingt, ihn aufzulösen, dann hat das seinen Grund schon in Freuds Werk. Er läßt sich auf verschiedene Weisen darstellen, und an anderer Stelle formuliert Brumlik ihn so: "Die zugrundegelegte Anthropologie scheint zu unterstellen, daß die Gattung - und das heißt jedes einzelne ihrer Exemplare - grundsätzlich eigensüchtig ist, die Lebenserfahrung zeigt aber, daß sowohl Liebe als auch Altruismus empirische Gegebenheiten sind. Zur Lösung dieses Problems greift Freud auf eine, wenn man so will, ,lamarckistische' Annahme zurück, gemäß der erlernte Verhaltensweisen schließlich - über Generationen hinweg - ins je individuelle Erbgut übernommen werden."

Der französische Biologe Lamarck trug seine Hypothese im Jahr 1809 vor, zu Beginn der industriellen Revolution, als man noch glaubte, das organische Erbgut ließe sich über den Intellekt beeinflussen. Solch aufklärerischen Optimismus hat Darwin später widerlegt, doch es ist bezeichnend, daß Freud noch einmal mit seinen Prämissen spielt.

Die Psychoanalyse ist der Versuch, den Engpässen des Seelenlebens zu entkommen, und ihrem Erfinder wäre es nur recht gewesen, den Lernprozessen des Homo sapiens auch im menschlichen Genom ihre befreiende Wirkung zu sichern. Es war ein Wunschtraum, in dem der unauflösbare Widerspruch noch einmal hervortrat: Die Zeit der Aufklärung, der die Psychoanalyse ihre ersten Impulse verdankte, ging noch davon aus, daß das Individuum sich aus den Zwängen der Natur befreien könne; im technologischen Zeitalter der Massen jedoch, in dem Freuds Lehre zur Reife kam, holten die Determinismen einer undurchschaubaren Welt die Menschheit schnell wieder ein.

JAKOB HESSING

Micha Brumlik: "Sigmund Freud". Der Denker des 20. Jahrhunderts. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2006. 304 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"Micha Brumlik nähert sich der Theorie Freuds, ohne die Praxis in Frage zu stellen. Er sieht in ihr eine moderne Anthropologie formuliert, die ihresgleichen sucht." Tages-Anzeiger, Zürich

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Gelungen findet Rezensent Oliver Pfohlmann diese Einführung zu Sigmund Freud von Micha Brumlik, auch wenn sie nicht immer leichtfüßig daherkommt. Besonders schätzt er den Ernst, mit dem der Autor die "anthropologische Essenz" der Psychoanalyse behandelt. Brumlik betrachte Freud als "hellsichtigen Theoretiker", der den Verlust religiöser Gewissheiten ebenso artikuliere wie die Erfahrung des massenhaften Tötens im Ersten Weltkrieg. Pfohlmann hebt hier vor allem Brumliks Ausführungen zu Freuds umstrittenem Theorem des Todestriebs hervor, das der Autor durch Richard Dawkins Theorie der egoistischen Gene gestärkt sieht. Zudem würdigt er Brumliks Pochen auf der Einsicht, dass Freud ein Denker gewesen sei, der sich quer zur Tradition abendländischer Philosophie für das Einmalige und Kontingente am Menschen interessiert habe. Einen Minuspunkt vergibt der Rezensent für stilistische und inhaltliche Schludereien, die er dem Lektorat anlastet.

© Perlentaucher Medien GmbH