Produktdetails
  • Verlag: Beltz
  • ISBN-13: 9783407798183
  • ISBN-10: 3407798180
  • Artikelnr.: 24049791
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Das Gedicht will auf gar keinen Fall in die Bibliothek
Wieviel, o wieviel Umwelt: Der "Große Ozean" der Kinderlyrik

Was die moderne Kinderlyrik ohne Hans-Joachim Gelberg gewesen wäre, kann man sich nicht vorstellen. Er hat mit seinem Engagement für das Kindergedicht die Rolle des Verlegers im guten alten Wortsinn ausgefüllt, des leidenschaftlich interessierten Kenners, der Talente aufspürt, der eine Nase für Trends hat, aber auch Abgelegenes zu schätzen weiß. Er hat die prekäre und marginale Stellung der Kinderlyrik auszugleichen vermocht. In zwei großen Anthologien - "Die Stadt der Kinder" (1969) und "Überall und neben dir" ( 1986) - hat er den jeweiligen Standort des Kindergedichts markiert. Seine Jahrbücher der Kinderliteratur waren poetische Laboratorien. Autoren wie Christine Nöstlinger, Hans Manz, Josef Guggenmos, Frantz Wittkamp hat er eigene Gedichtbände eingerichtet. Wer also sollte berufen sein, wenn nicht er, die Anthologie der Kinderlyrik für das Jahr 2000 herauszugeben?

Kinderlyrik? Nein: "Gedichte für alle" - die Grenzen zwischen jungen und älteren Lesern werden aufgehoben. Ein Motto von Paul Celan  "Wieviel, o wieviel / Welt. Wieviel / Wege"  zeigt das Niveau an. Tatsächlich sind von den über hundertsechzig hier versammelten Dichtern mindestens ein Drittel auch aus der "erwachsenen" Literatur bekannt - ein Hinweis auf den grenzgängerischen Eigenwillen, mit dem sich Lyriker wohl häufiger als andere Autoren fixen Zuordnungen entziehen.

Erstmals hat Gelberg ältere Autoren wie Rilke, Brecht, Robert Walser einbezogen, ohne deshalb auf eine repräsentative Anthologie des 20. Jahrhunderts zu zielen. Der Schwerpunkt liegt auf den jüngeren Texten. Neu ist die Aufnahme von Übersetzungen. Es gibt Gedichte von W.C. Williams, von Tadeusz Rózewicz und Vasco Popa, darunter die "kleine Schachtel", die zuerst Harald Hartung in der Anthologie "Luftfracht" auf deutsch veröffentlicht hat. Dies ist ein Gedicht, in dem das Kleine und das Große, Schachtel und Universum einander wechselseitig umschließen, sich Kindheitssehnsucht und ein wohlbedachter kindlicher Sprachgestus verschränken, fern jeder forcierten Naivität.

Zwischen diesen und anderen Höhepunkten der Auswahl stehen viele kurze Texte, die als Kindergedichte konzipiert sind. Mehrere waren bereits im Jahrbuch der Kinderliteratur "Oder die Entdeckung der Welt" (1997) abgedruckt. Sie scheinen nach wie vor repräsentativ für den aktuellen Stand der Kinderlyrik zu sein. Der allerdings gibt zur Begeisterung wenig Anlaß. Seit den siebziger Jahren bewegt sich das Kindergedicht zwischen den Polen der Alltagslyrik und den vereinfachten Konstruktionen später konkreter Poesie. In beiden Gruppen ist nicht alles gleich frisch; es gibt Imitationen von vorgestrigen Innovationen sowie eine ermüdende Konstanz von Themen, Motiven und lyrischen Verfahren. Manch antiautoritäres Pathos wirkt heute ebenso angestaubt wie lässiges Parlando. Die schlichten moralischen Umweltmahnungen kennen wir schon. Sie füllen längst alle Lesebücher und Lehrpläne. Literarisch haltbarer sind sie dadurch nicht. Ein großer Teil der lyrischen Flaschenpost, die Gelberg uns aus dem Ozean der Gedichte zuschickt, dümpelt in den Untiefen pädagogischer Verständigungstexte. Die Füllung der Ökotonne, die Freude über kleinkindliche Entdeckungen (eher etwas für Eltern), die Schrecken der Kriege, das philosophische Sinnieren - sicher, jeder kann schreiben, aber muß alles gedruckt werden?

Selten findet man einprägsame Metaphern, wie sie manchmal Peter Jepsen in präzisen Kürzestgedichten gelingen. Mit den Reimen steht es jenseits der Verse von Morgenstern und Ringelnatz, Christa Reinig und Christine Lavant auch nicht zum Besten. Ganz unbedarft wird hier Not auf tot, Busch auf husch gereimt, gibt Gerhard Schöne überwiegend weitschweifige Harmlosigkeiten zum besten. Um so größer ist die Freude, F.W. Bernsteins hohen Bedarf an Erlösern kennenzulernen oder Hanna Johansens phantastisches Bestiarium.

Das Versprechen des Mottos "wieviel Welt. Wieviel Wege" hat Gelberg dank Dichtern wie Jandl, Mayröcker, Enzensberger eingelöst, nicht aber mit der Mehrzahl der speziell an Kinder gerichteten Texte. Selbst in Hinblick auf den heutigen Kinderalltag wirken sie blutleer und weltlos. Wo sind die veränderten Spielwelten, die neuen Bewegungserfahrungen, die erhöhten Geschwindigkeiten von Inlineskatern, die perfekten Inszenierungen der Angstlust in Vergnügungsparks, das Modebewußtsein, die weiten Flugreisen? Diese sinnlichen Erfahrungen der Kinder werden nicht wahrgenommen, weil die Brille der moralisierenden Pädagogen den unvoreingenommenen Blick auf Oberflächenphänomene trübt. - Was die Ausstattung mit zahlreichen Vignetten bedeutender Illustratoren der Gegenwart betrifft, bleibt nur ein Wunsch offen: daß auch ihnen wie den Übersetzern eine biographische Notiz zugestanden worden wäre.

GUNDEL MATTENKLOTT.

Hans-Joachim Gelberg (Hg.): "Großer Ozean". Gedichte für alle. Bilder, Fotos, Illustrationen. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2000. 264 S., geb., 36,- DM. Für jedes Alter.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2000

Im Meer der Kinderlyrik
Eine Lyrikanthologie, deren versammelte Texte und Abbildungen mit der Tradition und der Moderne der Kinderwelt spielen.
HANS-JOACHIM GELBERG: Großer Ozean. Gedichte für alle. Verlag Beltz & Gelberg 2000. 264 Seiten, 36 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
"Es ist die schiere Lust, in Gelbergs Anthologie mit mehr als 350 Gedichten ... zu lesen. Heiteres und Ernstes, Albernes und Tiefsinniges, Gereimtes und Ungereimtes - ein toller Streifzug durch die Weltpoesie!" Focus

"Mal heiter und fröhlich, mal traurig und trist - obwohl dieser Gedichtband für Kinder gedacht ist, taugt er für jedes Alter." Stern

"Mir ist in diesem Jahr kein schöneres, kein bunteres, kein besinnlicheres Buch mit lyrischen Entdeckungen und feinsinnigen Gedanken vor Augen gekommen als Hans-Joachim Gelbergs jüngste Anthologie 'Großer Ozean - Gedichte für alle.'" Klaus Doderer, Die Zeit

"Und das soll Kinder und Erwachsene interessieren? Aber ja doch! Weil es da frech zugeht, putzmunter und blitzheiter, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, leicht und schwer, geradewegs so und irgendwie krumm wie eben die reale Poesie mit ihren Worten und dem Leben so spielt." Rheinische Post

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Nach Christina Thurner sollte sich der Leser von der "lyrischen Flut", die einem beim Aufschlagen des Buchs entgegenwogt, nicht abschrecken lassen. Stattdessen empfiehlt sie die vom Herausgeber im Klappentext selbst vorgeschlagene Flaschenpost-Strategie: "lesen, was man zufällig findet". Dass bei dieser Anthologie nach Thurner keine klare Ordnung zu erkennen ist, ist für sie daher kein Makel. Die Qualitäten des Buchs überwiegen nach Ansicht der Rezensentin eindeutig: So lobt sie das "große Spektrum" der Anthologie, sowohl was die Autoren und Themen betrifft (von Brecht bis Christine Nöstlinger, von Liebe bis Umweltverschmutzung), sondern auch die Formen. So gebe es neben bekannten Reimen auch Rätsel, Aphorismen, Haikus oder auch Sprachspiele, und auch die Stimmungen, die die Gedichte auslösen, sind - wie Thurner begeistert anmerkt - äußerst unterschiedlich. So gebe es Gedichte, die zum Lachen anregen, die traurig sind oder nachdenklich machen - und zwar nicht nur Kinder, "sondern auch Erwachsene".

© Perlentaucher Medien GmbH"