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Als der 1943 als Sohn ungarisch-jüdischer Eltern in Budapest geborene György Dalos im Frühjahr 1960 dem Kommunistischen Jugendverband beitrat, war er plötzlich von Gleichaltrigen umgeben, die sich als Avantgarde der Nachkriegsgeneration begriffen. Das schien der Ausweg aus der von den Toten umgebenen Einsamkeit des Jüdischseins. Der glühende Kommunist wurde mit einem Studienplatz in Moskau belohnt. Aber dann kam alles ganz anders.
Für den Kommunismus: Das begann schon damit, dass die Rote Armee im Januar 1945 die Mauern des Budapester Ghettos durchbrochen hatte. Dadurch bewahrte sie den
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Produktbeschreibung
Als der 1943 als Sohn ungarisch-jüdischer Eltern in Budapest geborene György Dalos im Frühjahr 1960 dem Kommunistischen Jugendverband beitrat, war er plötzlich von Gleichaltrigen umgeben, die sich als Avantgarde der Nachkriegsgeneration begriffen. Das schien der Ausweg aus der von den Toten umgebenen Einsamkeit des Jüdischseins. Der glühende Kommunist wurde mit einem Studienplatz in Moskau belohnt. Aber dann kam alles ganz anders.

Für den Kommunismus: Das begann schon damit, dass die Rote Armee im Januar 1945 die Mauern des Budapester Ghettos durchbrochen hatte. Dadurch bewahrte sie den 1943 geborenen György und seine Eltern vor dem Abtransport in ein deutsches Vernichtungslager. Ohne den Kommunismus: Das war das Resultat des Ernüchterungsprozesses, dem sich der kommunismustrunkene Geschichtsstudent in der sowjetischen Wirklichkeit ausgesetzt sah. Ebenso unerwartet begann über Nacht im Jahr 1968 das Leben als Dissident gegen den Kommunismus, als der nach Ungarn zurückgekehrte Schriftsteller wegen angeblicher maoistischer Umtriebe zu sieben Monaten Haft verurteilt wurde.
Schonungslos gegen sich selbst erzählt der mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnete Publizist und Historiker die Geschichte seines Lebens und zugleich die Geschichte der großen Lebenslüge namens real existierender Sozialismus von 1956 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1990.
Autorenporträt
György Dalos ist freier Autor und Historiker. 1995 wurde er mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. 2010 erhielt er den L eipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019

Im Wartesaal
Der Schriftsteller und europäische Intellektuelle György Dalos
erzählt sein Leben „Für, gegen und ohne Kommunismus“
VON JENS BISKY
Moskau, wo angeblich das Herz der Weltrevolution schlug, bereitete dem jungen Kommunisten zu Beginn der Sechzigerjahre einige Enttäuschungen. Während er die Stadt erkundete, Stalins neues Grab an der Kremlmauer besah, über den Roten Platz und durch die Gorki-Straße streifte, wurde im Studentenheim am Lomonossow-Prospekt sein weiß lackierter Kleiderspind ausgeräumt. Zwar hatte der angehende Geschichtsstudent aus Ungarn die Zimmertür sorgsam abgeschlossen, aber das war vergebliche Mühe, passte doch jeder Schlüssel im Heim zu allen Schlössern.
Geklaut hatte man ihm vor allem die westlichen Produkte, den Anzug, die Winterjacke, den Pullover, sie würden sich auf dem Schwarzmarkt gut verkaufen lassen. Zwar überließ ihm einer seinen Wintermantel und der Studentenrat bewilligte fünfzig Rubel Soforthilfe, aber es waren weder in den großen Warenhäusern noch in den Spezialgeschäften der Riesenstadt passende Kleidungsstücke zu finden.
So lernte der Student György Dalos den sowjetischen Alltag kennen. Warenmangel und Warterei, schreibt er in seinen Erinnerungen, lösten Ungeduld aus: „Besonders ärgerlich fand ich die willkürlich erscheinende Schließung von Läden mitten am Arbeitstag unter dem Vorwand ,Inventur’ oder ,Kontrolle’ oder, noch absurder, von Kantinen und Buffets ausgerechnet in der Mittagszeit mit einem strengen Schild an der Tür ,Geschlossen wegen Mittagspause’“. Er versuchte, die sowjetische Wirklichkeit gegen seine eigenen Wahrnehmungen in Schutz zu nehmen, aber die „täglichen Siegesmeldungen“ der Propaganda erschwerten das. In Ungarn, das dem sowjetischen Vorbild nacheiferte, war die Lebensqualität besser, die Kultur freier. Besonders heftig attackierte ein Zimmergefährte die Begeisterung des jungen Mannes, der sich gerade als Lyriker einen Namen machte, für die lichte Zukunft. Das sei „reine Idiotie“, „eines intelligenten Menschen unwürdig“.
Binnen weniger Jahre ging der junge György Dalos auf Distanz zum Sowjetsystem, kritisierte es von links, mit Che Guevara und Mao. Er wurde observiert, schikaniert, verhaftet, trat in den Hungerstreik, stand vor Gericht, das ihn zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilte. Er durfte nicht mehr publizieren, schlug sich mit Übersetzungen durch und gehörte in den Siebzigerjahren zu den Mitbegründern der ungarischen Demokratiebewegung. Deren Entstehung hat er seinen Essay „Archipel Gulasch“ gewidmet, der 1986 erschien. Im Jahr 2009 beschrieb er „Das Ende der Diktaturen in Osteuropa“. In den letzten Tagen des Kalten Krieges und den ersten Jahren des Aufbruchs nach 1989 wurde György Dalos ein europäischer Intellektueller.
Weil er von seinem Leben „mit, gegen und ohne Kommunismus“ erzählt, stehen seine Erinnerungen in der stolzen Tradition der Renegatenliteratur. Aber Dalos schreibt aus einer besonderen, seltenen Perspektive: „Jetzt bin ich ein alter Mann, betrachte mit wachsender Skepsis die kaputte Welt und mein kaputtes Land und zweifle an meiner Fähigkeit, über irgendetwas ein relevantes Urteil zu sprechen, geschweige denn, mich in die Angelegenheiten der Welt einzumischen. Und ich bin erstaunt über jenen jungen Mann, der ich einst war“. Damals habe er „als historische Kraft wirken wollen“, im Rückblick scheine ihm die Entscheidungen jener Jahre „unter dem Einfluss persönlicher Bindungen entstanden“.
Daher behandelt Dalos kaum ideologische Floskeln und wenn er es tut, dann ironisch, mit sarkastischen Bemerkungen über „Sowjetbarock“. Er meidet das Hochtönende, berichtet vom Alltag eines ungarischen Schriftstellers, porträtiert Familie, Freunde, Weggefährten, darunter den Jahrhundertphilosophen György Lukács.
Dalos wurde 1943 in Budapest geboren worden, als Kind einer jüdischen Familie. Die Vorfahren hießen mütterlicherseits Berliner, väterlicherseits Deutsch. Ein Haus am Budaer Schwabenberg hatten die Großeltern Ende der Dreißigerjahre verkaufen müssen. Der neue Besitzer stellte es dem Stab Adolf Eichmanns zur Verfügung, der 1944 nach Budapest kam und die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz organisierte. Die Vernichtungsaktion lief, bis die Rote Armee Anfang 1945 Budapest befreite.
Die „Dankbarkeit gegenüber den Lebensrettern“ blieb auch nach der Niederschlagung des Volksaufstands von 1956, die Dalos empörte. Er besuchte danach seinen Klassenlehrer im Internierungslager, aber: Wer das „Tagebuch der Anne Frank“ gelesen hatte, schreibt er, das 1958 auch auf Ungarisch erschien, fühlte sich spontan „von der politischen Kraft angezogen, die dem Leid zumindest temporär ein Ende gesetzt hatte“.
Obwohl das Reisen bequem wie nie geworden ist, Budapest, Prag, Warschau nicht länger in einer anderen Welt liegen, wächst gegenwärtig die Entfremdung zwischen Ost- und Westeuropäern. Neben zähen Vorurteilen dürfte auch Unkenntnis der jüngsten Vergangenheit dafür verantwortlich sein. Wer ist schon mit den unterschiedlichen, keineswegs homogenen Lebenswirklichkeiten in den Ländern des Ostblocks vertraut? Wer erinnert sich noch an die Freundeskreise der Dissidenten in den Jahren, als der Sozialismus „ewige Gegenwart“ schien und das Leben „im Wartesaal“ verharrte?
Damals, in den Siebziger- und Achtzigerjahren lernt Dalos den Kursbuch-Herausgeber Hans Magnus Enzensberger und den aus der DDR vertriebenen Schriftsteller Klaus Schlesinger kennen, den von der Stasi verfolgten Jürgen Fuchs und Friedrich Christian Delius, die aus Rumänien ausgereiste Herta Müller. Die Erinnerungen an dieses Ländergrenzen übergreifende Netzwerk zwischen Prag, Budapest, Warschau, Wien, beiden Teilen Berlins wecken beinahe Nostalgie, als seien Kommunikation und Verständnis in Achtzigerjahren leichter gefallen als heute.
Dalos, der ein ebenso melancholischer wie diskreter Erzähler ist, kommentiert die Gegenwart nur an wenigen Stellen. Aber einmal vergleicht er das Lebensgefühl im späten Sozialismus mit dem in Viktor Orbáns Ungarn. Damals ging es der Mehrheit um kleine Freiheiten, Konsum, Westreisen, die Hoffnung, dass es nicht schlimmer werde. Diese Mentalität war nach den Transformationskrisen ohne Weiteres übertragbar: „Es gibt keine funktionsfähigere Diktatur als die freiwillige Selbstbeschränkung einer Gesellschaft.“
Das Buch endet im Jahr 1989. Dalos arbeitet an seinem Roman „Die Beschneidung“, der von einem jüdischen Jungen am Vorabend des ungarischen Volksaufstandes von 1956 erzählt. Seine langjährige Freundin Ika, eine Stalinistin, die den Ruf hatte, junge Autoren zum Trinken zu verführen, wirft sich am 23. Oktober 1989 – es war der Jahrestag des Aufstands von 1956, es wurde die Ungarische Republik ausgerufen – „aus dem Fenster ihrer Wohnung im fünften Stock“. Sie wollte die „Konterrevolution“ nicht erleben.
Die Silvesternacht 1989/90 verbrachte Dalos in einer Schöneberger Wohnung, „in einer gemischten west- und ostdeutschen, polnischen, tschechoslowakischen, rumäniendeutschen und ungarischen Gesellschaft. Eine Frau war gerade aus Rumänien eingetroffen und weinte unentwegt.“ Man sang Schlager, Volks- und Revolutionslieder, um Mitternacht dann „mit großem gespielten Ernst“ die Nationalhymnen. Nur mit der ungarischen glückte es nicht recht, weil Dalos „einen tränenreichen Lachanfall“ bekam. Am folgenden Tag ging er spazieren: „An der Mauer brachen türkische Jugendliche kleine Stücke des ,Schutzwalls’ mit Hammer und Meißel heraus und verkauften sie an Touristen (.…). Die Straße vom Checkpoint Charlie bis zum Halleschen Tor war bedeckt mit ausgebrannten Feuerwerkskörpern, leeren Cabinet-Zigarettenschachteln, Bierdosen und Weinflaschen. Kein Schnee, keine Kälte – ein Winter und doch keiner.“ So begann die neue Zeit.
György Dalos versteht es wie nur wenige, Persönliches und Politisches ineinander zu spiegeln, Autobiografie und Zeitgeschichte zu verknüpfen. Der Ton dieses leisen, lebensklugen, menschfreundlichen Buches ist inmitten der vielen allzu leicht und oft folgenlos aufflammenden Aufgeregtheiten der Gegenwart eine Wohltat.
György Dalos:
Für, gegen und ohne Kommunismus.
Erinnerungen.
Verlag C.H. Beck, München 2019.
312 Seiten, 26 Euro.
Seit drei Jahren ist die Literaturkritikerin Ina Hartwig
Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main.
Vorher arbeitete sie im Feuilleton der „Frankfurter Rundschau“
und als freie Autorin. Der Neubau der Deutschen Nationalbibliothek wurde Ende der Neunzigerjahre fertiggestellt.

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"György Dalos ist Chronist, man erfährt nicht nur wie er sich durchgeschwindelt hat, das Buch ist ebenso eine Chronik der ungarischen Repressionen."
Wespennest, Hazel Rosenstrauch

"György Dalos (...) ist inzwischen der wohl bedeutendste Vermittler ungarischer und osteuropäischer Geschichte (...)Seine Erinnerungen 'Für, gegen und ohne Kommunismus' beschreiben den faszinierenden Zickzackweg einer Selbstbefreiung und zunehmenden Souveränität."
Jüdische Allgemeine, Marko Martin

"Prall gefüllt mit interessanten Erlebnissen (...) Wenn man Ungarn und die Sowjetunion,ja wenn man das 20. Jahrhundert verstehen will, kommt man um die Erinnerungen von György Dalos nicht herum."
Salzburger Nachrichten, Cornelius Hell

"Dalos schreibt verwundert, witzig über die Irrungen und Wirrungen eines osteuropäischen Intellektuellen."
Berliner Zeitung, Arno Widmann

"Ein anregendes wie kurzweiliges Lesevergnügen."
Leipziger Volkszeitung, Norbert Wehrstedt

"Dalos erzählt den Verlauf seines politischen Lebens voller Umsicht."
Falter, Erich Klein

"György Dalos versteht es wie nur wenige, Persönliches und Politisches ineinander zu spiegeln, Autobiografie und Zeitgeschichte zu verknüpfen. Der Ton dieses leisen, lebensklugen, menschenfreundlichen Buches ist inmitten der vielen allzu leicht und oft folgenlos aufflammenden Aufgeregtheiten eine Wohltat."
Süddeutsche Zeitung, Jens Bisky