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Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • Originaltitel: The Taste of Ashes. The Afterlife of Totalitarianism in Eastern Europe
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 375
  • Erscheinungstermin: 17. Juni 2022
  • Deutsch
  • Abmessung: 218mm x 142mm x 27mm
  • Gewicht: 531g
  • ISBN-13: 9783406794155
  • ISBN-10: 3406794157
  • Artikelnr.: 64075294
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2014

Im Reich
des Unmöglichen
Auf der Suche nach einer Geschichte mit gutem Ende
entdeckt die Historikerin Marci Shore die Gespenster des
Totalitarismus in Osteuropa
VON JENS BISKY
Die Essays von Václav Havel hatte Marci Shore gelesen, sonst wusste sie wenig über Osteuropa, als sie 1993 zum ersten Mal in jene Länder fuhr, in denen die Geschichte eine glückliche Wendung genommen hatte. Meist gewaltlose Revolutionen, befreite Völker, Philosophen an der Macht – das faszinierte die junge Amerikanerin. Eine „Geschichte mit gutem Ende“, die wollte sie hören, und erfuhr doch bald, dass nach dem Ende des Kommunismus nicht plötzlich alle glücklich und zufrieden lebten wie nach dem Tod einer bösen Hexe.
  Gut zwei Jahrzehnte fuhr Marci Shore immer wieder nach Osteuropa. Heute lehrt sie an der Yale University. 2006 erschien ihr Buch „Caviar and Ashes“, eine Geschichte junger Warschauer Avantgardisten, die Ende der zwanziger Jahre Dadaismus und Futurismus hinter sich ließen und radikale Marxisten wurden. Der Titel erinnert an einen der wichtigsten polnischen Nachkriegsromane, Jerzy Andrzejewskis „Asche und Diamant“, im Westen vor allem durch die Verfilmung Andrzej Wajdas bekannt, mit Zbigniew Cybulski, dem Rebellen mit der dunklen Sonnenbrille, in der Hauptrolle. Cybulski spielt Maciek, einen Soldaten der Heimatarmee, der Armia Krajowa , die sich nach dem Kampf gegen die deutschen Besatzer gegen die Machtergreifung der von Moskau abhängigen Kommunisten wehrt. Maciek stirbt auf einer Müllhalde.
  In ihrem jüngsten Buch – „Der Geschmack von Asche“ – berichtet Marci Shore über ihre Gespräche und Erlebnisse in Osteuropa, über allgegenwärtige Schuld, die Versuche, ihr auszuweichen oder mit ihr zu leben, über Schicksale im Schatten Hitlers und Stalins. Wie ihr Mann Timothy Snyder, der die Hölle der „Bloodlands“ (deutsch, 2011) vermessen hat, ist Marci Shore eine mitreißende Erzählerin, begeisternd durch unbefangene Neugier. Weil sie die antikommunistischen Dissidenten verstehen will, wendet sie sich deren Vorgängern, marxistischen Revisionisten, zu. Diese wiederum sind ohne die Stalinisten der fünfziger Jahre nicht zu begreifen, der Stalinismus nicht ohne den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Hier führt das Wort vom Totalitarismus nicht mit sterilem Aufrechnen und mit Rechthaberei einher.
  Es geht um Zusammenhänge, Brüche, Dilemmata. Shore will ihrer habhaft werden, indem sie Lebensläufe nachzeichnet, Entscheidungssituationen erklärt. Sie beginnt mit einem furiosen Vorwort – „Osteuropa ist anders. Es ist Europa, nur in höherem Maße“ – und führt den Leser dann unverzüglich in Prager Cafés und Dissidentenwohnungen. Jan Urban tritt auf, ein Unterzeichner der „Charta 77“, der – so freundlich er selbst war – nicht freundlich von „den Menschen“ sprach. Zum Volk besaß er kein Vertrauen. Dem Missverhältnis spürt Shore nach und entdeckt jene „Antipolitik“, der es zuerst und vor allem „um die moralische Wiederherstellung der Menschen“ geht. 1992 schrieb Urban, mit dem Eintritt in die reale Welt, mit ihrem „Sieg“, seien die Dissidenten verloren gewesen: „Wir kannten die Nicht-Gesellschaft nicht, mit der wir lebten. Wir kannten nur unseren Feind. Und der – Hundesohn – rannte plötzlich auf und davon . . . “
  Einige Monate arbeitete Marci Shore in der kleinen Stadt Domažlice als Englischlehrerin, 10 000 Einwohner, Mitte der neunziger Jahre, die Schüler lernen gern auswendig, sagen selten ihre Meinung. Aufgefordert, ihre Träume, Pläne für die Zeit nach der Schule aufzuschreiben, schlossen sie ihre Aufsätze immer wieder mit dem Satz: „Ich glaube nicht, dass das möglich ist.“ Hatte das erste tschechische Wort, das Shore lernte, „pravda“ – Wahrheit – geheißen, so lautete die erste Redewendung für sie „to není možné“ – das ist nicht möglich. Anhand der kleinen westböhmischen Stadt vergegenwärtigt sie die Allgegenwart der Beschränkung, die vielen zur zweiten Natur geworden scheint: erdulden, passiv sein. Riesig schien das „Reich des Unmöglichen“.
  Der unbedingte, mit keiner Spaß- und Konsumgesellschaft vereinbare Wahrheitsanspruch auf der einen Seite, die vorauseilende Selbstbeschränkung selbst bei Teenagern auf der anderen – in der Spannung zwischen beiden Polen erfasst Shore die postkommunistische Atmosphäre. Sie ist nicht blind für Ausbruchsversuche, bedenkt ihre eigene Rolle als Regelverletzerin aus Unkenntnis, auch als Voyeurin. Wer die Stimmung der frühen neunziger Jahre in Osteuropa verstehen will, der muss diese Kapitel über Prag und Domažlice lesen. So unangestrengt sie erzählt sind, so klug hat Shore sie komponiert.
  Dass damals auch Hunderttausende beherzt zugriffen, Chancen nutzten, sich auf den Weg machten, ihr Glück herbeizuzwingen, wird angedeutet – etwa in Begegnungen mit dem lebenslustigen, immer flirtenden Miloš in Bratislava. Doch bleibt der Eindruck dieser Passagen schwächer. Sanfte Melancholie beherrscht das Buch im Ganzen und legt sich wie ein Schleier über die Wirklichkeit der Geschäfte, politischen Händel, der Instabilität, die unvermeidlich ist, wenn „Nicht-Gesellschaften“ sich neu erfinden.
  „Niemand, der den Krieg überlebt hat, ist normal“, sagt der jüdische Schriftsteller Arnošt Lustig, der Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebte, Kommunist wurde, dann Reformkommunist, nach 1968 Emigrant und Professor in Washington. In den neunziger Jahren wurde er Chefredakteur des Playboy in Prag.
  Es sind Lebensläufe wie dieser, die Marci Shore wirklich interessieren, Biografien, die den Wahnsinn und die Wechselfälle des 20. Jahrhunderts spiegeln. Um ihnen gerecht zuwerden, reist sie in Archive, sucht Kinder, Verwandte, Freunde von einst. Polen und Tschechien sind die Hauptschauplätze ihrer Recherchen. Viele zeitgeschichtliche Ereignisse werden gestreift: der Schauprozess gegen Rudolf Slánský und andere, meist Juden, Prag 1952. Die antisemitische Kampagne im sozialistischen Polen, die 1968 Tausende zur Auswanderung zwang. In Warschau widmet sich Shore vor allem der Verbindung zwischen Zionisten und Kommunisten. Sie erzählt etwa von den Bermans, von Jakub, der unter Bierut für Staatssicherheit und Ideologie zuständig war, und von Adolf, der in der Żegota gemeinsam mit Władysław Bartoszewski die Rettung polnischer Juden organisierte. Adolf Berman emigrierte 1950 nach Palästina, Jakub Berman wurde 1957 aus der Partei ausgeschlossen, Bartoszewski, Soldat der Armia Krajowa , wurde nach 1995 Außenminister seines Landes.
  Das Nebeneinander der verwirrend vielen Lebensgeschichten, die in kein säuberlich sortiertes Weltbild passen, lässt das Buch leider zerfasern, so viel Interessantes hier auch zu erfahren ist. Schon gar nicht erklärt es, was der Untertitel verheißt, „das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa“. Immer enger wird der Gesichtskreis, immer häufiger drängen sich Nebensachen – wann hat die Autorin wen angerufen oder getroffen, Details aus dem akademischen Betrieb – in den Vordergrund.
  Die Rekapitulation der Skandale um die so wichtigen Bücher von Jan Gross – „Nachbarn“ über den Mord an den Juden von Jedwabne oder „Strach“ über Pogrome in Polen 1945/46 – bringt kaum Neues. Das hat man alles in etwa so in den Zeitungen lesen können, ebenso wie die Vorwürfe gegen Milan Kundera, er habe einen antikommunistischen Agenten der Polizei gemeldet.
  So gern man sich anfangs von Marci Shore nach Prag, Bratislava oder Bukarest locken ließ, um mit ihr Osteuropa noch einmal zu entdecken, so irritiert, halb enttäuscht, halb verärgert legt man das Buch aus den Händen, verweigert es doch konsequent Analyse, historische Draufsicht, Vergleiche. Naheliegende Fragen werden nicht einmal gestellt: Sind die Polen anders mit ihrer Vergangenheit umgegangen als die Tschechen? Mit Solidarność kam es ja zum keineswegs selbstverständlichen Bündnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen. Wie prägte das Erinnerung, Geschichtspolitik? Welche Rolle spielt die Vergangenheit im Verhältnis postkommunistischer Staaten zu Russland, zu Deutschland?
  Anmerkungen zur Identitätssuche sind dafür kein Ersatz, sie behindern das Verstehen. Ein Buch über die Gegenwart des Vergangenen im immer noch wenig gekannten Osteuropa fehlt. Leider nutzt Marci Shore ihre Kenntnis und ihr großes Darstellungstalent, um die Lebensläufe des20. Jahrhunderts im Privaten verschwinden zu lassen, in einem Familienroman: Ein realer Fortschritt, dass dies möglich ist, ein Rückschritt aber für die Geschichtsschreibung.
Marci Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Verlag C.H. Beck, München 2014. 376 Seiten, 26,95 Euro.
Lebensläufe, die den Wahnsinn
des 20. Jahrhunderts spiegeln,
interessieren Marci Shore
„Mir gefiel die
Rauheit der Stadt“, schreibt Marci Shore: Warschau im Jahr 1995, auf dem Weg in die Konsumgesellschaft.
Foto: Caro
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensentin Katharina Bader findet Marci Shores Buch "Der Geschmack von Asche" durchaus lesenswert - als "Werkstattbericht" einer amerikanischen Historikerin, die auszog, in Osteuropa Helden zu finden und keine fand. Interessant ist das vor allem, so Bader, weil Shore über Jahre den Kontakt zu Dissidenten und Bekannten hielt, man also erfährt, wer nach der Wende Karriere machte und wer unterging. Auch entwickelt Shore ihn ihrem sehr schönen, intellektuellen Reisebericht durch die ehemalige Sowjetunion, ein feines Gespür für die "Grautöne des realen Lebens", fasst die Rezensentin zusammen. Ärgerlich findet Bader allerdings den Untertitel, der ein eher wissenschaftliches Buch verspricht. Das wird hier nicht eingehalten, warnt die Rezensentin, die überdies gern gewusst hätte, wie Shore eigentlich den umstrittenen Begriff "Totalitarismus" definiert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2014

Wie soll ein Mensch da normal bleiben?

Betrogen von Freunden und der Geschichte: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Marci Shore jahrelang durch Osteuropa gereist. Inmitten des Neuanfangs fand sie nur Opfer politischer Systeme.

Tausende junger Amerikaner hatten sich 1989 nach der "Samtenen Revolution" auf den Weg nach Prag und in andere Hauptstädte des ehemaligen Ostblocks gemacht. Was in den zwanziger Jahren Paris oder in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Istanbul war, waren für die "ex-pats" der neunziger Jahre nun die osteuropäischen Metropolen: mit unzähligen Cafés, billigen Quartieren, aufregenden und fast täglich wechselnden Treffpunkten.

Nirgends schien mehr Raum und Zeit für Abenteuer aller Art, vor allem ästhetischer und intellektueller. Hier wurden Zeitungen und Verlage gegründet, Ateliers und Galerien eröffnet und wieder geschlossen, es gab einen riesigen Nachholbedarf. Die Zeit war aus den Fugen, Geschichte wurde neu geschrieben.

So muss es auch Marci Shore, die heute Geschichte in Yale lehrt, ergangen sein. Fasziniert von Václav Havels Rede vom "Leben in Wahrheit", war sie 1993 zum ersten Mal nach Prag gekommen. Sie konnte dort ihre Tschechischkenntnisse verbessern, ihr standen jahrzehntelang geschlossene Archive offen, sie konnte sich frei und grenzüberschreitend bewegen, sie lernte viele der Akteure, die Dissidenten von einst, kennen ebenso wie die historischen Schauplätze der weltbewegenden Ereignisse.

Die Entfernung zwischen dem kalifornischen Campus und den Epizentren des osteuropäischen Umbruchs hätte größer nicht sein können. Aber Distanz ist manchmal ein Privileg: sie macht neugierig auf das nicht so Vertraute, sie schärft den Blick für das andere und profitiert von einer Unbefangenheit, die einem in allzu großer Nähe zum Geschehen und seinen Akteuren leicht abhandenkommt. Die Generation, der sie selbst angehört, hatte das große Los gezogen: noch vertraut mit dem Zustand davor, aber schon in eine neue Zeit katapultiert.

Nun konnte sie aus der Nahperspektive atemberaubende Verwandlungen beobachten und studieren: den Aufstieg Václav Havels aus Gefängnis und Untergrund auf die Prager Burg, Charta-Mitglieder nun als Abgeordnete und Minister, ein 1968er und Solidarnosc-Aktivist wie Adam Michnik nun als Chef der größten polnischen Tageszeitung; Wissenschaftler und Intellektuelle, die ihr Land nie hatten verlassen können, nun auf Tagungen überall in der Welt.

Marci Shore hat über all die Jahre sorgfältig Tagebuch geführt. So erfährt der Leser - manchmal detaillierter, als ihm lieb ist -, wie sie sich mit diesem unbekannten Kontinent "Osteuropa" vertraut macht, wie es ihr als zeitweilige Englischlehrerin in der westböhmischen Provinz ergangen ist, was sie bei einem Forschungsprojekt in Rumänien über die Faszination von Intellektuellen wie Mircea Eliade durch die faschistische Eiserne Garde gelernt hat. Der Leser wird mitgenommen zu Seminaren und öffentlichen Diskussionen, zu Gesprächen mit Tee und Himbeerkäsekuchen in Prager Altbauwohnungen oder Plattenbausiedlungen.

Die Autorin ist permanent in Bewegung: zwischen Indiana und Bratislava, Stanford und Prag, Boston und Wien, mit ein paar Abstechern nach Moskau, Kiew und Jerusalem, vor allem aber und immer wieder Warschau - überhaupt handelt das Buch, Inhalt und Umfang betreffend, nicht von Osteuropa als Ganzem, sondern wesentlich von Polen und der auseinandergehenden Tschechoslowakei. Es ist der Reisebericht einer jungen Wissenschaftlerin im Zeitalter der Globalisierung. Die Stationen sind definiert durch die Milieus und Beziehungen jener Intellektuellengeneration, deren Lebensläufe die Autorin rekonstruiert und deren Schicksale sie verstehen will.

Das Erkenntnisinteresse, das dieses intellektuelle Roadmovie durch Osteuropa zusammenhält, lässt sich vielleicht so benennen: Wie konnte man in einer geographischen Zone, die zwischen die Fronten, zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, geraten war, seine Unbescholtenheit bewahren? Und wie konnte es kommen, dass Menschen, die im Kampf gegen den einen Feind, den Nationalsozialismus, unbeugsam und tapfer bis in den Tod, Widerstand geleistet und in den Konzentrationslagern "zu den Besten des Widerstands" gehört hatten, wenig später sich mit Haut und Haar, ideell und praktisch dem Stalinismus ausgeliefert haben?

Wie konnten die Angehörigen einer Generation durch das "Jahrhundert der Wölfe" (Ossip Mandelstam) kommen, ohne Verrat an ihren Idealen zu begehen und schuldig zu werden?

Marci Shore, die in Prager Archiven die Protokolle, Geheimdienstunterlagen und Filmaufzeichnungen des Slansky-Prozesses durcharbeiten konnte und dabei phantastische Funde machte, musste sich mit der Studentenzeit späterer Wortführer des Prager Frühlings, des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", mit so großen Schriftstellern wie Milan Kundera und Jaroslav Seifert auseinandersetzen, deren "lyrische Epoche zusammenfiel mit der schlimmsten Zeit des Stalinismus". Es finden sich in den Jahren des "unschuldigen Tanzens und blutigen Lächelns" (Kundera) nicht wenige prominente Namen - etwa der Philosoph Karel Kosik.

Am schärfsten zugespitzt findet Marci Shore die Situation der polnischen Intellektuellen, besonders der polnisch-jüdischen, um deren Schicksal ihre großartige Studie "Caviar and Ashes. A Warsaw Generation's Life and Death in Marxism, 1918-1968" (2006) kreiste. Diese handelt von Vertretern einer Generation, der kaum etwas erspart blieb: von einem Dichter wie Antoni Slominski, der nach dem Krieg aus England nach Warschau zurückgekehrt, der Kommunistischen Partei beitritt, später führender antikommunistischer Dissident wird; von dem futuristischen Dichter Bruno Jasienski, der 1938 im Großen Terror Stalins umgebracht wird; von dem Avantgardedichter Aleksander Wat, der während des Krieges in der Sowjetunion interniert, nach dem Krieg nach Polen zurückkehrt, aber im französischen Exil 1967 durch Selbstmord endet; von den Brüdern Adolf und Jakub Berman, beide aus jüdischem Elternhaus, beide aktiv im Untergrund kämpfend, der eine nach dem Krieg als zionistischer Aktitivist nach Palästina emigriert, der andere im stalinistischen Polen zuständig für Kultur und Geheimpolizei.

Die Rede ist auch von Wladyslaw Bartoszewski, späterer Solidarnosc-Aktivist und Außenminister, ehemaliger Auschwitz-Häftling und Kämpfer der Heimatarmee, lebenslang befreundet mit Adolf Berman, dessen Bruder Jakub als Chef der Geheimpolizei verantwortlich war für seine sieben Jahre Gefängnishaft. Marci Shore trifft in Warschau, Moskau, New York Überlebende: des Warschauer Gettos, der sowjetischen Lager, der stalinistischen Gefängnisse im Nachkriegspolen. Sie begegnet dem fast hundertjährigen polnisch-jüdischen Kommunisten Alexander Masiewicki, der sowjetische Arbeitslager durchgemacht, nach Polen zurückgekehrt, 1968 von der antisemitischen Welle bedrängt, Polen verlassen musste.

Sie trifft Polen, Juden, Polen mit jüdischen Wurzeln, die im Untergrundkampf, im Exil oder in den Lagern Stalins, manchmal auch in den Lagern des einen wie des anderen Systems überlebt hatten, solche, die sich nach dem Krieg an den Hebeln der Macht oder im Gefängnis wiederfanden und am Ende im Exil. Über die tragische Geschichte der jüdisch-polnischen Intelligenzija sagt einer einmal: "Ja, die Leute starben in den sowjetischen Lagern, aber nicht in den Öfen."

Marci Shore findet sich in "Der Geschmack von Asche" wieder inmitten dieses Aufbrechens schmerzlicher Erfahrungen, mit denen sich nach 1986 und 1989 die Generation der Kinder und Kindeskinder auseinandersetzen muss. Sie ist bei Diskussionen über Jan Gross' Jedwabne-Buch anwesend und lässt die einen eine jüdische Renaissance in Polen sehen, wo andere nur Musealisierung und Inszenierung eines Als-ob wahrnehmen. Shore schreibt über "Menschen, die andere Menschen betrogen haben, die sie gerettet hatten, und die denen verziehen haben, die sie betrogen hatten."

Die Historikerin wagt sich heran an die "Geheimnisse der jüdisch-polnischen Beziehungen". Anders als viele Geschichten handeln ihre Bücher jedoch nicht vom "Aufstieg und Fall einer Idee", nicht von einer säkularen Illusion und einer epochalen Desillusionierung, sondern allenfalls von einer Idee - hier: des Marxismus - als einer "gelebten Erfahrung". Nicht die Idee, sondern vor allem das München-Trauma habe den kommunistischen Sieg in Prag ermöglicht, und wer den Krieg als den Wendepunkt für alles Folgende, auch den Sieg des Stalinismus in Polen, verstehen wolle, der müsse nach Warschau gehen.

Es ist ein Buch, das ohne Modell oder Idealtyp auskommt - "Totalitarismus" wird eigentlich nur einmal aufgerufen als "Abschaffung des Privatlebens". Shore findet die Worte für das, was eine alte Warschauerin hilflos so benennt: "All das zu erleben und normal zu bleiben, das ist zu viel." Die Autorin trifft, vielleicht weil sie von außen kommt und Unbefangenheit mit Empathie zusammenbringt, den Ton, den Ton, der alle belehrende Besserwisserei hinter sich lässt.

Wir wissen durch Marci Shores Buch nun mehr über den "Verrat der Intellektuellen" (Julien Benda, 1927), auch mehr über den "Gott, der keiner war" (Koestler, Spender, Silone, 1950) oder über "Verführtes Denken" (Czeslaw Milosz, 1953). Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Verlag dem Buch zum "Nachleben des Totalitarismus" nun auch die Studie über das Vorleben und die heißeste Zeit folgen lassen würde: "Caviar and Ashes". Zusammengenommen wäre das weit mehr als die Ergänzung der europäischen Ideen- und Intellektuellengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts um ein mittel- und osteuropäisches Kapitel. Es wäre eine Neuvermessung des Kontinents. Sie ist längst fällig.

KARL SCHLÖGEL.

Marci Shore: "Der Geschmack von Asche". Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa.

Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Verlag C. H. Beck, München 2014. 376 S., geb., 26,95 [Euro].

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