Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 8,50 €
  • Broschiertes Buch

Das Gedächtnis ist nicht das, wofür wir es halten. Lange Zeit dachte man, es sei ein untrügliches Archiv, eine Art Computer, in dem Erlebnisse und Ereignisse gespeichert werden, die es nur abzurufen gilt. Welch ein Irrtum! Das Gedächtnis weiß nicht nur mehr als wir wissen, sondern es ist zudem auch noch erfinderisch. Das Gehirn hat weniger mit einfachen Reizen, Daten oder ähnlichem zu tun, sondern vielmehr mit Informationen, die Bedeutung haben. "Bedeutung" aber entsteht durch sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation, die wir mittels unserer Emotionen bewerten. Vor diesem Hintergrund…mehr

Produktbeschreibung
Das Gedächtnis ist nicht das, wofür wir es halten. Lange Zeit dachte man, es sei ein untrügliches Archiv, eine Art Computer, in dem Erlebnisse und Ereignisse gespeichert werden, die es nur abzurufen gilt. Welch ein Irrtum! Das Gedächtnis weiß nicht nur mehr als wir wissen, sondern es ist zudem auch noch erfinderisch. Das Gehirn hat weniger mit einfachen Reizen, Daten oder ähnlichem zu tun, sondern vielmehr mit Informationen, die Bedeutung haben. "Bedeutung" aber entsteht durch sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation, die wir mittels unserer Emotionen bewerten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß selbst unsere lebensgeschichtlichen Erinnerungen nicht immer auf eigene Erlebnisse zurückgehen müssen, sondern sich oft auch aus anderen Quellen - beispielsweise aus Büchern, Filmen, Erzählungen anderer - speisen. So sehr wir uns alle für Individuen halten, uns autonom und getrennt vom anderen sehen, für unser Gedächtnis gilt dies nicht. Ohne Austausch, ohne das vielfältige Wechselspiel mit anderen, ohne emotionale Bewertung des Erlebten bleibt unsere Erinnerung leer. Das Gedächtnis ist kommunikativ oder gar nicht.
Autorenporträt
Harald Welzer, Sozialpsychologe, leitet die Forschungsgruppe "Erinnerung und Gedächtnis" am Kulturwissenschaftlichen Institut (Essen) des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen und hat zudem eine Forschungsprofessur an der Universität Witten-Herdecke inne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Wer sich erinnert, lügt
Harald Welzer enttarnt das Gedächtnis / Von Manuela Lenzen

Das Gehirn ist ein dynamisches System, es bleibt sich keine zwei Augenblicke völlig gleich. Das hat auch Auswirkungen auf das Gedächtnis des Menschen. Sich zu erinnern bedeutet nicht, eine Reihe unveränderlich abgespeicherter Daten abzurufen, denn auch das Gedächtnis ist ein dynamischer und durchaus kreativer Prozeß. Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, trägt in seinem neuen, gut und durch zahlreiche Beispielgeschichten unterhaltsam zu lesenden Buch zusammen, was das Erinnern bestimmt und beeinflußt. Er stellt die neuronalen und emotionalen Grundlagen des Erinnerns dar, doch anders als bei den meisten neueren Gedächtnisbüchern geht es ihm vor allem um dessen soziale Dimension.

Die Erinnerung, insbesondere in ihrer komplexesten Form, dem autobiographischen Gedächtnis, bildet sich nur in der Gemeinschaft und vor allem in der Kommunikation mit anderen. Nur Erlebnisse, die in sozial vermittelte - also vor allem sprachliche - Form gebracht werden, werden zu Erfahrungen, so Welzer. Anders wären sie nicht kommunikabel und stünden dem Individuum nicht bewußt zur Verfügung. Kinder etwa, die eine Fotoausstellung besuchten, konnten sich später nur noch an die Teile der Ausstellung erinnern, über die sie gemeinsam gesprochen hatten.

Der Einfluß der Kommunikation auf Gehirn und Gedächtnis beginnt, wenn der Fötus im vierten Schwangerschaftsmonat in der Lage ist, Töne und Klänge wahrzunehmen. Er setzt sich mit dem "memory talk" fort, mit dem Erwachsene Kleinkinder unwillkürlich in die Formulierung und Gewichtung von Erinnerungen einweisen - Kind: "Hab' meine Sandalen ausgezogen." Mutter: "Deine Sandalen hast du ausgezogen?" -, und reicht bis zum Auffüllen von Erinnerungslücken aus dem Fundus des "kommunikativen Unbewußten", den in einer Gesellschaft tradierten Geschichten und Handlungsmustern.

So berichtet Welzer von vielen Fällen, in denen Erinnerungen aus Gehörtem, Gesehenem oder Gelesenem angereichert wurden: etwa wenn die Erinnerungen an Kriegserlebnisse diese Kriegserlebnisse mit bekannten Spielfilmszenen übereinstimmen lassen. Von der "Odyssee" über "Max und Moritz" und Karl May bis hin zu Filmen wie "Das Boot" reichen die Quellen der vermeintlich eigenen Lebenserinnerungen. Psychologen haben zudem nachgewiesen, daß man ohne großen Aufwand neue Szenen in die Lebenserinnerungen von Versuchspersonen einschummeln kann, die diese dann von Mal zu Mal detaillierter als eigene Erlebnisse zu berichten wissen. Nachzuweisen, welche Teile einer autobiographischen Erinnerung im "Wandlungskontinuum" des Gedächtnisses authentisch sind, ist ein aussichtsloses Unterfangen.

Die eklektische Natur des Gedächtnisses macht es zu einer Art "Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft". Es wird zwar von einem Individuum verwaltet, aktualisiert und auf die jeweilige Situation zugeschnitten, doch dieses sitzt nicht wie ein Buchhalter allein über seinen Lebensakten, es bringt sie vielmehr im Austausch mit anderen hervor, anhand ihrer Erzählungen und Erinnerungen, ihrer Gespräche über Bücher, Filme oder einfach nur ihrer Sprachgewohnheiten.

Harald Welzer: "Das kommunikative Gedächtnis". Eine Theorie der Erinnerung. Verlag C. H. Beck, München 2002. 246 S., Abb., br., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Wie spannend, zu erforschen, warum wir uns nicht immer auf unser Gedächtnis verlassen können und teilweise auf kollektive Bilder zurückgreifen, die gar nicht zu unserem eigentlichen Erfahrungsschatz gehören, meint Rezensent Urs Hafner. Doch so recht will ihn Harald Welzers Studie zum "kommunikativen Gedächtnis" nicht begeistern. Als Ausgangspunkt wähle Welzer Jan Assmanns Unterteilung des kollektiven Gedächtnisses in das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis. Das erste, referiert Hafner, sei das Langzeitgedächtnis der Gesellschaft, deren "Bestand an Texten, Bildern und Riten", während das zweite eine Art "Kurzzeitgedächtnis" sei, das etwa vier Generationen umfasse. Doch dem vom Autor formulierten Anspruch, eine "Theorie des Erinnerns" zu liefern, wird er für den Rezensenten nicht gerecht, denn Welzer beschränke sich darauf, "neurowissenschaftliche und entwicklungspsychologische Literatur" zu referieren, die zu dem Schluss komme, das Gedächtnis sei kein "fixiertes Inventar von Erinnerungsstücken", sondern ein Ort der "permanenten Überschreibung und Ergänzung". Bloß stehe man damit wieder am Anfang, an dem Fakt, der gerade eine Theorie des Erinnerns einfordert. Auch die auf Freud gerichteten "Seitenhiebe" findet der Rezensent deplaziert - schließlich gehe Welzers Begriff des "kommunikativen Unbewussten" nicht maßgeblich über Freuds "Deckerinnerungen" hinaus.

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr