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Jacob Burckhardts "Griechische Culturgeschichte" gehört zu den bedeutenden, bis heute nachwirkenden historischen Gesamtdarstellungen des 19. Jahrhunderts. Burckhardt setzte mit diesem Werk einer an Ereignissen und Fakten orientierten Geschichtsschreibung eine systematische Darstellung der griechischen Kultur entgegen, die das Spannungsverhältnis von Staat, Religion und Kunst thematisiert. Seine - bei aller Anerkennung ihrer geistigen und künstlerischen Leistungen - skeptische Haltung den Griechen gegenüber bildet einen Kontrast zu den noch bis weit ins 20. Jahrhundert verbreiteten…mehr

Produktbeschreibung
Jacob Burckhardts "Griechische Culturgeschichte" gehört zu den bedeutenden, bis heute nachwirkenden historischen Gesamtdarstellungen des 19. Jahrhunderts. Burckhardt setzte mit diesem Werk einer an Ereignissen und Fakten orientierten Geschichtsschreibung eine systematische Darstellung der griechischen Kultur entgegen, die das Spannungsverhältnis von Staat, Religion und Kunst thematisiert. Seine - bei aller Anerkennung ihrer geistigen und künstlerischen Leistungen - skeptische Haltung den Griechen gegenüber bildet einen Kontrast zu den noch bis weit ins 20. Jahrhundert verbreiteten Idealisierungen des Griechentums. Burckhardts Neffe Jacob Oeri hat das Werk - teilweise aufgrund einer ausgearbeiteten Fassung, teilweise aufgrund eines Vorlesungsmanuskripts - zwischen 1898 und 1902 in vier Bänden ediert und dabei den Textbestand stark verändert. Diese kritische Edition folgt erstmals ausschließlich Burckhardts Manuskript. Sie dokumentiert und übersetzt seine Quellen und erläutert zahlreiche Sachbegriffe. Jeder Band wird durch ein Namen-, Stellen- und Sachregister erschlossen.
Autorenporträt
Barbara von Reibnitz, geb. 1955, promovierte Altphilologin und Kulturwissenschaftlerin, ist als Editorin und Publizistin tätig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Läuterungen im Kabinett der Affekte
Die neue Edition von Jacob Burckhardts "Griechischer Kulturgeschichte" / Von Uwe Walter

Jacob Burckhardt war kein Hegelianer. In den Materialien zu seinem Kolleg "Über das Studium der Geschichte" findet sich ein Exzerpt aus Hegels "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte". Die Notiz zeugt von einer lebhaften Auseinandersetzung, die mittendrin abbricht. Wahrscheinlich konnte Burckhardt keine weitere Seite mehr ertragen: Zu sehr widersprach widersprach die Rechtfertigung des historischen Prozesses als Fortschritt von Sittlichkeit und Freiheit seinem eigenen Denken. Vom "kecken Anticipieren eines Weltplans", meist in höchst optimistischem Sinne, sprach Burckhardt dann im Hörsaal. Doch hat der Basler Historiker das Studium der griechischen Antike auf eine neue Basis gestellt, indem er den Gegenstand seiner Anschauung dialektisch konzipierte. Jeder Kundige kennt die markanten Zitate aus der Einleitung der "Griechischen Kulturgeschichte". Vom Leiden der Griechen ist da die Rede, und erst Burckhardt hat einem Satz seines Lehrers August Boeckh zur allgemeinen Bekanntheit verholfen: Die Hellenen seien viel unglücklicher gewesen, als wir glauben.

Wir, damit meinte er die idealisierende Ansicht eines irenischen Klassizismus, wonach sich die individuellen Kräfte völlig im Sinne des Allgemeinen ausgebildet hätten, so daß Freiheit und Unterordnung harmonisch in eins verschmolzen: "In Betreff der alten Griechen glaubte man seit der großen Erhebung des deutschen Humanismus im vorigen Jahrhundert im Klaren zu sein: im Wiederschein ihres kriegerischen Heldenthums und Bürgerthums, ihrer Kunst und Poesie, ihres schönen Landes und Klima's schätzte man sie glücklich, und Schiller's Gedicht die ,Götter Griechenlands' faßte den ganzen vorausgesetzten Zustand in ein Bild zusammen, dessen Zauber noch heute seine Kraft nicht verloren hat. Allermindestens glaubte man, die Athener des perikleischen Zeitalters hätten Jahr aus Jahr ein im Entzücken leben müssen."

Die blinden Flecken in einem solchen Bild waren leicht auszumachen. Burckhardt tat dies auf dem Gebiet des ihm ohnehin suspekten Staates, den er in der Gestalt der Polis als beinahe totalitäres, von Machtgewinn und Destruktion geprägtes Gebilde vorstellte. Doch auch sein akribisches Bemühen, in einem eigenen Abschnitt des Werkes jenseits von der Politik "die wirklich herrschende, durchschnittliche Ansicht des Lebens" festzustellen, generierte ein Kabinett von Defekten, bestückt mit Rache und falschen Schwüren, Schmähsucht und Neid, Pessimismus und Selbstmord.

Doch Burckhardt war damit kein Vorausdenker der einfältigen Klassikzertrümmerungen unserer Tage. Das Schöne bildete auch bei ihm den Maßstab für das Bleibende; "was Beglückung durch den Geist gewähren kann, das haben hier viele auserwählte Menschen in hoher Kunst und Dichtung, in Denken und Forschen genossen und durch den Abglanz ihres Wesens auch den übrigen vermittelt, soweit diese des Verständnisses fähig waren. Diese Kräfte sind bei den Griechen gewissermaßen immer optimistisch gewesen, d. h. es hat sich für Künstler, Dichter und Denker immer der Mühe gelohnt, dieser Welt, wie sie auch sein mochte, mit mächtigen Schöpfungen gegenüberzutreten." Aber die Voraussetzungen dafür - Freiheit, Individualität und Kreativität - waren keine prästabilen, sondern höchst problematische Größen, weil ihre Betätigung im steten Wettbewerb mit dem Nebenmann in die Selbstzerstörung führen konnte. "Um des Erfolges und Gelingens, der Herrschaft und des Genusses willen", so stellt er fest, "ist eben dem Griechen zugestandener Weise vieles erlaubt."

Der Satz findet sich am Ende des zweiten Bandes, in dem Abschnitt "Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens". Auffällig korrespondiert er mit der Einleitung zum ersten Band, sowohl in der Bestimmung der kulturhistorischen Methode als auch im Grundgedanken einer klar wertorientierten, aber nicht verklärenden Alleinstellung der Hellenen: "Der Grieche aber war früher ein individueller Mensch geworden als die Übrigen und trug nun hievon den Ruhm und das Unheil in unvermeidlicher Mischung."

Die "Griechische Kulturgeschichte" erblickte bekanntlich zunächst als Vorlesung das Licht der Welt. Ihre Disposition orientierte sich an der Potenzenlehre des Kollegs "Über das Studium der Geschichte": Auf die Polis, für Burckhardt die Emanation des griechischen Staates schlechthin, folgte die Religion, während der umfangreiche Teil zur Kultur deren klassische Formen behandelte, also bildende Kunst, Literatur und Musik sowie die philosophische Lebensform. Diese drei Hauptteile liegen in der neuen Gesamtausgabe in ebenso vielen Bänden nunmehr vor, während die Vollendung durch den mächtigen neunten Abschnitt, der den Stoff unter anderen Gesichtspunkten und epochenweise behandelt, wegen der Materialfülle und der editorischen Schwierigkeiten noch länger ausstehen wird.

Die Ausgabe verdient schon jetzt das Prädikat mustergültig. Burckhardt hat die Vorlesung zwischen 1872 und 1885/86 siebenmal gehalten, jeweils fünfstündig. Zur Wirkung gelangte sie jedoch erst, als Jacob Oeri aus den nachgelassenen Manuskripten kurz nach dem Tod des Onkels die vierbändige Buchausgabe erstellte, die mit wenigen Korrekturen auch der von Felix Staehelin und Samuel Merian veranstalteten "Gesamtausgabe" von 1930/31 sowie in den fünfziger Jahren dem Abdruck in den "Gesammelten Werken" zugrundelag. Nur in der lesbaren Textgestalt Oeris konnte Burckhardts Anschauung von der griechischen Kultur ihren Weg machen und dabei immer wieder produktive Anstöße geben. Denn während die von Burckhardt ironisch als "viri eruditissimi" titulierten seinerzeitigen Moguln und Modernisierer der Altertumswissenschaft die Publikation der "veralteten Hefte" für ein Ärgernis hielten, haben viele Griechenlandhistoriker seither die Erkenntnispotentiale des Werkes gerade dort erkannt und genutzt, wo Burckhardt methodisch wie politisch gegen den Geist seiner Zeit stand.

Die Neuedition in der kritischen Werkausgabe stößt durch die geglättete Oberfläche von Oeris Text; sie legt durch sorgfältige philologische Filigranarbeit ein komplexes Original und damit auch Burckhardts Arbeitsweise frei. Dieser hatte in den achtziger Jahren begonnen, eine Ausarbeitung des Vorlesungsmanuskriptes im Folioformat anzufertigen, bei dem es sich jedoch allenfalls um eine Vorstufe zu einem Buchmanuskript handelte - wenn denn ein solches je ernsthaft ins Auge gefaßt war. So aufbereitet wurden die beiden ersten Hauptteile über Staat und Religion. Hier entspricht der für die Neuedition maßgebliche nachgelassene Textbestand weitgehend der Ausgabe Oeris, der lediglich einige eingelegte Blätter mit nachgetragenem Material in den Text einfügte und manche Fugen verschliff.

Für den Rest der Vorlesung - im Druck die Bände drei und vier - war Oeri gezwungen, aus Konvoluten von immer wieder ergänzten Stichwortblättern, Exzerpten, Vortragsmanuskripten und Notizen einen Lesetext herzustellen, wobei er sich auch der ausführlichen Kollegnachschrift eines Studenten bediente, um Burckhardts Wortlaut näherzukommen. Trotz aller Pietät wurde dabei allein durch das argumentierende Verknüpfen der in den Mappen vorgefundenen Notizen, Halbsätze und Gedanken Sperriges geglättet und Ambivalentes vereindeutigt, von einigen Mißverständnissen und irreführenden Eingriffen ganz zu schweigen. Die Neuedition nun macht Oeris Konstruktion rückgängig; sie bietet nicht nur für beide Ausarbeitungsstufen den originalen Text Burckhardts, sondern weist auch die Arbeitsstufen in einem kritischen Apparat nach.

Auch der jüngst erschienene, auf dem Foliomanuskript beruhende zweite Band ist vortrefflich erschlossen, unter anderem durch einen knappen Kommentar mit Nachweisen und Übersetzungen der altsprachlichen Zitate sowie durch fast einhundert Seiten umfassende Register. Vermißt wird lediglich eine Seitenkonkordanz, die es sehr erleichtern würde, Verweise auf Stellen in einer der drei älteren Ausgaben in der neuen, nunmehr maßgeblichen Edition rasch wiederzufinden.

Burckhardt fand zur griechischen Religion einen unmittelbaren Zugang. Es war nicht nur Koketterie, wenn er bekannte, ein ganz unphilosophischer Kopf zu sein, dem profunde Gedanken nur dann gekommen seien, wenn sie sich an ein Äußeres anschließen konnten. Der Kosmos der Götter und Heroen schien ihm nun sehr weitgehend im Anschaubaren aufzugehen, greifbar gestaltet von Homer und Hesiod und in den Bildwerken der klassischen Kunst. Recht früh hatte der Pfarrerssohn und anfängliche Theologiestudent einen Ablösungsprozeß von der zeitgenössischen Religionsübung und vor allem ihrer doppelten Armierung durch Klerus und Glaubenswissenschaft durchlaufen. Schon 1838 war der Student auf der Suche nach einem "Fach in der Theologie wo man den Lehren über Glauben und Offenbarung ganz ausweichen kann", und wenige Jahre später war ihm Christus als Gott gleichgültig, als Mensch dagegen "die schönste Erscheinung der Weltgeschichte". Dat war der Sprung zur Historie vollzogen, und Burckhardt ging nach Berlin, um bei Ranke, Droysen und Boeckh zu studieren. Doch die Religion blieb ihm "Potenz". Ihre Anerkennung als "Ausdruck des ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur" und die Schätzung des Christentums als sittliche Macht bewahrten ihn vor flachem Agnostizismus oder verstiegenem Neuheidentum.

Tatsächlich schaute er die griechische Religion dezidiert mit seinen eigenen Augen an, und Handbuchweisheiten gewinnen so die Kraft einer Botschaft: "Die Griechen besaßen nichts schriftlich Geoffenbartes, nichts irgend von Außen Auferlegtes über ihre Götter, und ebensowenig eine auferlegte Lehre über ihre Religion . . . Ihre Ausbildung ist nicht geschehen durch Priester. Wohl gab es solche von frühe an bis in die spätesten griechischen Zeiten, aber es gab niemals einen Priesterstand und vollends kein Priesterthum . . . Die griechische Religion würde von Anfang bis zu Ende anders lauten wenn ein Priesterthum Einfluß darauf gehabt hätte." Überhöht hat Burckhardt diesen Gedanken durch den Verweis auf die schöpferische Bildkraft des griechischen Volkes. Diesen kreativen Urquell sah Burckhardt in einer meta- oder protohistorischen Tiefe geborgen, und es erscheint von daher nicht überraschend, daß er die Vorlesung mit dem kurzen, nur gut dreißig Druckseiten füllenden Abschnitt über den Mythos eröffnete, der systematisch zu den großen Stücken zur Religion gehört hätte und die Forschung irritiert hat, bis Egon Flaig vor einigen Jahren den Sinn dieser Disposition klären konnte.

Gerade im Bereich von Mythos und Religion ist es spannend zu sehen, wie Burckhardt die Alleinstellung der Hellenen begründete und damit zugleich einen Beitrag leistete zu der mehr denn je kontroversen Debatte, wie groß die Einflüsse zumal der Hochkulturen des Alten Orients auf den westlichen Rand des fruchtbaren Halbmonds waren. Denn gerade die Mythenforschung und die Vergleichende Religionswissenschaft haben auf ihrer Suche nach verborgenen Ursprüngen schon früh nach Analogien und Diffusionen gesucht, zu Burckhardts Zeit freilich oft noch in Verbindung mit Theorien über frühe Wanderungen und Ethnogenesen.

Der Kulturhistoriker schob die Spekulationen um karische, phönizische oder arische Ursprünge beiseite, indem er sich auf die Frage konzentrierte, "was diese Religion und diese Götter den Griechen der historischen Zeit waren". Mit diesem angesichts der nicht selten enthemmten Kombinationslust damaliger und späterer Religionswissenschaftler heuristisch wohlfundierten Kunstgriff hatte er die alte genealogische Frage durch eine moderne funktionalistische ersetzt und zugleich das Offensichtliche zum Unterscheidungsgrund gemacht: Statt "gelehrter Kunde und gelehrten Wissens, womit die Ägypter heimgesucht wurden", besaßen die Griechen lebendige Anschauungen von ihren Göttern und Heroen, die schmiegsam und anpassungsfähig die sich entfaltende Kultur begleiteten und förderten. Burckhardt verließ die labyrinthischen Wege der Forschung noch in anderer Hinsicht, indem er keinen älteren oder symbolhaft tieferen Sinn hinter ihnen vermutete; die Griechen aber, so wird vermerkt, "wollten ihren Mythus gar nicht deuten, sondern schützen, verherrlichen, vermehren".

Die komplementären Schattenseiten der griechischen Göttervorstellung, etwa die Amoralität der olympischen Religion, wurden sehr wohl verzeichnet, wenn auch nicht so ausladend und in roter Farbe wie das Schuldkonto des menschenverschlingenden Staates im zweiten Abschnitt. Die Größe dieser Götter lag weder in einem Geheimen noch einer Sittlichkeit, auch weder in Gnade noch Ungnade, weswegen die Griechen diese Größe ganz zu sich herüberziehen konnten, indem sie "alle Pracht, Kunst und Lebensfreude in den Dienst des Kultus zogen und ihm damit die Bangigkeit benahmen".

Auch das Feld der Religion maß Burckhardt also mit dem ästhetischen Blick aus: Erwachsen aus der Phantasie des Volkes, ist dieser Polytheismus nie einer theologischen Konzentrierung unterlegen, welche um den Gewinn einer höheren moralischen und intellektuellen Substanz die Bildhaftigkeit und Bildkräftigkeit wohl hätte reduzieren müssen. In dieser Lesart vermochte die Religion selbstverständlich kein Gegengewicht zu den anderen lebensbestimmenden Potenzen zu bilden. Sie in der Vorlesung zwischen den Staat und das Kabinett der Affekte zu setzen, war also durchaus konsequent. Mochten die Götter auch dem Menschen das Maß seiner Leiden zugemessen haben - der welthistorische Funke konnte nur deshalb überspringen, weil die Hellenen in höchstem Grade ihre Leiden empfinden und sich ihrer bewußt werden mußten. Die Unsterblichkeit ihres Erbes ruht ja gerade darauf: Wenn sie längst alle Leiden gelitten haben und alle Tode gestorben sind, können wir sie immer wieder anschauen, um unsere eigene Existenz zu begreifen oder zu läutern.

Auf Dauer zu stellen war derlei im Binnenraum der verzehrenden Lebenswelt der Griechen nicht, und am Ende schimmert dann auch bei Burckhardt ein wenig Teleologie hindurch, wenn er von einem berühmten Philosophenselbstmord berichtet, in der Zeit des philosophierenden Kaisers Marcus Aurelius, den man später für einen heimlichen Christen gehalten hat. Denn jener Kyniker Peregrinus Proteus, der sich in Olympia während des Zeusfestes auf einem Scheiterhaufen selbst verbrannte, hatte sich, so das abschließende Urteil, nur in Pose geworfen und zur traurigen Gestalt gemacht. "Der an allen übrigen Zielen irre gewordene hellenische Ruhmsinn setzt hier sein eigenes Ende mit aller möglichen vorangehenden Reclame feierlich in Scene, als herakleische Selbstapotheose. Allerdings in einem Jahrhundert welches ohnehin voll Klagen über die allgemeine Ruchlosigkeit war und (bei Lucian) den Hohn über die ganze Welt, über Götter und Menschen zu hören bekam. Es war hohe Zeit daß neben dieser Gesellschaft eine andere heranwuchs, welche eine ebenso große Sterbewilligkeit in tausend Martyrien an den Tag legte, aber zugleich ein neues hohes Ziel des Lebens vor sich hatte."

Jacob Burckhardt: "Werke". Kritische Gesamtausgabe. Band 20: "Griechische Culturgeschichte II: Die Metamorphosen - Die Griechen und ihre Götter - Der griechische Heroencultus - Erkundung der Zukunft - Zur Gesammtbilanz des griechischen Lebens". Aus dem Nachlaß herausgegeben von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von Ungern-Sternberg. C. H. Beck Verlag / Schwabe Verlag, München und Basel 2005. VI, 640 S., geb., 128,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.06.2012

Die Griechen sind einfach herrliche Tagediebe
Diesen Täuschern lauscht man gerne: Der neue Band in der Edition von Jacob Burckhardts „Griechischer Culturgeschichte“
Die große Ausgabe der Werke des großen Kulturhistorikers Jacob Burckhardt kommt voran. Auf siebenundzwanzig Bände ist sie angelegt, der zweiundzwanzigste davon soeben erschienen. Ein Projekt von dieser Größenordnung kann nicht von einem Verlag allein gestemmt werden, selbst wenn es sich um C. H. Beck handelt. Um eine so umfangreiche Arbeit so gewissenhaft durchzuführen – der Band enthält nebst 800 Seiten Text noch 600 Seiten Kommentar, Glossar, Register und textkritischen Apparat – mussten sich finanzkräftige Stiftungen wie der Schweizerische Nationalfonds und die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel beteiligen; denn Burckhardt wirkte ja in Basel. Dennoch kostet das Ergebnis noch den nicht unerheblichen Betrag von 248 Euro.
Der neue Band enthält Burckhardts Aufzeichnungen für seine Vorlesung über die Griechen, die er seit 1874 immer wieder hielt; aber das Material, das sich hier türmt, übersteigt alles, was sich in einer Semester-Wochenstunde maximal sagen lässt. Zwischen einem durchlaufenden Text, wie er in den früheren Bänden seiner „Griechischen Culturgeschichte“ zu lesen ist (dieser ist der vierte), und einem bloßen Konvolut von Notizen hält der Band eine immer noch gut und mit Gewinn lesbare Mitte.
Burckhardt breitet einen ungeheuren Materialreichtum aus. Das ist nicht so langweilig, wie es klingt: Denn die antiken Autoren, die Historiker eingeschlossen, erzählen durch die Bank gute und einprägsame Geschichten; die zitierbare Anekdote ist sozusagen ihre Lebensluft, und deswegen werden sie auch nicht um das Ihrige gebracht, wenn man sie in Brocken und Bröckchen bietet. Dabei unterwirft Burckhardt sein Material einem klaren System, dem er die Fülle dienstbar macht.
Ein kleines Kapitel gleich am Anfang befasst sich beispielsweise mit der griechischen Namensgebung. Jacob Burckhardt betont den Unterschied zur Phantasielosigkeit der Römer in diesem Punkt. Namen zu finden kostet die Griechen gar nichts. „Hesiod schüttelt 50 Nereidennamen aus dem Ermel (. . .) die 50 Danaiden und die 50 Aegyptiden, wovon doch 49 sogleich thatlos sterben –“. Es folgt eine Episode vom Komödiendichter Aristophanes, worin ein Mann und eine Frau sich um den Namen ihres Sohns streiten. Der Mann, konservativ gesinnt, möchte ihn nach dem Großvater Pheidonides nennen; „der aristocratischen Mutter aber steckt ein Xanthippos, Charippos, Kallipides im Kopf“ – „hippos“ ist das Pferd, es käme also wahlweise ein strahlendes Pferd, ein anmutiges Pferd und der Abkömmling eines schönen Pferdes heraus –, „endlich vertragen sich beide auf Pheidippides“, der nun sowohl dem Großvater als auch den Rossen ihr Recht lässt. Damit hat der Dichter (und der Gelehrte, der es auffindet und einzeln herausnimmt) mit wenigem sehr viel über die athenische Gesellschaft des 5. Jahrhunderts gesagt: über den Zusammenstoß der Mentalitäten, über ihren Dünkel und ihre geistige Beweglichkeit, im Guten wie im Schlechten. Oder zu den Haartrachten: Ein Mann aus Chios lässt sich das Haar färben. „Als er aber in Sparta auftritt (etwa als Gesandter) sagte Archidamos: dieser trägt die Lügen nicht nur in der Seele, sondern auch auf dem Kopf herum.“ Das charakterisiert die Spartaner in einem Satz.
Kulturgeschichte, das heißt für Burckhardt, dass er als Quelle vor allem die Literatur heranzieht (die bildende Kunst hier weit weniger) und als Ziel die Typisierung anstrebt; die gleichzeitigen archäologischen Aktivitäten eines Schliemann, auf den keins von beiden zutrifft, betrachtet er mit einer gewissen Distanz. Burckhardt gliedert die Epochen der Griechen in den „heroischen“, den „agonalen“ und den „colonialen“ Menschen; er verfolgt, welchen Veränderungen die Wertschätzung der Arbeit oder der Frauen unterliegt (zwiespältiges Resultat: die Stellung der Frau verschlechtert sich mit dem Vordringen der Demokratie); und er liebt seine Griechen gerade in ihrer tiefen Ambivalenz. Mehr als einmal nennt er sie herrliche Tagediebe, die zur praktischen Besserung der Lebensverhältnisse so gut wie nichts und zur Kultur alles beigetragen haben, auf deren wunderbar beredtes Wort man so gern lauscht, aber sich leider nicht verlassen kann. Zur berühmten Rede des Perikles auf die Gefallenen des Peloponnesischen Krieges merkt Burckhardt an: „Wer einen Toast halten will, sollte immer vorher diese Rede lesen. (. . .) So muss zu reden verstehn wer Jahrtausende täuschen will!“ Das Emporblühen der griechischen Polis an hundert Stellen ist bezahlt mit der elendesten Kirchturm- oder besser Akropolis-Politik und großer Grausamkeit im Umgang miteinander, einem mörderischen Aderlass. Burckhardt vergisst nicht zu erwähnen, dass Athen gleichermaßen für den süßesten Honig wie für den tödlichsten Schierling bekannt war.
Burckhardts Held aber ist Alexander der Große: Urgriechisch in seinem maßlosen Vorwärtsstreben und seiner forschenden Neugier, ungriechisch allein darin, dass er Verträge hielt, hängt es ganz allein von ihm ab, dass die griechische Spezialkultur ihre Wirkung auf die ganze Welt zu entfalten vermag. Er leitet das Zeitalter des kosmopolitischen Hellenismus ein. Der Hellenismus wird damals noch einigermaßen misstrauisch als Periode des Niedergangs nach der hohen Zeit der Klassik bewertet; dieser Einschätzung tritt Burckhardt nachdrücklich entgegen, wie das folgende Zitat zeigt:
„Allein wir können wenigstens in Betreff des Hellenismus die Dinge unmöglich anders wünschen als sie geschehen sind. Und hiebei handelt es sich nicht bloß um das Curiositäteninteresse des Historikers. Wir können nicht wünschen, daß statt einer macedonischen Obmacht in Griechenland und Eroberung Persiens etwa eine Überwältigung des entzweiten und zerrütteten Griechenlands durch irgend eine neue barbarische Naturmacht Asiens oder des scythischen Nordens stattgefunden hätte. Wir können nicht wünschen, daß Rom, wie in diesem Falle wohl geschehen wäre, ohne die hellenistische Bildung blieb, denn nur dem Philhellenismus der Römer für ein noch am Leben befindliches Griechenland verdanken wir das Weiterleben der Cultur der ganzen alten Welt. Das hellenisirte Römerthum aber war der unentbehrliche Boden für die Verbreitung des Christenthums. Und das Christenthum, abgesehen von seiner Eigenschaft als Religion, sollte dann die einzige Brücke werden welche die alte Welt mit ihren germanischen Eroberern zu verbinden bestimmt war. In dieser ganzen Kette von Ursachen und Wirkungen aber ist der Hellenismus der wichtigste Ring.“ Ob sich dieses geschichtsphilosophische Modell so halten lässt, darüber kann man diskutieren. An Perspektive fehlt es ihm jedenfalls nicht.
Es wäre schade, wenn diese Ausgabe als ein Werk nur für sprachkundige Fachleute wahrgenommen würde, denn das müsste den Kreis der potenziellen Leser auf weniger als ein Prozent einengen. Am besten hält man fest: Wen die Haupttexte der „Griechischen Culturgeschichte“, „Die Griechen und ihre Götter“ etwa oder „Zur Gesammtbilanz des griechischen Lebens“ ansprechen, der wird auch dieses umfangreiche Seitenstück mögen, das alles noch einmal auf lebendige und abwechslungsreiche Weise erläutert und vertieft. Nicht zuletzt macht das umfangreiche Register es auch zum Nachschlagewerk tauglich.
BURKHARD MÜLLER
JACOB BURCKHARDT: Kritische Gesamtausgabe. Griechische Culturgeschichte. Band IV: Der hellenische Mensch in seiner zeitlichen Entwicklung. Hrsg. von der Jacob Burckhardt-Stiftung Basel. Verlag C. H. Beck, München, und Schwabe Verlag, Basel 2012. 1414 Seiten, 248 Euro.
Er liebte seine zwiespältigen Griechen: JacobBurckhardt.
Abb.: Blanc Kunstverlag
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Zwar erachtet es Rezensent Jürgen Busche heute als nicht mehr nötig, Jacob Burckhardts Bild des demokratischen Athen, das er in seiner "Griechischen Culturgeschichte" entworfen hat, als Karikatur zu entlarven. Aber jeder könne das jetzt mit Mitteln tun, die der Band 21 der Kritische Gesamtausgabe der Werke Burckhardts, ein "ungemein gründliches Unternehmen", bereitstelle. Das ändert für Busche allerdings nichts an der wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung von Burckhardts "Griechischer Culturgeschichte". Denn Burckhardt habe den Traum, den die deutsche Klassik mit dem alten Griechenland geträumt hatte, "gründlich zerstört". Mit seiner Entzauberung des antiken Griechentum sei Burckhardt den Weg zu einem unverklärten Verständnis der Griechen entscheidende Schritte weitergegangen. Was er uns dabei hinterlassen hat, preist Busche als "meisterhafte Kapitel zur historischen Literatur, zur Geschichtsschreibung".

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