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Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945
Ruth Gay bietet einen eindrucksvollen Überblick über die Entstehung einer neuen jüdischen Welt in Deutschland nach 1945. Im Mittelpunkt stehen das jüdische Leben in den Lagern für displaced persons in den Jahren 1945-1948 und die Gründung sowie die unterschiedliche Entwicklung der neuen jüdischen Gemeinden in West- und Ostberlin.
Nur wenig bekannt bis heute ist, daß in den ersten Jahren nach Beendigung des II. Weltkriegs Deutschland der sicherste Platz für Juden aus Osteuropa war. Aber die Menschen, die die Konzentrationslager und Deportationen
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Produktbeschreibung
Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945

Ruth Gay bietet einen eindrucksvollen Überblick über die Entstehung einer neuen jüdischen Welt in Deutschland nach 1945. Im Mittelpunkt stehen das jüdische Leben in den Lagern für displaced persons in den Jahren 1945-1948 und die Gründung sowie die unterschiedliche Entwicklung der neuen jüdischen Gemeinden in West- und Ostberlin.

Nur wenig bekannt bis heute ist, daß in den ersten Jahren nach Beendigung des II. Weltkriegs Deutschland der sicherste Platz für Juden aus Osteuropa war. Aber die Menschen, die die Konzentrationslager und Deportationen überlebt hatten und nun vor Pogromen und einem wachsenden Antisemitismus in ihren Heimatländern flüchten mußten, wußten das. Mehr als eine Viertelmillion Juden suchte zwischen 1945 und 1948 Schutz in den von den USA und den Alliierten Siegermächten eingerichteten Lagern für displaced persons, und hier entwickelte sich in kurzer Zeit eine blühende osteuropäische jiddische Kultur - mit Theater- und Musikgruppen, Zeitungen und Zeitschriften und einem wiedererwachenden politischen Leben. Als 1948 die meisten Juden in andere Länder emigriert waren, bedeutete das zu-gleich das Ende einer fast tausendjährigen osteuropäischen jüdischen Kultur. Nur 12000 osteuropäische Juden blieben in Deutschland und gründeten zusammen mit den wenigen überlebenden deutschen Juden die neuen jüdischen Gemeinden. Ruth Gay erklärt, warum die Menschen blieben, warum sie zurückkehrten, wie sie lebten, wie sie sich in der ihnen neuen Welt zurechtfanden und wie die in Deutschland geborene und erzogene zweite Generation mit der Vergangenheit ihrer Eltern und der Gegenwart, in der sie aufwachsen, umgeht. - Ein wichtiges und grundlegendes Buch zum Verständnis der jüdischen Welt in Deutschland nach 1945.
Autorenporträt
Ruth Gay lebt heute in New York und Hamden. Sie veröffentlichte unter anderem: Jews in America. A Short History (1965) und Unfinished People (2000), das mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet wurde und inzwischen auf Deutsch vorliegt mit dem Titel Narrele, was lachst du? (2001). Im Verlag C.H.Beck ist von ihr erschienen: Geschichte der Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg (1993).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2002

Der Anfang nach dem Ende
Ruth Gay schildert jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland

Wenige Monate nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt bemerkte der Rabbiner Leo Baeck, einer der führenden Repräsentanten des deutschen Vorkriegsjudentums: "Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wann immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß . . . - die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle mal vorbei."

Es kam anders. Tausende von Juden aus Osteuropa, die die Vernichtungslager überlebt hatten, strömten nach Kriegsende aus Angst vor Pogromen in die westlichen Besatzungszonen, wo sie in DP-Lagern wie Führenwald, Straubing oder Landsberg eingewiesen wurden. Sie waren Gestrandete, DPs (Displaced Persons), die das Nachkriegsdeutschland als Durchgangsstation auf dem Weg nach Palästina oder in Länder wie die Vereinigten Staaten, Australien oder Brasilien ansahen. Sie nannten sich selbst "Sche'erith Haplejta", was soviel heißt wie der "Rest der Geretteten".

Welche Schwierigkeiten die meisten der DPs damit hatten, auf deutschem Boden zu leben, läßt ein Artikel im jiddischen Münchener "DP-Express" vom Oktober 1946 erahnen: "D getroimte alija (Auswanderung) ken Eretz Jisroel (nach Palästina) is noch nit mekujem geworn (hat sich nicht verwirklicht). Di farscholtene dajtsche erd (die verfluchte deutsche Erde) hot sich farwandelt in an zaitwajlikn heijm far di jidische masn . . . Es wolt gewen absurd, as jidn (Juden) soln zulegn a hant (helfen) zum wiederoifbau fun Daitschland."

Die New Yorkerin Ruth Gay, Ehefrau des bekannten Kulturhistorikers Peter Gay, von der bereits eine Reihe lesenswerter Bücher in deutscher Sprache vorliegen, beschreibt in ihrem neuen Werk "Das Undenkbare tun", wie schwer sich Juden nach Kriegsende taten, auf deutschem Boden zu leben, wie sich aber dennoch in den von den Alliierten eingerichteten DP-Lagern eine blühende Kultur entwickelte - mit Theater- und Musikgruppen und einem ausgeprägten politischen Leben.

Rachegefühle und Verzweiflungstaten bestimmten vielfach das Alltagsleben der aus Osteuropa stammenden Juden. Mental war es für sie nicht einfach, sich im Land der Täter aufzuhalten. Ruth Gay macht das an einigen Beispielen deutlich. Da gab es zum Beispiel eine Gruppe "Nakam" um Abba Kovner, einem der Anführer des bewaffneten Aufstandes im Willnaer Ghetto, die den Plan faßte, die Wasservorräte in Nürnberg zu vergiften. Oder es gab den tragischen Fall eines polnischen Juden, der im sicheren Hafen der amerikanischen Zone, von seinen Erinnerungen eingeholt, von Zeit zu Zeit von einem Wutanfall gepackt und wahllos auf jeden, der in seine Nähe kam, einschlug.

Fälle wie diese waren hilflose Versuche, mit den quälenden Erinnerungen fertig zu werden. Mit den wenigen deutschen Juden, die überlebt hatten oder nach Deutschland zurückgekehrt waren, gab es kaum Berührungspunkte. Die DPs blieben der Welt der Lager verhaftet, und nur wenige fanden den Weg in die deutsche Gesellschaft. Von den rund 250 000 bis 300 000 aus Osteuropa stammenden DPs haben sich nur rund 15 000 für ein weiteres Verbleiben in Deutschland entschieden.

Aber auch die deutschen Juden, die das Grauen der Lager überstanden, in privilegierter Mischehe überlebt hatten oder aus dem Exil zurückgekommen waren, hatten Schwierigkeiten, sich in der Nachkriegsgesellschaft zurechtzufinden. Die Umgebung verhielt sich ablehnend bis feindlich. Im Wuppertaler Gemeindeblatt erschien zum Beispiel im Mai 1947 unter der Überschrift "Es hat sich nichts geändert" eine zutiefst pessimistische Einschätzung der Situation: "Stellen wir uns vor, Deutschland wäre nicht besetzt, dann wären Pogrome an der Tagesordnung."

Daß solche Einschätzungen nicht übertrieben waren, belegt Ruth Gay mit einer Reihe von Beispielen. Da wird ein aus einem Konzentrationslager befreiter Häftling, der noch Lagerkleidung trägt, nach der Rückkehr in seine Heimatstadt auf der Straße angepöbelt. Oder ein Rückkehrer aus dem Exil macht die Erfahrung, daß nach wie vor alte Nazis in wichtigen Stellungen sitzen und es teilweise dieselben Beamten sind, die einige Jahre zuvor die Ausbürgerung verfügt hatten, die jetzt über die Anträge zur Wiedereinbürgerung entscheiden. Für diejenigen, die sich nach 1945 der Prozedur einer solchen Beantragung unterziehen mußten, war das ein Schock.

Von den rund 230 000 deutschen Juden, die nach 1933 auswandern konnten, ist nur ein ganz geringer Bruchteil zurückgekehrt, vorwiegend ältere Menschen. Meist hatten sie in ihrem Einwanderungsland weder wirtschaftlich noch kulturell Fuß fassen können. Zur Remigration hätten sich gewiß mehr entschlossen, wenn ein Bundespräsident oder Bundeskanzler in den ersten Nachkriegsjahren die ehemaligen deutschen Juden zur Rückkehr eingeladen hätte. Eine solche Geste hat es nicht gegeben.

So kam es, daß in den Jahrzehnten vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nur etwa 30 000 Juden im Nachkriegsdeutschland lebten, in der DDR waren es nur wenige hundert. Es war eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich mehr schlecht als recht mit den Verhältnissen arrangiert hatten. Sie saßen - wie es lange Jahre quasi als Ausrede benutzt wurde - auf "gepackten Koffern". Sie verstanden sich nicht wie die deutschen Juden vor 1933 als "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", sondern definierten sich in erster Linie als Juden, dann erst - wenn überhaupt - als Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Die schwierigen und teilweise chaotischen Nachkriegsjahre spiegeln sich in der Entwicklung der Berliner Gemeinde. Lagerüberlebende wie Hans-Erich Fabian und Heinz Galinski, der die Gemeinde über vier Jahrzehnte leitete, waren bemüht, das Gemeindeleben wieder in Gang zu bringen. Sie hatten dabei nicht nur mit den allgemeinen Versorgungs- und Unterbringungsproblemen zu kämpfen, sondern auch mit einer Gemeinde, die sich selbst keine Zukunft gab. Bereits in der ersten Ausgabe der Berliner Gemeindezeitung "Der Weg" wurde das Problem thematisiert, das jeden Juden beschäftigte - ob es möglich sei, in diesem Land zu bleiben, oder ob die Auswanderung zwingend sei. Für letzteres sprach, daß sich die Gemeinde zeitweilig selbst als eine "Liquidationsgemeinde" bezeichnete.

Ruth Gay streift in diesem Zusammenhang ein eigenartiges Phänomen, das nach 1945 einsetzt und bis heute für Irritationen sorgt. Bei den wiedererstandenen Gemeinden meldeten sich in den Nachkriegsjahren zahlreiche Nichtjuden, die den Wunsch äußerten, zum Judentum überzutreten. In den Gemeinden mit ihrer zusammengewürfelten Mitgliedschaft löste dieses Ansinnen Verblüffung, aber auch Verwirrung aus. Allein in Berlin, so berichtet Nathan Peter Levinson, der 1950 in Berlin das Amt des Rabbiners antrat, fanden sich mehr als sechstausend Konvertierungsanträge. Einige der Antragsteller waren wohl, wie Levinson geargwöhnt hat, Opportunisten, denen es einzig und allein um die Zuteilung von Care-Paketen ging. Aber es gab auch eine beträchtliche Gruppe, der Levinsons besondere Sympathie galt, deutsche Frauen nämlich, die mit jüdischen DPs zusammenlebten: "Für jüdische DPs, die deutsche Frauen heirateten, war es selbstverständlich, daß sie jüdische Kinder haben sollten, also mußten die Frauen konvertieren."

Eines der interessantesten Kapitel des Buches von Ruth Gay beschäftigt sich mit der Entwicklung in Ost-Berlin, wohin nach 1945 zahlreiche Juden aus dem Ausland zurückkehrten. In der Regel waren es Sozialisten, die mithelfen wollten, ein neues, demokratisches Deutschland aufzubauen. Zu den bekanntesten Männern und Frauen dieser Rückkehrergruppe gehörten der Romancier Arnold Zweig, die Dichterin Anna Seghers und der Schriftsteller Stefan Heym. Berücksichtigt man jedoch die tatsächlichen Zahlen, dann stellt man fest, daß es alles in allem nicht mehr als ungefähr 3500 Juden, oder sagen wir besser Menschen jüdischer Herkunft, waren, die sich in der SBZ/DDR niederließen.

Die Hoffnung auf ein friedliches Leben in der DDR war jedoch trügerisch. In den Jahren 1952/1953 setzte eine Massenflucht ein. Die Gemeinden verloren zahlreiche Mitglieder. Der Grund dafür war, daß im Zuge des Slansky-Prozesses in der CSSR und der von Stalin in Moskau inszenierten Ärzte-Prozesse Antisemitismus und Antizionismus aufflammten. Im Vorfeld war es bereits zu Durchsuchungen von Privatwohnungen und Gemeindebüros gekommen. Für Irritationen hatte auch gesorgt, daß Parteimitglieder wegen ihrer jüdischen Herkunft zunehmend Probleme bekamen und aus der Partei ausgeschlossen wurden. Helmut Eschwege, der diese Jahre hautnah miterlebt hatte, schilderte, wie Panik um sich griff. Wer konnte, setzte sich über die Sektorengrenze in den Westen ab. "Unbekannt verzogen" hieß das dann in der Amtssprache. Es waren nur wenige, die sich für ein Verbleiben im sozialistischen Teil Deutschlands entschieden. In der neu gegründeten "Jüdischen Gemeinde für Groß-Berlin", die sich in den geräumten Büros in der Oranienburger Straße einrichtete, waren fast alle vom Magistrat eingesetzten neuen Amtsträger verläßliche Mitglieder der SED. Bezeichnend für die negative demographische Entwicklung der Ost-Berliner Gemeinde ist eine statistische Erhebung aus dem Jahre 1974. Nach dieser lag das Alter bei 90 Prozent der 450 Gemeindemitglieder zwischen 55 und 90 Jahren.

Das jüdische Leben in Deutschland-West und Deutschland-Ost war bis zum Fall der Mauer im Herbst 1989 vergleichbar dem Leben in einem Biotop. Nach anfänglichen Reibereien hatte man sich arrangiert. Jeder der beiden Staaten hegte und pflegte "seine" Juden. Die Gründe dafür waren unterschiedlich, lassen sich aber nachvollziehen. Die Juden wiederum hatten das Gefühl, unbehelligt in den beiden Deutschland vor der Vereinigung leben zu können, da man von ihnen nicht abverlangte, ein wie auch immer geartetes "deutsches" Bekenntnis abzulegen.

Erleichtert wurde das dadurch, daß beide Staaten quasi besetzte Staaten waren. Den Juden in der Bundesrepublik und denjenigen in der DDR bot die eingeschränkte Souveränität, also die Anwesenheit der Siegermächte, einen gewissen Schutz. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten ist eine neue Situation eingetreten. Die Befürchtung, daß die Gemeinden absterben und bald keine Juden in Deutschland mehr leben würden, hat sich nicht erfüllt. Durch den Zuzug von mehr als 100 000 Juden aus der früheren Sowjetunion in den neunziger Jahren hat das jüdische Leben sogar eine Auffrischung erfahren. Die ins Land gekommenen Akademiker, meist Ärzte, Ingenieure und Künstler, brachten neuen Wind in die erstarrten Gemeinden.

Allerdings gibt es Widerstände der Alteingesessenen. Sie spüren, daß etwas unwiderruflich zu Ende geht. Die Welt des deutschen Judentums verschwindet ebenso wie die osteuropäische Welt der Klezmermusik, des jiddischen Theaters und der jiddischen Literatur und Lyrik. Künftig werden in den Gemeinden die ehemaligen Bürger der Sowjetunion den Ton angeben. Für sie werden Börne und Heine genauso nichtssagend sein wie Scholem Alechem oder Mendele Sforim. Ist das zu bedauern? Ja und nein. Ein anderes Judentum faßt in Deutschland Fuß. Wie es aussehen wird? Vielleicht wird es ein neues deutsches Judentum sein. Die Chance besteht.

JULIUS H. SCHOEPS.

Ruth Gay: "Das Undenkbare tun". Juden in Deutschland nach 1945. Aus dem Englischen von Georgia Hanenberg. Verlag C. H. Beck, München 2001. 320 S., 28 Abb., geb., 24,54 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Notwendigkeit und Qualität dieses Buches über jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland verstehen sich für den Rezensenten Julius H. Schoeps offensichtlich von selbst. Seine Besprechung ist bis auf eine Ausnahme vollkommen bewertungsfrei. Stattdessen nimmt sich Schoeps viel Zeit und Raum, den Inhalt von Ruth Gays Untersuchung, "von der bereits eine Reihe lesenswerter Bücher in deutscher Sprache erschienen sind", zu präsentieren. Ausführlich referiert er von Gay zusammengetragene Fakten: etwa über die "Rachegefühle und Verzweiflungstaten" aus Osteuropa stammender Juden, die unmittelbar nach dem Krieg in Lagern für "Displaced Persons" leben mussten; die Zahlenverhältnisse jüdischer Bürger in Ost und Westdeutschland; die Beschreibung des "eigenartigen Phänomens" einer Konvertierungswunschwelle von Christen in den 50er Jahren. Für "das interessanteste Kapitel des Buchs" hält Schoeps die Darstellung der Entwicklung in der DDR, und auch hier referiert er ausführlich die Problematik jüdischen Lebens bis heute. Leider wird manchmal nicht immer ganz deutlich, ob der Rezensent tatsächlich Gays Buch referiert oder aus eigener Kenntnis und Anschauung berichtet. Und so bleibt auch im Unklaren, ob seine abschließenden Bemerkungen über einen möglicherweise bevorstehenden grundlegenden Wandel des deutschen Judentums durch den Zuzug ehemaliger Bürger der Sowjetunion, nun eine eigene Einschätzung ist oder auf Gays Buch basiert.

© Perlentaucher Medien GmbH
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