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Als ihr Vater stirbt, erbt Kinga eine Wohnung in einer fernen Stadt am Meer. Und einen Bernstein, in dem eine Spinne gefangen ist. Kein totes Insekt ist das, sondern eine leibhaftige Zeugin einer ungewöhnlichen Familiengeschichte. – Nach ihrem vielfach ausgezeichneten Debüt "Katzenberge" schreibt Sabrina Janesch die Chronik einer deutsch-polnischen Familie, die vom stetigen Wandel und einer dunklen Gabe geprägt ist. Fünf Jahrzehnte nach der "Blechtrommel" porträtiert sie eine Stadt, in die die rätselhafte Geschichte der Myszas eingeschlossen ist wie in einen Bernstein.
"Denn in dieser Stadt
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Produktbeschreibung
Als ihr Vater stirbt, erbt Kinga eine Wohnung in einer fernen Stadt am Meer. Und einen Bernstein, in dem eine Spinne gefangen ist. Kein totes Insekt ist das, sondern eine leibhaftige Zeugin einer ungewöhnlichen Familiengeschichte. – Nach ihrem vielfach ausgezeichneten Debüt "Katzenberge" schreibt Sabrina Janesch die Chronik einer deutsch-polnischen Familie, die vom stetigen Wandel und einer dunklen Gabe geprägt ist. Fünf Jahrzehnte nach der "Blechtrommel" porträtiert sie eine Stadt, in die die rätselhafte Geschichte der Myszas eingeschlossen ist wie in einen Bernstein.

"Denn in dieser Stadt hat jeder ein Geheimnis und jeder ein Schweigen, das er darüber legt."

Es ist Herbst, als Kinga Mischa in der fernen Stadt am Meer eintrifft. Der Wind rast durch die Backsteinfluchten und kündet von einem turbulenten Jahr. Nur ein Bernstein, in dem eine Spinne gefangen ist, erinnert die junge Frau an ihren verstorbenen Vater. Noch ahnt sie nur, dass der Träger des Steins nicht bloß das Schmuckstück, sondern auch eine seherische Gabe geerbt hat: eine faszinierende wie dunkle Fähigkeit, die für Kinga zunehmend zur Qual wird. In der Stadt trifft sie auf ihre polnische Verwandtschaft. Die Familie Mysza arrangiert sich trotz aller Konflikte mit ihrem Zuwachs, bis plötzlich zwei Menschen verschwinden, die Kinga sehr nahe standen: die schöne Renia und der kriegsmüde Bartosz. Plötzlich steht Kinga im Verdacht, ihre Kräfte auf grausame Art angewandt zu haben. – Eine zauberhafte Geschichte, die von einer Spinne, einem Stadtschreiber und einer jungen Deutschpolin widerstreitend erzählt wird – mit viel Poesie, Raffinesse und Wärme. Ein Roman über die seelischen Verletzungen einer Familie, die mit der schmerzvollen Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt korrespondieren.

"Sabrina Janesch demonstriert eindrucksvoll, wie das Erzählen sich wieder neu als eine produktive Form des Erinnerns behaupten kann." FAZ

"Sabrina Janesch erzählt mit hoher sprachlicher Sensibilität und poetischer Dichte." Hans-Ulrich Treichel

"Ihr Erzählstoff hat mächtige Spannung und Kraft." DER SPIEGEL

"Sabrina Janesch vollbringt das Kunststück, ihre Stoffe auszugraben und wieder zum Leben zu erwecken." Jörg Magenau

Umfangreiches Hintergrundmaterial zur Geschichte Danzigs: www.sabrinajanesch.de
Autorenporträt
Sabrina Janesch studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim sowie Polonistik in Krakau. Sie ist u.a. Gewinnerin des O-Ton-Literaturwettbewerbes des NDR, Stipendiatin des Schriftstellerhauses Stuttgart und des LCB. Als erste Stadtschreiberin von Danzig erntete sie viel Medienaufmerksamkeit. 2011 war sie Stipendiatin im Ledig House/New York.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2012

Hinter den Fassaden von Danzig

Nach Günter Grass hat sich kein deutschsprachiger Schriftsteller mehr an diese Stadt herangetraut. Nun erscheint "Ambra", der zweite Roman der jungen deutsch-polnischen Autorin Sabrina Janesch. In Danzig führt sie zu den Orten, die ihr ursprüngliches Buchkonzept verändert haben.

DANZIG, im August

Das ist nicht Danzig. Nein, noch einmal neu: Das ist nicht Danzig, wie man es kennt. Aus den Reiseführern, Touristenberichten, aus Filmen, Fotos und natürlich aus der "Blechtrommel", dem Roman von Günter Grass, der 1959 ein für alle Mal festgeschrieben hat, was wir als Deutsche über Danzig wissen: über die Stadt vor und im Krieg, über das Neben- und Gegeneinander von Deutschen, Polen und Kaschuben, über das Danzig des Langen Markts und der Marienkirche, des Krans am Hafen und der 1939 blutig umkämpften Polnischen Post. Und neben diesen Ikonen des Erinnerns auch über den Stadtteil Langfuhr, wo die Matzeraths wohnen. Aber mit dem Ende des Kriegs verlagert sich die Handlung der "Blechtrommel" nach Westdeutschland. Das Danzig der Nachkriegszeit blieb ungeschildert, und weil nach der Zerstörung vom März 1945, als nach kurzer Belagerung durch die Rote Armee mehr als neunzig Prozent der Innenstadt niederbrannten, fast alles in historischer Gestalt wieder aufgebaut wurde, scheint das, was man als Besucher in Danzig findet, nur wieder, wovon Grass erzählt hat. Aber das ist nicht mehr Danzig.

Die Rechtstadt, wie die von Deutschen nach Lübischem Stadtrecht - daher der Name - im dreizehnten Jahrhundert gegründete historische Innenstadt heißt, wird an zwei Seiten von den Flüssen Mottlau und Weichsel umflossen, an den anderen beiden schneidet eine Schnellstraße das pittoreske Zentrum von den Vorstädten ab. Wir stehen im Süden, blicken hoch auf die dichtbefahrenen sechs Spuren und fragen uns, was dahinter denn noch kommen soll. "Das ist die Zäsur", sagt Sabrina Janesch, "wenn man sie überschreitet, ist man in einer anderen Zeit."

Sabrina Janesch weiß, wovon sie spricht. Sie hat diesen Zeitenwechsel erlebt, als sie im September 2009 für ein halbes Jahr hierherkam, als Stipendiatin des Deutschen Kulturforums Östliches Europa und der Stadt Danzig. Es wird der 1985 geborenen Schriftstellerin genutzt haben, dass sie als Kind einer polnischen Mutter und eines deutschen Vaters beide Sprachen beherrschte und kurz vor der Publikation ihres Romandebüts "Katzenberge" stand, das eine deutsch-polnische Familiengeschichte in Schlesien und Galizien erzählt. Nun hatte sie für das Stipendium das Exposé eines zweiten Romans eingereicht, wieder eine deutsch-polnische Familiengeschichte, doch diesmal angesiedelt in Danzig. Das passte, sie wurde ausgewählt. Und das war mutig, denn nach der "Blechtrommel" hatte sich kein deutscher Schriftsteller außer Grass selbst mehr an diese Stadt gewagt. Aus Sabrina Janeschs Romanidee ist "Ambra" geworden, ihr zweites Buch, das am kommenden Samstag im Aufbau Verlag erscheint. Aber bis es fertig wurde, hatte sich der ursprüngliche Plan stark verändert, und das Bild von Danzig in Sabrina Janesch auch.

"Ambra" ist ein altes Wort für Bernstein, als man noch glaubte, dieses transparente goldgelbe Material mit seinen faszinierenden Einschlüssen, das hier so häufig am Meeresufer gefunden wurde, bilde sich in Fischleibern. Heute weiß man, dass es sich um ein Harz handelt, das von Bäumen abgesondert wurde, die an der Ostseeküste besonders stark vertreten waren. Der alte Name aber blieb in mehreren Sprachen erhalten, und heute, wo die Danziger Fremdenverkehrswirtschaft den Bernstein für sich entdeckt hat, ist er in der Stadt allgegenwärtig. Und nenne man es ruhig Klischee, aber heute im frühen Augustsonnenlicht glühen die Bachsteinbauten in Danzig tatsächlich, als seien sie selbst in Bernstein eingeschlossen.

Untergebracht wurde die Stipendiatin vor drei Jahren in einer kleinen Wohnung in der Swietojanska, einer der großen Straßen in der Rechtstadt, die alle von West nach Ost aufs Mottlau-Ufer zulaufen, den Lebensnerv der Handelsstadt. Von den Fenstern aus hatte sie einen direkten Blick auf die gewaltigen Backsteinmauern der Marienkirche: "Immer wenn ich morgens meine Jalousien hochzog, lag die Kirche wie ein riesiges Schiff vor mir, das die Stadt durchpflügt." Ein Idealbild, aber ein weiteres Danzig-Klischee.

Da traf es sich gut, dass am Ankunftstag von Sabrina Janesch ein früher Herbststurm vom Meer her tobte und sich die Stadt zum Auftakt ganz anders zeigte: bedrohlich und bedroht zugleich, nicht verzaubernd, sondern verhext. Dieser Sturm ist eingegangen in den Auftakt von "Ambra", der nach dem Vorbild von Uwe Tellkamps Dresden-Ouvertüre in "Der Turm" durch den Einsatz der Elemente die Stadt belebt. Danzig taucht im Roman gar nicht namentlich auf, dort heißt es lediglich "die Stadt am Meer". Der konkrete Ort des Geschehens tritt zurück zugunsten einer topographischen Bestimmung, die ihm von Beginn an den Charakter eines ständig in Veränderung begriffenen unsicheren Terrains gibt: Als Relikt von Sabrina Janeschs nautischer Allegorie auf die Marienkirche wird die Stadt selbst nicht nur am, sondern als ein Meer inszeniert.

Diese Veränderung ihres Schreibens über Danzig war die Folge der eigenen Überschreitung der Schnellstraßenzäsur. Plötzlich lag nicht mehr das Schmuckstück der rekonstruierten Rechtstadt vor Sabrina Janesch, sondern ein Danzig, das 1945 unzerstört geblieben war: die Alte Vorstadt und die Unterstadt. Beide werden geschützt durch ein Befestigungssystem aus dem sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert, das mit seinen Bastionen und Schleusen intakt geblieben ist, ein Meisterwerk alter Festungsarchitektur, das noch im Zweiten Weltkrieg seine Aufgabe so gut erfüllte, dass die russischen Angreifer hier nicht über die von der Mottlau gespeisten Gräben kamen und die Stadt vom Nordwesten her einnehmen mussten. Deshalb brannten diese beiden Vorstädte nicht. Heute aber verfallen sie.

Wir stehen am Wallplatz, einem baumbestandenen Fünfeck, das rechts vom Kleinen Zeughaus begrenzt wird, in dem mittlerweile die Akademie der Künste Hausrecht hat, was sich in zahllosen modernen Skulpturen auf dem Grundstück widerspiegelt. Links steht eine alte Häuserreihe, deren Teile sich nur noch gegenseitig Halt zu geben scheinen, und geradeaus erhebt sich ein großer repräsentativer, aber völlig verwahrloster Bau, in dem ein städtisches Leihhaus seinen Platz hatte. "Es ist so toll hier", bricht es aus Sabrina Janesch hinaus, "die Ruhe dieses Orts, der sich selbst überlassen wurde und noch wird. Das hat etwas sehr Anrührendes."

Der Wallplatz steht im Zentrum ihres Romans "Ambra". Hier erbt Kinga Mischa, die Tochter eines noch in Danzig geborenen, aber 1945 mit den Eltern geflohenen Deutschen, nach dessen Tod eine Wohnung. Ein anderer Teil der Familie, der sich als polnisch verstand und den alten Namen Mysza beibehielt, war 1945 in der Stadt geblieben, und eigentlich hatte diese Verwandtschaft auf das Erbe gehofft. Als Kinga in Danzig ankommt, zum ersten Mal in ihrem Leben, ist sie sofort auf vermintem Grund - historisch wie familiär. "Ambra" führt, wie schon "Katzenberge", diese beiden Aspekte parallel und entwirft so ein anschauliches Bild von Unterdrückungs-, Kriegs- und Vertreibungsstrategien, die wir ansonsten nur aus Geschichtsbüchern kennen - dort entindividualisiert und unversöhnlich, weil die vielen wechselseitigen Verfehlungen wie Missgeschicke keine Rolle spielen. Sie aber stehen in "Ambra" im Mittelpunkt.

Doch der Roman ist vor allem das, was die Bücher von Grass über Danzig eben nicht sind: ein Stadtporträt der Gegenwart. Das aber natürlich nicht ohne Vergangenheit sein kann. "Die Giraffen von Danzig" wollte Sabrina Janesch das Buch ursprünglich nennen, nach der Gestalt der riesigen Kräne auf der ehemaligen Lenin-Werft, wo in den siebziger und achtziger Jahren mit der Entstehung von Solidarnosc nicht nur polnische, sondern Weltgeschichte geschrieben wurde. Doch der später wieder verworfene Titel hätte nicht wie "Ambra" die Assoziation einer abgekapselten eigenen Welt geboten, in der die Geschichte bewahrt wird. Vom ursprünglichen Plan ist ein Ausflug auf die Werft im Buch übrig geblieben, der auf klandestine Weise in ein gleichfalls dem Verfall überlassenes Gebiet führt, das in Wirklichkeit erst seit kurzer Zeit und in bescheidenem Rahmen überhaupt für Besucher zugänglich gemacht worden ist.

Doch Sabrina Janeschs Herz schlägt besonders für die Alte Vorstadt, wo sie über einen Hof an der Grodza Kamienna auf ein Hinterhaus zeigt, in dem sie das Vorbild für die von Kinga geerbte Wohnung gefunden hat. Dann geht es um die Ecke zur Brama Nizinna, dem Untertor, einem vollständig erhaltenen Stadttor aus dem Jahr 1626, in dem noch Fallgitter und eisenbeschlagene Tore mit vollständiger Verriegelung vorhanden sind. "Ich könnte wie Rumpelstilzchen hier durchtanzen", ruft Sabrina Janesch - spricht's und verschwindet im dunklen Toreingang, rüttelt dort an dem alten Riegel, und neben ihr braust der Schwerkraftverkehr durch das alte Gemäuer. "Das einzige erhaltene Tor", sagt die eben noch so euphorisierte Autorin knapp, "und es zerfällt, weil man hier die Lastwagen durchschickt."

"Ambra", die Geschichte einer gescheiterten Annäherung, die ihre zentralen Protagonisten in Kinga und ihrem polnischen Cousin Bartosz hat, endet nicht weit von diesem Tor, am Fuß des Hügels der Bastion Tur, wo eine Gittertür einen Eingang verschließt, der nach dem, was die Danziger sich erzählen, zu einem unterirdischen Weg führt, durch den man bis in die Innenstadt laufen kann. Hier verliert Kinga im Buch Bartosz aus den Augen. Hat sie ihn aus Eifersucht umgebracht, oder ist er, der durch seinen Einsatz als polnischer Soldat im Irak traumatisiert wurde, unterwegs in ein neues Leben? Das Buch gibt es nicht preis, denn Sabrina Janesch erzählt aus drei widerstrebenden Perspektiven: der von Kinga, der eines besserwisserischen deutschen Stadtschreibers und der einer in Bernstein eingeschlossen Spinne, die sich seit hundert Jahren im Familienbesitz der Mischas/Myszas befindet. Und wer von ihnen die Kette trägt, an der dieser Bernstein baumelt, kann Gedanken lesen. Oder ist auch das ein Mythos?

Wenn es etwas wie deutschsprachigen Magischen Realismus gibt, dann versucht sich Sabrina Janesch daran. Doch sie will ihre Figuren weder dem Phantasma noch der trockenen Historiographie überlassen, und so sind die drei Erzählebenen wechselseitige Rückversicherungen. Es gibt keine Gewissheit im Roman, wie sie auch im deutsch-polnischen Verhältnis nicht bestehen kann. Nur eines ist gewiss: Danzig hat wieder eine deutsche literarische Stimme. Eine, die mit der Stadt lebt. "Wenn Günter Grass hierherkommt", erzählt Sabrina Janesch, "steigt er im obersten Geschoss des Hotels Mercure ab." Der Blick aus dem hässlichen Hochhaus über die Stadt wird phantastisch sein. "Aber hier unten", sagt die Autorin in der Alten Vorstadt, "ist es viel schöner."

ANDREAS PLATTHAUS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Jörg Magenau versteht den zweiten Roman von Sabrina Janesch vor allem als Talentprobe und Versprechen für Kommendes. Das hoch gesteckte Ziel, die eigene Familiengeschichte mit der deutsch-polnischen Geschichte zu verweben, gelingt in den Augen des Rezensenten nur unvollkommen. Die Konstruktion des Romans, so lässt uns Magenau wissen, trägt kaum das historische Gewicht, das sich die ambitionierte Autorin mit dem Handlungsort Danzig und einer Geschichte über mehrere Generationen und bewegte Zeitläufe hinweg aufhalst. Magenau schildert, wie die Geschichte der Autorin nach und nach entgleitet: die Gegenwartshandlung schrumpft zusammen, die Erinnerung an Krieg und Flucht aber bleibt blass, die Erzählerfiguren sind kaum zu unterscheiden. Allerdings punktet Janesch laut Magenau durch eine atmosphärisch dichte Beschreibung der Stadt Danzig und ihrer Bewohner.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2012

Die Spinne im Bernstein
In den Kulissen der Geschichte: Sabrina Janesch siedelt ihren zweiten Roman „Ambra“ in Danzig an
Danzig ist nicht einfach nur eine Stadt. Danzig ist historisches Gelände, literarische Topografie. Wer sich hierher begibt, begibt sich mitten hinein in die komplizierte deutsch-polnische Geschichte, und wer wie Sabrina Janesch einen Danzig-Roman schreibt, muss wissen, worauf er sich einlässt. Die im Krieg völlig zerstörte Innenstadt sieht auf den ersten Blick so aus, als wäre sie nie zerstört worden. Doch viele Häuser wurden nur ihrer äußeren Form nach und mit der Fassadenfront rekonstruiert, wie abstrakte Merkzeichen, die als Platzhalter für das verlorene Original dienen. Auf merkwürdige Art hat Danzig sich in die Kulisse seiner selbst verwandelt.
  In der Langgasse, so ist zu erfahren, konnte man früher häufiger Günter Grass begegnen, doch soll er seit der Geschichte mit der SS nicht mehr oft zu sehen gewesen sein. Hier wurden auch Szenen aus der „Blechtrommel“ verfilmt, am nachgebauten Originalort sozusagen. Und weil Danzig einst von Lübecker Kaufleuten gegründet wurde und deshalb ein wenig wie Lübeck aussieht, wurde hier auch für die „Buddenbrooks“ gedreht. Dass der polnische Autor Pawel Huelle einen ganzen Roman über den Studenten Hans Castorp schrieb, der laut „Zauberberg“ im Jahr 1905 ein Semester in Danzig studierte, passt dazu: An diesem Ort schreibt die polnische Literatur deutsche Literaturgeschichte fort.
  All das schreckt Sabrina Janesch nicht. Sie ist jung genug, um sich von Traditionen nicht beeindrucken zu lassen. Danzig habe sich in den fünfzig Jahren seit der „Blechtrommel“ so sehr verändert, dass es längst nicht mehr dieselbe Stadt sei, sagt sie. Dennoch erweist sie in „Ambra“ Grass mehrfach ihre Referenz, indem sie wie er ins Magische, Übersinnliche ausgreift. Und wenn sie im Gedächtnis der Stadt „jeden Schrei und jedes zerbrochene Glas“ aufspürt, dann ist auch das eine Erinnerung an Oskar Matzerath.
  Vielleicht ist es zudem auch ein Selbstschutz, dass sie Danzig nie beim Namen nennt, sondern immer nur als „Stadt am Meer“ bezeichnet und systematisch verrätselt. „Denn in dieser Stadt hat jeder ein Geheimnis und jeder ein Schweigen, das er darüber legt“, heißt es an einer Stelle in kräftiger literarischer Überhöhung, denn das lässt sich wohl für alle Menschen und alle Städte auf der Welt sagen.
  Sabrina Janesch, 1985 in Gifhorn geboren, ist Tochter einer polnischen Mutter und eines deutschen Vaters. In ihrem zu Recht hoch gelobten und mit Preisen ausgezeichneten Debütroman „Katzenberge“ aus dem Jahr 2010 begab sie sich auf die Spuren der eigenen Familiengeschichte, die sie bis nach Schlesien und in ein Dorf in der heutigen Ukraine führte. Mit Danzig hat sie sich nun an einen Ort begeben, der ihrer deutsch-polnischen Geschichte entspricht, den sie sich literarisch aber erst erobern musste. „Ambra“ ist nicht nur deshalb ein typischer zweiter Roman, dem die Ambitioniertheit und ein etwas überanstrengter literarischer Konstruktionswille deutlicher anzumerken sind.
  Erzählt wird „Ambra“ aus drei verschiedenen Perspektiven: Da ist zunächst die Ich-Erzählerin Kinga, eine junge Frau, die nach dem Tod ihres Vaters zu ihrer Überraschung eine Wohnung in Danzig geerbt hat. Weil der Vater seine polnische Herkunft so gut es ging verbarg, wusste sie davon nichts. Nun ist sie angereist, um ihre fremde polnische Verwandtschaft kennenzulernen und sich neben zwei anderen Frauen in ihrer Wohnung einzurichten: Für die Polen naht da eine typische Deutsche als fragwürdige Eigentümerin.
  Eine ihrer Mitbewohnerinnen ist ein merkwürdig ätherisch-engelhaftes Wesen, das in einem Varieté als Medium auftritt. Kinga verliebt sich in diese Frau, muss aber eifersüchtig verfolgen, dass die sich mit Bartosz verbindet, Kingas aus dem Irakkrieg zurückgekehrtem und schwer traumatisiertem Cousin, der sie am Bahnhof mit den Worten „Heil Hitler“ empfangen hat. Der Krieg hat in dieser Familie bis in die Gegenwart hinein katastrophale Folgen.
  Die Familiengeschichte, die über mehrere Generationen, Weltkriege und deutsch-polnische Verwerfungen hinweg verfolgt wird, ist in einem Bernstein-Amulett eingeschlossen, das von einer Generation zur nächsten vererbt wurde und schließlich in Kingas Besitz gelangte. Nun ist es die Spinne im Bernstein, die als eine alle Zeiten überdauernde Zeugin vom Zerwürfnis zweier Brüder und von der Spaltung in einen deutschen und einen polnischen Familienstrang erzählt. Unter seinem Namen „Ambra“ gibt der Bernstein dem Roman den Titel. Seine dritte Erzählerstimme gehört einem deutschen Stadtschreiber, der die Ereignisse als Chronist verfolgt und etwa von einer Kunst-Aktion berichtet, an der auch Kinga beteiligt ist: Mit Spiegeln soll ein Straßenzug so verhängt werden, dass die Stadt in den Spiegelungen und Gegenspiegelungen verschwindet.
  Am Ende ist es aber nicht die Stadt, die verschwindet, sondern es sind zwei Figuren, die in ihr verloren gehen. Und der Autorin entgleitet die groß angelegte Geschichte, die auf der Gegenwartsebene schließlich in einem dünnen Rinnsal versickert und versandet. Seine Schwächen sind diesem zweiten Roman deutlich anzumerken: Die Erzählstimmen ähneln sich zum Verwechseln und sind in ihrer Perspektivgebundenheit nicht immer nachvollziehbar.
  Besonders für die Spinne hätte man sich gewünscht, dass sie ihre Fäden etwas raffinierter knüpft, als einfach nur eine Chronik abzuspulen. Die Kapitel, die von Krieg, Flucht und Zerstörung handeln, bleiben blass. Die Stoffmenge, die Sabrina Janesch transportieren möchte, ist gewaltig; das Gebälk der Konstruktion ächzt hörbar unter dieser Last. Aber auch die Stärken sind deutlich: Sie liegen vor allem in der Kraft und der Lebendigkeit der einzelnen Figuren, in der Überfülle der Ideen und immer wieder in der atmosphärisch dichten Beschreibung der „Stadt am Meer“. Dabei geht es weniger um die rekonstruierten Vorzeige-Ansichten, sondern um Viertel, die von Verfall und Untergang bedroht sind: die südliche Vorstadt, das zur Brache degradierte Werftgelände, das Flussufer, die Wälle und unterirdischen Gänge der Bastion. Diese Reviere öffnen der Phantasie den Raum, den Janesch benötigt.
  Sie beginnt mit dem Wind, den sie in einem kurzen Prolog über die Ostsee und dann durch die Straßen wehen lässt, und der Dinge und Worte, Erinnerungen und Geschichten aufnimmt. Das erinnert ein wenig an den Prolog in Uwe Tellkamps „Turm“, wirkt bei Janesch aber konkreter, sinnlicher, weniger pathetisch. Auch in den folgenden Kapiteln ist es immer wieder der Wind, der die vielen einzelnen Bilder und Motive wie aus der Vogelperspektive zusammenführt. Wind und Wasser prägen den Roman, denn anders kann es in Danzig gar nicht sein. „Ambra“ erhält dadurch eine ganz andere Färbung als der erdverbundene Erstling „Katzenberge“, in dem Erde als Heimatboden, aber auch als Grund, aus dem die Dinge wie Erinnerungen ausgegraben wurden, das zentrale Element gewesen ist. Nach der handfesten Erde der ungreifbare Wind: Darin liegt aber auch ein Problem dieses Romans.
  Auch Sabrina Janesch kam mit einem Sturm in Danzig an, wo sie ein halbes Jahr als Stadtschreiberin ein Stipendium hatte und, während sie noch „Katzenberge“ zu Ende schrieb, schon mit „Ambra“ begann. Von ihrer Wohnung konnte sie auf den gewaltigen Backsteinbau der Marienkirche blicken, der die Stadt wie ein Ozeandampfer durchpflügt. Die Stadt habe mit Steinen nach ihr geworfen, sagt sie, weil sich im Sturm Steine aus den Kirchenmauern lösten. Wie sich eine Autorin ein Gelände erschließt, das lässt sich in diesem Buch Satz für Satz und Straße für Straße nachvollziehen. Dass die deutsch-polnische Geschichte, die in der Familiengeschichte aufgehoben sein soll, nicht wirklich durchdrungen, sondern bloß herbeigeschrieben wird, muss man der Autorin da nachsehen. Doch „Ambra“ ist ein stimmungsvoller Danzig-Roman und eine weitere Talentprobe einer jungen Autorin, von der noch zu hören sein wird.
JÖRG MAGENAU
Oskar Matzerath und sein Glas
klingen in diesem Roman an
Es ist nicht ganz einfach, in
Danzig eine Wohnung zu erben
Grenzgängerin des Erzählens: Sabrina Janesch.
FOTO: PETER PEITSCH/PEITSCHPHOTO.COM
    
    
    
    
    
    
Sabrina Janesch: Ambra. Roman. Aufbau Verlag,
Berlin 2012. 396 Seiten,
22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Sabrina Janesch demonstriert eindrucksvoll, wie das Erzählen sich wieder neu als eine produktive Form des Erinnerns behaupten kann. FAZ
Sabrina Janesch erzählt mit hoher sprachlicher Sensibilität und poetischer Dichte. Hans-Ulrich Treichel
Ihr Erzählstoff hat mächtige Spannung und Kraft. DER SPIEGEL
Sabrina Janesch vollbringt das Kunststück, ihre Stoffe auszugraben und wieder zum Leben zu erwecken. Jörg Magenau