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Barry Hannah entwirft mit seiner Gemeinde Eagle Lake in Mississippi einen fiktiven Kosmos, der die Südstaatengesellschaft gleichnishaft porträtiert: Alte kauzige Männer angeln am abgründigen See, Hausfrauen verkaufen ihre üppigen Körper. Mancher hofftauf handfeste Visionen, ein anderer baut abenteuerliche Fluggeräte. Von Jugend an sind die Menschen in dieser Gegend nostalgisch und besessen. Sie haben gesündigt, und sie suchen Vergebung. - Alle, bis auf Man Mortimer. Dieser gutaussehende Dieb und Zuhälter scheint keine Seele zu haben. Seine Opfer sind zahlreich, doch kein Mensch wagt es, sich…mehr

Produktbeschreibung
Barry Hannah entwirft mit seiner Gemeinde Eagle Lake in Mississippi einen fiktiven Kosmos, der die Südstaatengesellschaft gleichnishaft porträtiert: Alte kauzige Männer angeln am abgründigen See, Hausfrauen verkaufen ihre üppigen Körper. Mancher hofftauf handfeste Visionen, ein anderer baut abenteuerliche Fluggeräte. Von Jugend an sind die Menschen in dieser Gegend nostalgisch und besessen. Sie haben gesündigt, und sie suchen Vergebung. - Alle, bis auf Man Mortimer. Dieser gutaussehende Dieb und Zuhälter scheint keine Seele zu haben. Seine Opfer sind zahlreich, doch kein Mensch wagt es, sich ihm entgegenzustellen. Nur jenseits des Wassers, in der Waisenkolonie, wird eine unheimliche Aktivität spürbar: Die mißhandelte Jugend rüstet zum Kampf. Mit brillanten und hochkomischen Sätzen beschreibt Barry Hannah das Leben am Eagle Lake als eine furiose Mischung aus Erinnerungen, Geschichten und Gerüchten: ein vielstimmiges Szenario, dem biblische Schwere und artistische Leichtigkeit zu ei
Autorenporträt
Teja Schwaner studierte in Hamburg, Frankfurt und London. Sie arbeitete als Musik- und Filmjournalistin und übersetzte u.a. Hunter S. Thompson, Daniel Woodrell, Karin Slaughter und T.J. Forrester.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2003

Der Erbfluch von Eagle Lake
Provinz der Postmoderne: Barry Hannah, erstmals auf deutsch

Barry Hannah gilt als einer der letzten wilden Schreiber der amerikanischen Südstaaten. Truman Capote nannte den heute Einundsechzigjährigen, der lange Alkoholiker war und für Fotos gern auf dem Motorrad posiert, einst sogar den "verrücktesten Autor der Vereinigten Staaten". Eine Auszeichnung, die der Schriftsteller aus Oxford, Mississippi, nicht nur einem ausschweifenden Lebenswandel, sondern vor allem seiner rauschhaften Erzählweise verdankt. Hannah schreibt multiperspektivisch, springt dabei nicht nur von Figur zu Figur, sondern auch in den Zeitebenen, verwischt Realität mit Traum und schreckt selbst vor Wortneuschöpfungen nicht zurück. Das macht es nicht immer leicht, bei der Lektüre den roten Faden zu behalten.

Es erklärt aber womöglich, warum bisher keiner von Hannahs mittlerweile neun Romanen und drei Kurzgeschichtsbänden in deutscher Übersetzung erschienen ist, obwohl sie ihm neben einer Nominierung zum Pulitzer-Preis 1996 den Ruf eines "postmodern gothic novelist" in der amerikanischen Literaturwissenschaft eingebracht haben. Der Aufbau-Verlag holt dieses Versäumnis nun dankenswerterweise nach. Ob er allerdings mit "Yonder stands your Orphan" eine so glückliche Wahl getroffen hat, ist fraglich. Handelt es sich dabei doch um Hannahs jüngstes und wohl verstörendstes Werk - und außerdem kommen darin nicht weniger als rund dreißig Personen vor. Teja Schwaner bewältigt die Übersetzung zwar souverän, doch führt schon der deutsche Titel in die Irre. "Gegenüber dem Himmel" ist viel zu harmlos für diese Geschichte, die nichts weniger als ein sumpfiges Höllenszenario entwirft.

Ähnlich wie Flannery O'Connor oder William Faulkner, mit denen er gern verglichen wird, interessieren Hannah die Abgründe einer provinziellen Südstaaten-Existenz: Betrug, Prostitution, Sucht, Gewalt. Nicht zufällig trägt sein Roman im Original eine Zeile aus dem apokalyptischen Dylan-Song "It's all over now, Baby blue" im Titel. Eagle Lake, der Ort der Handlung, ist eines jener miefigen Käffer, in denen das Laster schon aus Langeweile bestens gedeiht. Lediglich ein See voller Barsche, Welse und Büffelfische verschafft der kleinen Gemeinde ein wenig lokale Berühmtheit und Abwechslung. Man trifft sich im Ködershop, um über Angelausrüstung, Pornos und Gerüchte zu debattieren. So wie Cecil und Robbie, zwei Freunde, die dort einer angeblich guten, alten Zeit hinterhertrauern. "Nicht mal der Dreck hat heute so viel Klasse wie früher", glaubt Cecil. Und Robbie pflichtet ihm bei: "Der Laden hier hatte mal was Sauberes!" Daß die Vergangenheit von Eagle Lake keineswegs besser aussah als die verlotterte Gegenwart, enttarnt Hannah im Rückblick. Früher nämlich wurden Shop und Ort von Man Mortimer kontrolliert, "einem Spieler, der Nutten auf den Strich schickte und immer mehr Ähnlichkeit mit dem toten Countrystar Conway Twitty angenommen" hatte.

Sein Name deutet bereits an, wer hinter der charmanten Maske steckt: "Man" für "Mensch" und "Mortimer" für "Tod durch das Meer", wie es mehrfach heißt, sprechen dafür, daß es sich bei dem attraktiven Bordellbesitzer um eine Verkörperung des Teufels handelt. Am liebsten fährt Mortimer im abgedunkelten Wagen herum und schlitzt wildfremde Menschen mit dem Teppichmesser auf. Doch zeigt sich Satan bei Hannah auffällig angekränkelt. Nicht genug, daß Mortimer die teuflische Todsünde überhaupt begeht und sich in die ansässige "Sexbombe" Dee Allison verliebt, um im Streit mit einem Nebenbuhler fast entmannt zu werden. Er wird auch ständig von Selbstzweifeln geplagt, quält andere planlos aus Überdruß oder Übellaunigkeit - und gerät spätestens dann als Verführer in eine folgenschwere Identitätskrise, als ein Doppelgänger mit der exakt gleichen Conway-Twitty-Visage in Eagle Lake auftaucht.

Mortimer, das personifizierte Böse, verliert also im wahrsten Sinne sein Gesicht und ruft nach der "Selbsthilfegruppe". Es ist diese Art von postmodernem Witz, für die Hannah bei seinen Fans beliebt und bei Kritikern eher berüchtigt ist. Er mag das Spiel mit Andeutungen, denen man Bedeutung zumessen kann - oder eben nicht. So wie man auch an Geister glauben kann oder nicht. Die wiederum gibt es in diesem Roman zuhauf. Angefangen mit den Toten des Bürgerkriegs, die als "Massengrab" unter den Fundamenten eines Grillrestaurants lauern, über die Skelette zweier Mordopfer Mortimers, die von kleinen Jungs mit den sinnigen Namen "Isaac" und "Jacob" überall mit hingeschleift werden - bis hin zu jenem Mann, der ständig bei Sheriff Facetto mit einer immergleichen Bitte anruft: Facetto möge doch den Kopf seines toten Onkels verhaften, weil der ihm "zwanzig Jahre lang Zigaretten auf der Stirn ausgedrückt hat". Als der Sheriff beim ersten Mal fragt, warum der Mann denn "nichts dagegen unternommen" habe, meint dieser nur: "Er war doch von meinem Blut."

Das Böse als unvermeidlicher Erbfluch auf Eagle Lake? Festzuhalten bleibt immerhin, daß merkwürdige Dinge vor sich gehen in diesem kleinen Ort, den höchst skurrile Exzentriker bewohnen. So skurril, daß man sich nach einer Weile nicht mehr sicher ist, wer hier eigentlich für wen das größere Übel darstellt. Wahn steht sozusagen gegen Gewalt. Nachdem sich zunächst alle Bewohner mit Mortimer eingelassen haben, formiert sich plötzlich Widerstand gegen ihn, vornehmlich von jenen, die selbst schwere Schuld auf sich geladen haben. Da wettert etwa Laienprediger Eagan, der zuvor für Mortimer noch Leichen entsorgt hat, fanatisch gegen den "alten Sünder". Ein Ehepaar, das erfolglos versucht hat, sich gegenseitig umzubringen, eröffnet ein Waisencamp, wo Jugendliche zu "Soldaten Christi" ausgebildet werden. Kurzum: Der Unhold wird zum Sündenbock für alle je im Bezirk begangenen Sünden und zum Zielobjekt eines regelrechten Kreuzzugs, in dem selbsterwählte "Propheten" endlich jene "Vision" erblicken, die sie von der "Crux Mittelmäßigkeit" erlösen soll. "Die Dinge", heißt es an anderer Stelle, "sind aus dem Ruder gelaufen, Menschen heutzutage kaum mehr vonnöten, so tatenlos und ohne Eigenschaften, wie sie sind."

Die Ungeborgenheit in einem säkularisierten Alltag, dessen Riten längst ausgehöhlt sind, treibt Hannahs Protagonisten um: Nicht gerade ein origineller Befund, stellenweise aber amüsant und spannend erzählt. Störend jedoch wirken die abschweifenden Reflexionen und Bekenntnismonologe, in denen dasselbe aus anderer Perspektive nochmal verhandelt wird. Hannahs Roman mutet eher als Parade kurioser Charaktere denn als Roman an: für 350 Seiten ein bißchen viel postmoderne Spielerei und anarchische Wirrnis.

GISA FUNCK

Barry Hannah: "Gegenüber dem Himmel". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Teja Schwaner. Aufbau-Verlag, Berlin 2003. 348 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eher unverständlich erscheint Gisa Funck, warum von Barry Hannah bislang nichts auf Deutsch vorliegt, obwohl der in Amerika vielgerühmte "postmodern gothic novelist" Hannah, der als einer der letzten wilden Literaten der Südstaaten gilt, insgesamt neun Romane und drei Erzählungsbände veröffentlicht hat. Ob es an seinem ausschweifenden Lebenswandel liegt, fragt sich Funck, oder vielmehr an seiner rauschhaften multiperspektivischen Schreibweise, die eine Lektüre seiner Bücher nicht immer ganz einfach macht? So gesehen findet Funck zwar die Initiative des Aufbau-Verlages begrüßenswert, zieht jedoch die Auswahl des ersten auf deutsch vorliegenden Romans von Hannah in Zweifel. Es ist zugleich sein jüngster, erläutert Funck, und schon der deutsche Titel sei irreführend harmlos, weil doch eigentlich ein provinzielles Höllenszenario beschrieben würde - mit allerlei postmodernen Mätzchen, wie Funck kritisiert. Hannah liebe das Spiel mit Andeutungen, denen man Bedeutung zumessen könne - oder nicht. "So wie man auch an Geister glauben kann oder nicht", stellt Funck lakonisch fest. Funcks skeptischer Geist stört sich außerdem an den vielen abschweifenden Reflexionen und Bekenntnismonologen, die ihr das Buch eher als eine "Parade kurioser Charaktere" denn als guter Roman erscheinen lassen.

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