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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Nachtreporter seines Innenlebens
Traumbuch aus dem Lager: Rudolf Leonhards empirischer Surrealismus / Von Friedrich Dieckmann

Rudolf Leonhard, der expressionistische deutsche Dichter, der sich, ohne jemals Partei-Kommunist zu werden, früh auf die Seite der revolutionären Linken geschlagen hatte, ist, einer Einladung Walter Hasenclevers folgend, schon 1926 nach Frankreich übergesiedelt, lange vor Hitlers Staatsbemächtigung. Als diese eintritt, wird er in Paris zu einem unermüdlichen Helfer seiner geflüchteten und verbannten Kollegen. Er taucht tief genug in die Sprache des Gastlandes ein, um französisch zu schreiben und zu publizieren, essayistische Prosa ebenso wie Gedichte; eine Hölderlin-Anthologie ist 1953 seine letzte französische Veröffentlichung.

Aber er hat in Frankreich auch auf deutsch publiziert; in der Illegalität erscheint 1944 unter dem Pseudonym Robert Lanzer sein Gedichtband "Deutschland muß leben . . .", dazu bestimmt, unter den deutschen Besatzungssoldaten für jenen Patriotismus zu werben, der sich in der Fähigkeit zum Frieden bewährt. Hans Mayer bekam das Buch in der Schweiz in die Hand, ohne den Autor zu entziffern. "Ich las die Gedichte", schrieb er 1958, "und war ergriffen: nicht bloß von Ernst und Echtheit der politischen Aussage, von der Reinheit der Heimatliebe und dem Haß gegen die faschistische Kriegsmaschinerie. Viel wichtiger war, daß sich diese Klarheit der Gesinnung mit unverkennbarer Dichterkraft verband."

Als Leonhard dieses Buch schrieb, hatte er vier schreckensvolle Internierungsjahre hinter sich. Bald nach Kriegsausbruch hatte ihn die französische Polizei, der er denunziert worden war, mit vielen anderen deutschen Exilanten als feindlichen Ausländer in Le Vernet festgesetzt, einem Lager am Fuß der Pyrenäen, in das er nach einer mißglückten Flucht ein zweites Mal verbracht wird. Die Haftbedingungen sind schlimm, aber nicht mörderisch, und der Zusammenhalt einer aus vielen Nationen zusammengewürfelten, geistig hochstehenden Häftlingsschar begegnet ihnen mit einer Solidarität, die dem Dichter diese Jahre im Rückblick bei allem Elend als die beste Zeit seines Lebens erscheinen läßt: "In Vernet traf ich die besten Menschen der Welt. Ich habe nie in solcher Harmonie mit anderen gelebt. Es war wie eine Belohnung für alle Kämpfe."

Das Konzentrationslager als Ort einer Bedrohung, deren Druck eine Gemeinschaft bewirkt, die den einzelnen trägt, schützt, über sich hinaussetzt - Leonhard empfindet diese Situation so stark, daß ihm die Lagerjahre zu dichterisch fruchtbaren werden. In Le Vernet schreibt er das Stück "Geiseln", das nach dem Krieg in Deutschland viel gespielt und dann vollständig vergessen wird; hier entstehen mehr als sechshundert Gedichte, die den Lageralltag beschreiben, anklagen, überhöhen; ein Teil von ihnen, mehr als ein Drittel, ist 1961 von Maximilian Scheer unter der Ägide der Ost-Berliner Akademie der Künste als erster Band ausgewählter Werke veröffentlicht worden.

In Le Vernet wie in Castres, unter dem Damoklesschwert einer Auslieferung an die deutsche Besatzungsmacht, die dem Todesurteil gleichkam, wächst jenes Traumbuch, das eines der erstaunlichsten Schreibwerke der deutschen Exilliteratur ist. Ein Schläfer, der von jeher sonderlich bilddeutlich zu träumen weiß und seine Nachterscheinungen schon früher zuweilen festgehalten hatte, macht sich daran, Nacht um Nacht beim Erwachen (und er erwacht oft mehrmals) seine Traumbilder in Stichworten festzuhalten, mit Bleistift und im Dunkeln, um sie dann bei Tage ins Reine zu schreiben, präzis berichtend, was ihm vorm inneren Auge gestanden hatte, und Ergänzungen oder Kommentare in Klammern davon absetzend.

Das Traumbuch des Lagerhäftlings, ein Konvolut von 2507 DIN-A5-Seiten, liegt, nachdem Scheer, Leonhards getreuer Editor, im Jahre 1955 einige Auszüge veröffentlicht hatte, nun erstmals nahezu vollständig im Druck vor, und man erfährt in Steffen Menschings, des Herausgebers, vielseitig-informativem Nachwort auch das Schicksal dieser Blätter, die der Autor im Lager zwischen zwei Holzdeckel festzuschnüren pflegte, um sie besser verstecken zu können. Das Konvolut bleibt im Lager, als ihm im Mai 1943, kurz vor der drohenden Deportation nach Deutschland, mit achtunddreißig anderen Häftlingen der Ausbruch gelingt; zwei französische Freunde verwahren die Hinterlassenschaft und nehmen sie mit in die Freiheit. Mehr als ein halbes Jahrhundert später realisiert der Berliner Aufbau-Verlag jene Großedition, die Bernd Jentzsch schon in den achtziger Jahren anmahnte, und legt gleichsam den fünften Band der von Scheer edierten Schriftensammlung vor: 575 Traum-Notate auf 425 schön gedruckten Buchseiten.

Ist dieses nun endlich vorliegende Traumbuch jenes chef d'oeuvre, das Hans Mayer in seinem grundlegenden Essay von 1958 in Leonhards vielgestaltem Werk vermißte? Der Autor selbst könnte es dafür gehalten haben; mehrere Vorworte samt achtundvierzig Traum-Thesen (Mensching erwähnt sie, ohne sie dem Band einzubeziehen) deuten auf die von ihm geplante Gesamtveröffentlichung. Was ihm in seinem Tage-Werk manchmal fehlt: die Freiheit des Spiels, die Ungebundenheit der Erfindung - im Traum fällt es ihm ganz von selbst zu, und die Prägnanz, mit der er die nächtlichen Bilder festhielt, in einer Sprache, die knapp und fließend, von geschmeidiger Anschaulichkeit ist, mochte von der Vorstellung bestimmt sein, träumend der Dichter zu sein, der er als Wachender nur in Grenzen war.

Der poetische Nachteil ist, daß es wirkliche Träume waren, die hier den Weg aufs Papier fanden; eine empirisch entbundene, nicht die bewußt gestaltende Phantasie führt dem Reporter seines inneren Nachtlebens die Feder. Dabei kommen immer wieder frappante Texte zustande, seien es erotische Szenen, die aus dem Absurden kommen und ins Absurde gehen und sich mit einer sprachlichen Kultur bekunden, die noch dem Heikelsten standhält, seien es politische Pointen, die dem Träumer unvermittelt aufgehen.

Der Schläfer auf der harten Pritsche wird nur ganz selten von Schreckbildern und Angstvisionen heimgesucht. Er träumt sich in ein Freies, das das räumlich und zeitlich Entrückte ist; im Traum erneuert es sich ihm auf kaleidoskopisch verschobene Weise. Die ganze Zeit- und Lebensgeschichte kommt, phantastisch durcheinandergewirbelt, auf diesen Blättern vor; und anhand eines Personenregisters, der dem Band beigegeben ist, kann der Leser nachschlagen, was Leonhard von wem in welcher Lage geträumt hat. Nur je einmal, so zeigt sich, von Lenin und Stalin (beide erscheinen ihm lediglich in Druckerzeugnissen), von Thälmann oder Mussolini, häufiger von Adolf Hitler, mit dem er sich träumend in Gespräche verwickelt, am meisten von Walter Hasenclever, dem Freund, mit dem es im Exil zum politischen und persönlichen Bruch gekommen war. In einem anderen französischen Lager interniert, hatte sich Hasenclever 1940 bei der Annäherung der Wehrmacht das Leben genommen. Häufiger als er kommen dem Träumer nur noch Yvette, seine französische Frau (sie ist es, die ihn dann in Marseille versteckt), und Laura Levysohn, seine Mutter, vor, die in Berlin zurückblieb, als seiner Schwester Charlotte 1939 die Flucht nach England gelang. Vier Jahre später kommt sie in einem deutschen Konzentrationslager ums Leben.

Nicht vor in Leonhards Träumen kommt Susanne, seine erste Frau, und nur einmal Wolfgang, der 1921 geborene Sohn, der dem Vater seit langem entrückt war; die Mutter, schon in jungen Jahren eine überzeugte Kommunistin, hatte ihn 1935 in die Sowjetunion in Sicherheit gebracht, wo sie selbst später eine fast zehnjährige Lagerhaft erleidet. Zwei Lastwagen hinterherlaufend, erblickt ihn der träumende Rudolf Leonhard in Berlin auf der Leipziger Straße: "Auf dem einen ist eine winzige bewegliche Puppe mitten unter den Männern, das ist mein kleiner Sohn; er plärrt und will mir nicht die Hand geben." Der Traum endet damit, daß der Vater in ein Café geht und von dem Kellner als Nazispitzel verdächtigt wird; als er das heftig verneint, fällt ihm ein, daß er vielleicht nur als Kommunist überführt werden soll. "Die Kellnerinnen", schließt diese Szene, "gehn schweigend herum."

Es ist nie literaturnäher geträumt worden als auf Vichy-Frankreichs Lagerpritschen von diesem Nachtreporter eines Innenlebens, in dem nichts passiert, indem alles Mögliche passiert, etwa die Verwandlung Torundzyks: "Ich drehe mich nach links und sehe auf: Einige Meter von uns, mitten in einem leeren Raume, steht Torundzyk, hat die Arme vor sich gehoben, stammelt, taumelt, und - ist ganz schwarz! In der Tat: Es ist sein Kopf, aber es ist ein Negerkopf, es ist Torundzyk als Neger, ein Neger, der Torundzyk ist. Wir stehn alle sprachlos." Torundzyk, diese vollkommen poetische Figur, verwandelt sich kraft Menschings Anmerkungen in die eines polnischen Interbrigadisten, der sich 1943 über Afrika und Persien in die Sowjetunion durchschlägt und später in Warschau Generaldirektor im Ministerium für Leichtindustrie wird.

Dieses Traumbuch ist eine Fundgrube nach vielen Seiten, ganz besonders für Psychoanalytiker und Leonhard-Biographen. Ein Autor, der einst an der Front des Expressionismus gestanden hatte, findet als Träumer zu einer Richtung, die er in seinem sonstigen Schreiben vermeidet; als empirischer Surrealist unterläuft er die ästhetische Schranke eines parteilich vorgegebenen Realismus. Allerdings: Leonhard ist in seiner literarischen Arbeit niemals einer Doktrin gefolgt, am wenigsten der eines sozialistischen Realismus. Mit einem Text, der den Essayisten und Kulturhistoriker in hellem Licht zeigt, wendet er sich in der Expressionismus-Debatte, die die in Moskau herausgegebene Exilzeitschrift "Das Wort" 1937 vom Zaum bricht, gegen Alfred Kurella und besteht auf dem historischen Recht des Expressionismus als eines Humanismus der erneuerten Werte, der wiedergewonnenen Kontur, der auf "die Restituierung des Menschen" gedrungen habe.

Als "Homme de lettres, Aufklärer, Sozialist" hat Hans Mayer Leonhard bezeichnet, den "Sanftmütigen aus Lissa" nennt ihn Bernd Jentzsch in seinem großen biographischen Essay von 1984, als "Liebling der Frauen, Zahlenmystiker und Erotomane" steht er Steffen Mensching vor Augen. 1947 kommt dieser Vielerfahrene, der von jeher auch Sprachforscher, ein Wortergründer von Kompetenz und Phantasie, gewesen war, erstmals wieder nach Deutschland und hält auf dem von Ricarda Huch präsidierten Berliner Schriftstellerkongreß eine fulminante Rede über den Sprachverderb, der sich im Gefolge faschistischer Herrschaft über Deutschland verbreitet habe; er attackiert "Unsinnlichkeit, Mangel an Vorstellung, an Phantasie, Modesucht, sklavische Anpassung, Entselbstung, . . . die Gedunsenheit der Worte". Sein Fazit: "Wer falsch spricht, denkt falsch!" wird zum geflügelten Wort des Kongresses; man kann zweifeln, ob es ihm politische Freunde erworben hat.

Nach Paris zurückgekehrt, hindert den fast Sechzigjährigen eine langwierige Erkrankung an der Heimkehr, die er im Sinn hat; als er sie, halb genesen, im April 1950 realisiert, kommt er zur schlechtesten Zeit, mitten in den Kampf gegen den "Formalismus", also die Moderne, den das Moskauer Zentralsekretariat von neuem ausgerufen hat. Inmitten lauter Gesinnungsgenossen sieht er sich in eine Einsamkeit gesetzt, die auch seine Ermunterung zu der neuen Staatsgründung, ein Band namens "Unsere Republik", nicht überwindet.

Anna Seghers hintertreibt, gewiß im Parteiauftrag, die Verleihung des Nationalpreises an ihn, auch keine andere Würdigung wird ihm zuteil; ans Hotelzimmer verwiesen, muß er lange Zeit auf die Zuweisung einer Wohnung warten. Hans Mayer spricht 1958 von dem "bösartigen Treiben", dem Leonhard ausgesetzt gewesen sei; deutlicher noch wird Karl Kleinschmidt, der bei einer Weimarer Tagung das Hotelzimmer mit ihm teilt und von "Nächten ohne Schlaf und ohne Ruh'" berichtet, "in denen er die Qual eines Menschen herausschrie, der keine Heimat in seiner Heimat findet und wie ein Fremder dort behandelt wird, wo er zu Hause ist".

Nur im Kontakt mit jungen Autoren findet dieser Universalpoet mit den strahlenden blauen Augen, der bezwingenden Rede die Selbstbestätigung, welche ihm die Parteilinie vorenthält; im Unterricht der Jungen zündet der Enthusiasmus für eine Sprachheimat, aus der er sich niemals hatte vertreiben lassen. In den späten Gedichten, auf die Bernd Jentzsch 1984 aufmerksam gemacht hat, findet sich das von der Heimkehr in ein Land, dessen Stiefel der Dichter verflucht, dessen Kinder er segnet. Aber auch "Anatomie" findet sich hier, der Hymnus auf den Körper, eine lustvolle Evokation aller Sinne und Organe. Steffen Mensching erwägt, ob Leonhard "über die Libido zum Sozialismus" gekommen sei; sicher ist, daß er, durch Frankreich belehrt, Sozialismus immer auch als eine Kultur der Versinnlichung begriffen hat. Wie allein er mit dieser Botschaft im zerstörten, zerrissenen Nachkriegsdeutschland stehen mochte - in der Generation der Enkel hat sie gezündet; sie kann diesen Dichter als einen der Ihren ansehen.

Rudolf Leonhard: "In derselben Nacht". Das Traumbuch des Exils. Herausgegeben von Steffen Mensching. Aufbau Verlag, Berlin 2001. 527 S., geb., 49,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Diese erstmals nahezu vollständig publizierten Traumbilder des im Konzentrationslager "Le Vernet" internierten Leonhard hält Friedrich Dieckmann für "eines der erstaunlichsten Schreibwerke der deutschen Exilliteratur." Eine Fundgrube nach vielen Seiten nennt er das Buch, für Psychoanalytiker wie für Leonhard- Biographen, die der darin verborgenen, "phantastisch durcheinandergewirbelten" Zeit- und Lebensgeschichte des Autors auch anhand des Personenregisters und eines "vielseitig- informativen Nachworts" nachspüren können. "Frappante Texte" finden sich darin, "erotische Szenen, die aus dem Absurden kommen und ins Absurde gehen," oder "politische Pointen, die dem Träumer unvermittelt aufgehen." Bewundernd konstatiert Dieckmann die "Freiheit des Spiels" (die dem Autor "in seinem Tage-Werk manchmal fehlt") und die "Prägnanz," mit der Leonhard die nächtlichen Bilder in einer Sprache bannt, "die knapp und fließend, von geschmeidiger Anschaulichkeit ist." Den "poetischen Nachteil," dass hier, wie der Rezensent einräumt, eine empirisch entbundene, nicht die bewusst gestaltende Phantasie regiert, wiegt das locker auf.

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