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Bis zurück zum ersten Menschen, der der Verbindung der Urmutter mit dem Wal entsprang, kann Juri Rytchëu seine Ahnenlinie zurückverfolgen. Seine Familiengeschichte ist zugleich die Saga des tschuktschischen Volkes. Denn von Generation zu Generation wurden seit Anbeginn der Zeiten die Taten, Verdienste und Schicksalsschläge weitergegeben. Wir hören von Göttern, Geistern, Forschern, Händlern, Zaren und Revolutionären, vom Segen der Nähnadel, vom Fluch des Alkohols. Eine fremde, barbarische Zivilisation voll technischer Wunder bricht über die kleine Siedlung an der Küste herein. Die hohe Kunst,…mehr

Produktbeschreibung
Bis zurück zum ersten Menschen, der der Verbindung der Urmutter mit dem Wal entsprang, kann Juri Rytchëu seine Ahnenlinie zurückverfolgen. Seine Familiengeschichte ist zugleich die Saga des tschuktschischen Volkes. Denn von Generation zu Generation wurden seit Anbeginn der Zeiten die Taten, Verdienste und Schicksalsschläge weitergegeben. Wir hören von Göttern, Geistern, Forschern, Händlern, Zaren und Revolutionären, vom Segen der Nähnadel, vom Fluch des Alkohols. Eine fremde, barbarische Zivilisation voll technischer Wunder bricht über die kleine Siedlung an der Küste herein. Die hohe Kunst, im Einklang mit den rauen Naturkräften der Arktis zu leben, droht in Vergessenheit zu geraten.
Da beschließt der Schamane Mletkin auf eine große Reise zu gehen. Unstillbare Neugier und Wissbegier treiben ihn an, andere Sprachen zu lernen, die großen Städte zu sehen. Sein wacher Blick durchschaut die seltsamen Gebräuche der Weißen. Er staunt über die Absurditäten ihres Lebenswandels. Aber unablässig sucht er die Wahrheit in der Fülle ihrer Kenntnisse.
Als er schließlich an sein heimisches Ufer am arktischen Meer zurückkehrt, versucht der letzte Schamane der Tschuktschen, das alte und das neue Wissen zu vereinen, um seinem Volk eine Zukunft zu sichern.
Autorenporträt
Juri Rytchëu wurde 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens geboren. Der erste Schriftsteller dieses Volkes mit zwölftausend Menschen wurde mit seinen Romanen und Erzählungen zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur und eines vergessenen Volkes. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.06.2003

Wal und Mensch
Juri Rytcheu schreibt gegen den Untergang der Tschuktschen
Vor einigen Monaten ging eine Nachricht durch die Weltpresse: Das IWC, das Internationale Walfang-Komitee, hatte beschlossen, den Tschuktschen, einem Volk, das im äußersten Osten Sibiriens siedelt, den Walfang zu verbieten. Die Tschuktschen leben zwar schon ein paar Tausend Jahre vom Walfang, der ihren Alltag, ihre Kultur, ja ihre Religion bestimmt. Aber nachdem japanische, russische, amerikanische und skandinavische Flotten den Atlantik fast leer gefischt haben, galt es ein starkes Zeichen der Umkehr zu setzen. Gemaßregelt werden aber nicht etwa jene Konzerne, die den Fischfang industriell betreiben, sondern die Tschuktschen, die den Wal bis heute von kleinen Booten aus mit Speeren und Harpunen erlegen.
Die Tschuktschen, die sich selbst Luorawetlan, „wahre Menschen”, nennen, kämpfen schon seit 350 Jahren um ihr Überleben. Damals waren die ersten Kosaken in ihrem Siedlungsgebiet am Polarkreis aufgetaucht und hatten den Fortschritt mit russischer Bürokratie, Seuchen und Militärexpeditionen einführen wollen. Später, als das benachbarte Alaska von den USA erworben wurde, kamen die amerikanischen Fischereigesellschaften, die den Walfang mit grausamer Profitgier betrieben und den entsetzten Tschuktschen dafür christliche Missionare und den für sie verheerenden Alkohol brachten. Von den Bolschewiken wurden sie hingegen mit den Vorzügen des Kollektivismus bekannt gemacht, was nicht ohne die Liquidierung ihrer Schamanen anging. Nicht mehr als 12 000 Menschen haben den fortwährenden Versuch, sie bald nach kapitalistischem, bald nach kommunistischem Maß zu zivilisieren, überlebt; und diese werden jetzt der organisierten Sentimentalität radikaler Walschützer geopfert, denn das Verbot des Walfangs, das aus ihnen Sozialhilfeempfänger macht, werden die Tschuktschen nicht überleben.
Das kleine, von der Auslöschung bedrohte Volk hat einen großen Schriftsteller hervorgebracht, den 1930 geborenen Juri Rytcheu, der seit dreißig Jahren mit fesselnden Romanen und Epen von nichts anderem als dem Überlebenskampf, der kulturellen Eigenheit und alltäglichen Spiritualität der Tschuktschen erzählt. Seine Prosa ist kunstvoll und weise zugleich. Wenn das Wort von der Weltliteratur noch Sinn hat, dann hier: bei diesem Autor, der von einer unbekannten, missachteten Welt am Rande erzählt und dabei universelle Fragen der Menschheit stellt. Rytcheu schreibt auf Russisch, in der Sprache der Kolonisatoren: „Wir können uns nicht mehr vor ihnen schützen”, sagt eine Gestalt seines meisterlichen Epos „Der letzte Schamane”, als im 19. Jahrhundert immer mehr russische Offiziere, Fischer, Beamte ins Land vordringen: „Also müssen wir lernen, mit ihnen zu leben.” Von diesem Versuch, mit den anderen, den Fremden, auszukommen, die die Tschuktschen abwechselnd zur Religion der Nächstenliebe, des Privateigentums oder des Marxismus- Leninismus bekehren wollen, handelt Rytcheus neues Buch, das im Untertitel „Die Tschuktschen-Saga” heißt.
Diese Saga ist die Summe von Rytcheus literarischer Arbeit. Wer seine Romane kennt, etwa „Wenn die Wale fortziehen”, „Traum im Polarnebel” oder „Die Reise der Anna Odinzowa”, dem mag manches bekannt anmuten. Aber es ist hier in neue Zusammenhänge gestellt und wird jetzt gewissermaßen ein für allemal gesagt. „Der letzte Schamane” ist das Epos eines alten Volkes und ein Stück zeitgenössischer Literatur. Dabei bezieht sich Rytcheu auf die mündliche Überlieferung des Volkes wie auf seine eigene Vorstellungskraft als Künstler, denn erst beides zusammen, kollektive Erinnerung und künstlerische Phantasie, vermag das Schicksal der Tschuktschen in seiner Vieldeutigkeit und Tiefe zu erfassen.
Die erste Frau, von der die Mythen künden, hieß Nau. Sie hatte noch kein Bewusstsein davon, dass sie sich von den Tieren der Tundra unterscheidet, aber sie unterschied sich von ihnen durch die Fähigkeit zu lachen; und sie lachte zum ersten Mal, als sie spürte, dass „ihre nackten Füße vom Moos und vom weichen Gras gestreichelt und gekitzelt” wurden. Abend für Abend wartet sie am Meeresufer auf einen Wal, der aus dem Wasser steigt, sich dabei in einen schönen Jüngling verwandelt, mit ihr die Nacht verbringt und morgens wieder als Wal im Meer verschwindet. In der wachsenden Kinderschar der beiden gibt es Wale – und Menschen.
Der erste Teil des Saga ist der mythischen Zeit von der Erschaffung der Erde bis zu jener Ära vorbehalten, aus der die ersten schriftlichen Dokumente über das Tundravolk vorliegen. Die Epoche der Geschichte setzt für die Tschuktschen 1648 ein, als Abenteurer an ihren Küsten auftauchen, die im Auftrag des russischen Zaren die entfernten Regionen Sibiriens erkunden und auf die „wahren Menschen” treffen, die sie freilich wie Tiere behandeln. Segelschiffe des Zaren, „riesige Monster mit schwarzen, im Wind flatternden Flügeln”, näherten sich dem Ufer, und von „den hohen Bordwänden schauten menschenähnliche haarmündige Wesen” herunter. „Haarmünder” ist die Bezeichnung der Luorawetlan für die Weißen, gleich ob sie im Auftrag des russischen Zaren oder der amerikanischen Handelskompagnien ihr Land in Besitz zu nehmen trachten.
Gespräch über den Schmutz
Im zweiten, psychologisch subtilen Teil wird aus der Saga, die den Wandel von Jahrhunderten in Legenden und Familiengeschichten zeigt, die Biografie von Mletkin, dem letzten Schamanen. Er heuert um 1900 auf einem amerikanischen Walfänger an, lernt lesen und schreiben, lebt ein Jahr lang in San Francisco und verstrickt seinen amerikanischen Lehrer in Gespräche. Etwa über den Schmutz, von dem der zivilisierte Amerikaner meint, er wäre ein Attribut der wilden Tschuktschen, die in Jarangas, zeltartigen Behausungen, leben, während es Mletkin, den Wilden, hingegen vor den Errungenschaften der Zivilisation ekelt, etwa vor der Kanalisation, diesen „Flüssen von Scheiße, die in den Städten unter den Füßen der Passanten dahinflossen”.
Mletkin, der Englisch und Russisch spricht, sich in den Naturwissenschaften ausgebildet hat und dennoch die alten religiösen Riten pflegt, ist ein gebildeter Schamane. Rytcheu ist keineswegs einer starren, unwandelbaren Tradition verpflichtet, die im Ansturm der Moderne zugrunde gehen muss; er träumt nicht von der guten alten Zeit, verfälscht das Vergangene nicht zur Idylle und redet nicht der Abschließung gegen die Welt das Wort. Während die Tschuktschen in der Lage wären, ihre Eigenheiten selbst im Zeitalter der kulturellen Globalisierung zu behaupten, war es umgekehrt stets die Moderne, die keine Abweichung duldete und ihr Programm mit totalitärer Macht durchzusetzen suchte. Der letzte Schamane wird 1946 von den Stalinisten ermordet – als vermeintlicher Reaktionär, der statt von den Segnungen der Schwerindustrie von der Beseeltheit der Natur überzeugt war.
Sechzehn Jahre, bevor er ermordet wurde, hielt Mletkin seinen neugeborenen Enkel in Händen; trotz aller schamanistischen Übungen gelang es ihm jedoch nicht, von den Geistern einen Hinweis zu erhalten, wie das Kind heißen solle. So gab er ihm den Namen „Rytcheu” – der Unbekannte. Dieser Unbekannte macht uns jetzt auf grandiose Weise mit Mythos und Realität, Aufstieg und Untergang einer Kultur bekannt, an deren Anfang der Wal und in deren Zentrum der Respekt vor der Natur stand; ihr Ende aber scheint jüngst mit einem Dokument pervertierten Naturschutzes besiegelt worden zu sein. KARL-MARKUS GAUSS
JURI RYTCHEU: Der letzte Schamane. Die Tschuktschen-Saga. Aus dem Russischen von Antje Leetz. Unionsverlag, Zürich 2002. 351 Seiten, 19,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Der magische Realismus von García Márquez?, er hat sein Pendant im hohen Norden gefunden. Und der Zauber, der sich von beiden Büchern auf den Leser überträgt, ist der selbe. Lassen Sie sich von diesem Zauber einfangen...«
(Frank Schorneck in: Macondo, 01.08.02)

»Juri Rytchëu spannt einen faszinierenden Bogen von der grauen Vorzeit zur Gegenwart. Beeindruckend und sehr lesenswert.« (Monika Hitchman in: Blick Zürich 26.07.02)

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Karl-Markus Gauß ist richtiggehend berührt vom Schicksal der Tschuktschen, einem kleinen Volk an der Peripherie Sibiriens, um das es in diesem Roman geht. Geschrieben wurde das Buch von Juri Rytcheu, dem Enkel des letzten Schamanen, der 1946 von Stalin ermordet wurde. Seit die Tschuktschen vor 350 Jahren entdeckt wurden, mussten sie ständig um ihr Überleben kämpfen, angesichts des "fortwährendem Versuchs, sie bald nach kapitalistischem, bald nach kommunistischen Maß zu zivilisieren". Von der sich in zwei Teile gliedernden Erzählung Rytcheus ist Gauß begeistert: "Seine Prosa ist kunstvoll und weise zugleich", sein Roman macht den Leser "auf grandiose Weise mit Mythos und Realität, Aufstieg und Untergang einer Kultur bekannt, an deren Anfang der Wal und in deren Zentrum der Respekt vor der Natur stand", schwärmt Gauß. In den Augen des Rezensenten absurd ist der Umstand, dass ausgerechnet diesem Volk nun der Walfang verboten wurden, obwohl sie ihn nie industriell, sondern nur für den Eigenbedarf betrieben haben - insofern ist der Roman auch ein Abgesang auf eine sterbende Kultur.

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