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Produktdetails
  • Verlag: Haffmans
  • Seitenzahl: 765
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 790g
  • ISBN-13: 9783251004461
  • ISBN-10: 3251004468
  • Artikelnr.: 25327829
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Man sieht leider immer noch, dass es Bäume sind
Holzfällen, eine Ernüchterung: Ludger Lütkehaus ist der Hans Hackebeil im Wald des Seins / Von Ulrich Wanner

Ein Titel, der verhallt wie ein Paukenschlag: Ludger Lütkehaus hat ein voluminöses Buch über das "Nichts" geschrieben. Wie geht das? Und geht es überhaupt? Über das Nichts lässt sich nicht reden. Das Nichts ist nichts als nichts - und darüber hinaus entzieht es sich den Worten. Wer vom Nichts redet, bringt notgedrungen, schon durch Benennung, Akte des Seienden, des Positiven, des Seins in die Welt. Diese Paradoxie ist eine der beiden Anfechtungen, die dem Buch von Anfang bis Ende zusetzen. Lütkehaus sucht sie kaltzustellen, indem er sie in ein Faszinosum umdeutet: Es sei eine Chiffre des Nichts, dass es sich ausgerechnet im Sein vorstellt und kenntlich macht. Die andere Anfechtung der von Lütkehaus gepriesenen und praktizierten "Nichtwissenschaft" ist der Exzess der Abstraktion: Wie viel Weltwirklichkeit lassen die allerallgemeinsten Begriffe "Sein" und "Nichts" zu? Wieder wird der Ausweg in der Umwertung einer Verlegenheit in einen Vorteil gesucht: Nur die "Totalabstraktion" erschließe das pure Nichts.

Die Paradoxie aber gibt den Ton an. Die Nichtsgedanken kommen vom Sein, von dem sie sich lösen wollen, einfach nicht frei. Der "Abschied vom Sein", um den schon der Untertitel emphatisch wirbt, will nicht enden. Die Emanzipation des Nichts, die erstritten werden soll, bleibt am Sein kleben. Mehr als siebenhundert Seiten lang mustert Lütkehaus die europäische Geistesgeschichte, um ihr eine verhängnisvolle Fehlhaltung nachzuweisen. Das Abendland, so die Anklage, sei keineswegs, wie Heidegger dekretiert, seinsvergessen, sondern es ist im Gegenteil nichtsvergessen. Anders als der Orient, der nichtsfreundlich ist, treibt der Okzident Seinsvergötzung. Schon seit den griechischen Erkenntnisgründern ächten und verteufeln metaphysische Traumtänzer und Verdrängungskünstler das Nichts, aus dem doch in Wahrheit jedermann auftaucht und in das er nach einer Ewigkeitssekunde wieder verschwindet; sie perhorreszieren es als Finsternis, das Böse, das Prinzip Destruktion und feiern das Sein im Gegenzug als die Spendersphäre des Lichten, der Fülle und des Guten; alles Schöpferische west im Sein.

Sogar die Nichtsbejaher, Leute wie Schopenhauer, die es unter Europas Denkern und Dichtern immerhin auch gab, schrecken vor der reinen Leere zurück und laden sie hinterrücks mit seinshafter Positivität auf. Ob nichtsfeindlich oder nichtsoffen - vor der kosmischen Kontingenz, vor der uranfänglichen Leere ist der abendländische Geist ein metaphysischer Feigling, ein Spekulant der Zuflucht ins erfundene Heil. Lütkehaus fasst diese "Nichtsvergessenheit", gut psychoanalytisch, als Angstabwehr auf. Weil das ausgegrenzte Nichts als Dämon in den Kellern der Kulturseele spukt, hypertrophiert das Sein und richtet Unheil an: Die faustische Kultur der Weltverwandlung und Schöpfungsanmaßung sind Giftblüten der "Ontozentrik", einer Seinsgier, die gerade deshalb nichts sein lassen kann. Gegen den Anschein ist Lütkehaus kein Prediger eines neuen Monismus, einer nihilophilen Ausschließlichkeit. Wenn die vor Eloquenz funkelnden Gelehrtengedanken in katechetische Sollsätze münden, dann gilt das nur dem Willen zur Gleichstellung: Das Nichts soll das Sein nicht überwältigen, aber es pocht auf Emanzipation und Koexistenz. Darin ist Lütkehaus großzügiger und verbindlicher als sein Spiritus rector Günther Anders, über dessen Traktate eines klirrenden Desillusionismus er 1992 eine luzide Studie veröffentlicht hat. Anders' unerbittlicher Existenzialismus der Enthüllung, gleichsam ein Nudismus der Feigenblattentfernung, speist den Elan dieses verwegenen Buches. Wo aber Anders mit geschult bösem Blick die Tarnkünste menschlicher Bösartigkeit und methodisch betriebener Sinnverwirrung entblättert, ist sein detektivisch nicht minder begabter Schüler ein neuer doctor metaphysicus, der die Sonde ansetzt, um zu heilen. Die Arznei, die er verschreibt, verabreicht den Mut zum Nichts trotz der Droge des totalen Seins. Paul Tillich, der Schöpfer einer lebensvollen "dionysischen Theologie" (Jacob Taubes), verordnete kurz nach dem faschistischen Vernichtungsnihilismus "den Mut zum Sein trotz der Drohung des Nichtseins".

Einen neuen unbelasteten Nihilismus, der von anthropozentrischer Seinsprojektion gereinigt ist, hat Lütkehaus im Sinn. Vor allem die altnihilistische Verwechslung von Nichts und Vernichtung will er vom Tisch haben. Ein ontischer Friedensschluss zwischen Mensch und Universum stünde dann in Aussicht. Dass solche durch einen Trennungsimperativ bewirkte Großreinigung im Gehäuse des Seins womöglich ebenfalls Illusion ist, dass man ebenso gut Tag und Nacht auseinander reißen könnte, ist ein Einwand, der den Autor gewiss schaudern macht; über Analogien dieser Art, die er "verseint" nennt, lässt er verächtliche Schopenhauerblitze zucken.

Dennoch stimmt eine gewisse Monotonie bedenklich; es ist, als ob die Gedankengänge ermüdeten und zu Wiederholungsmustern erstarrten. Nicht nur die Omnipräsenz der Generalthese und die strotzende Fülle des Gelehrtenwissens, das Lütkehaus mit geistvollem Stuckwerk auflockert, erwecken diesen Eindruck. Der denkerische Gehalt selber trägt einen Zwiespalt aus. Denn nur die Passagen, in denen Sein und Nichts sich aneinander reiben, halten den Leser in Atem. Sobald aber das Sein ohne das Nichts verhandelt wird und das Nichts vom Sein Abschied nehmen soll, stellt sich Erschlaffung ein.

Der dringliche Verdacht entsteht und verdichtet sich, dass das Buch sich selbst in den Rücken fällt und das rigorose Scheidungsverlangen außer Kraft setzt: Denn das pure Nichts lässt den auf Widerstände angewiesenen Geist in trübe Unendlichkeit fallen. Das konfrontierte Nichts aber, wenn es dem Sein kritisch zu Leibe rückt, erzeugt sogleich höheren Mutwillen und jene anarchische Belebung, die sich bei Entrümpelungen abgestandener Lebensstile und verschlissener Existenzverhältnisse einstellt. Dieser Belebungseffekt aber mag die Einsicht fördern: Nichts und Sein sind, jedenfalls im Menschenbezirk, so aufeinander angewiesen wie Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Aufgang und Untergang.

Die schöne, anregende Seite dieses bedeutenden Buches, sein philosophischer Eros, ist die nichtende Lust an der Weltanschauungsentrümpelung. Die Lektüre erzeugt oft ein, der Autor möge die Metapher verzeihen, Lichtgefühl, dass es doch Neues unter der Sonne gebe.

Ludger Lütkehaus: "Nichts". Abschied vom Sein, Ende der Angst. Haffmans Verlag, Zürich 1999. 765 S., geb., 68,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

"Eine eindrucksvolle Anstiftung zur Gelassenheit": Für Rüdiger Safranski scheint dies der naheliegende Sinn von Lütkehaus` Versuch einer Überwindung der Nichtsvergessenheit zu sein. Denn wer das Nichts wieder entdecke, wappne sich stärker gegen moderne Unruhe und Betriebsamkeit, die das Sein so mit sich bringe. Und um die Suche nach bzw. den Kampf mit dem Nichts plastischer zu gestalten, bringt Lütkehaus eine Reihe historischer Figuren ins Spiel. Diese quälen sich mit dem Nichts herum, das für Safranski beinahe mit Gott zu verwechseln ist. "Übellaunig" sei Lütkehaus` Buch trotz der trüben Thematik dennoch nicht geraten.

© Perlentaucher Medien GmbH