Produktdetails
  • Verlag: Haffmans
  • Seitenzahl: 157
  • Deutsch
  • Abmessung: 185mm
  • Gewicht: 217g
  • ISBN-13: 9783251004430
  • ISBN-10: 3251004433
  • Artikelnr.: 24034911
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Das Stilgesetz der stillen Bilder
Eine Poetik des Déja vu: Christa Estenfelds Erzählungen "Die Menschenfresserin" / Von Jürgen Kaube

Das taubstumme Elternpaar steht nachts in der Tür, ringt furchtbar um Ausdruck und hält dem Nachbarn, der seine laute Musik laufen lässt, einen Zettel hin: "Unsere Kinder müssen weinen!", während die Kinder hinter ihrem Rücken ins Zimmer grinsen. - Eine Languste wird zubereitet, sie versucht vergeblich, eingeölt und wie in Hypnose, auf einer glatten Fläche vorwärts zu kommen. Währenddessen verbrüht sich der Wirt unterm versehentlich aufgedrehten heißen Wasserstrahl die Hände, brüllt schrecklich, und plötzlich bäumen sich zwei Tiere auf. - Vor dem Grab des Onkels steht die Mutter mit den Kindern und betet, worauf die Kleinste, die von Toten bis dahin nur aus den Wildwestfilmen des Nachmittagsprogramms weiß, erstaunt fragt: "Wer hat denn da reingeschossen?"

Solche Tableaus versetzen dem Leser einen Schlag. Hat man sie selbst erlebt? Wo war ich, als das gesagt wurde? Wann habe ich das schon einmal gehört? Das Bewusstsein meint, sie bis hierher wie im Halbschlaf mitgeführt zu haben und jetzt nur zu erwachen, da sie erzählt werden. Die Erzählungen, mit denen Christa Estenfeld auf seltsame, zugleich bestrickende und irritierende Weise hervortritt, erinnern insofern an Geträumtes. Das Klare einer nur mit dem Nötigsten befassten, jedwede ausgestellte Ambition vermeidenden Sprache und die durchgehende Einfachheit im Sachgehalt verbinden sich mit einer völligen Rätselhaftigkeit der entstehenden Bildwelt. Man erkennt auf jeder Seite dieses Buches, schreckhaft und beglückt, wie im Traum alles wieder, aber kennt, wie dort, weder das Was noch sein Warum.

Dabei handeln die Erzählungen zumeist von Ungeträumtem: den kalten Weihnachtstagen eines Kindes, den Qualen einer Biologin in den Tropen, dem Leben eines seltsamen Gelegenheitsarbeiters oder der todbringenden Inselexistenz einer kontaminös Verstrahlten. Merklich geträumt wird im ganzen Band nur ein einziger Traum, jener, der die schmerzhaften Bilder von der betäubt um sich tastenden Languste heraufführt. Wenn die Frau, die ihn träumt, wenig später in einem ungeheuren Übergang während ihrer Vergewaltigung die Verpuppung einer Insektenlarve - "der einer das wahre Leben nur ahnenden Puppe" - durchlebt, geschieht es mit derselben überwachen, fast neurasthenischen Präzision. Betäubung, Schmerz, Benommenheit und Ohnmacht treten insofern neben den Traum und lassen ihn als bloßen Abschnitt einer Skala an kreatürlichen Zuständen fühlbar werden, von denen hier gehandelt wird.

Streng genommen aber "handeln" die Geschichten deshalb gar nicht. Ihren teils schlichten, teils ungewöhnlichen Stoffen entnimmt die Autorin nicht das Spannungsmoment überraschender Aktionen. Sie dienen ihr vielmehr zum Gewinn eines Bilderfonds, der vor aller Handlung liegt. Bedrängende Umwelten, nicht Entscheidungen, Wahrnehmungsweisen, nicht Abläufe bilden ihr Thema. Dies alles geschieht auf eine ganz nüchterne, den dargestellten Zwischenräumen des Bewusstseins gegenüber ganz gelassene Weise. Der Traum fällt nicht einer Traumverlorenen zu. Das Unheimliche ist zu normal, um sich mit seiner Entdeckung aufzuspielen. Es ist von überall her erreichbar. Man versteht es nur eben nicht und muss inmitten des Unverstandenen leben.

Das Paradigma dieser Vertrautheit des Unheimlichen muss für Estenfeld die Kindheit sein. Denn dem bezwingendsten Stück des Bandes, "Die Weihnachtskiste", gelingt das Schwierigste: der Eingang in die Merkwelt eines zehnjährigen Kindes. Erzählt wird, wie dicht und das Bewusstsein einfärbend die Erfahrung war, als Gefühl, Wissen und Einbildungskraft sich eben erst auseinanderlegten. Noch ist ungeklärt, welche Wahrnehmungen von den anderen geteilt werden, welche nur dem Ich angehören: das Fieberlabyrinth der Schneelandschaft mit den ineinander greifenden Bäumen, der Blick der Muttergottesstatue, die verzückten Alten im Heim, die bei Kerzenlicht wie irre Kinder mit roten Flecken auf den Wangen und verdrehten Augen dem vorbeigetragenen Christuskind nachschauen.

Das Kind hat schon Worte für die umgebenden Dinge, aber noch haben die Worte als umgebende Dinge auch das Kind: Sie zeigen sich als eigenbewegte Gegenstände, die ihm bestimmte Ansichten zuwenden, bildgebende Vorgriffe auf Erfahrung. So etwa hört das Kind einmal, verbotenerweise lauschend, die Schwester habe ein Kind abgetrieben. Nun wälzt es im Gefühl, ein kaltes und trauriges Geheimnis erfahren zu haben, die Frage, auf welchem Fluss, durch welche Strömung das Kind denn abtrieb. "War es ihr einfach so aus den Fingern geflutscht, so klein wie es gewesen sein mußte?" Vielleicht wie Moses auf dem Nil? Aber wohin? Das Kind lässt sich selbst vom erwachenden Vermögen zur Unbegrifflichkeit treiben. Auf diese Weise wird der Leser auf jener Erfahrungsschwelle gehalten, die den Übergang der Weltauslegung durch erlebte in ausgedachte Bilder bezeichnet. "Keti", so heißt es über das Mädchen, "gebrauchte manche Worte, die ihr gefielen, als Verstecke", indem sie ihnen eine nur ihr selbst bekannte Bedeutung zuweist.

Solche Kindheitsaugenblicke tönen die Lektüre des ganzen Bandes. Und doch ist es kein auf Erzählungen verteilter, in die Kurzform verdichteter Bildungsroman. An der Welt des Kindes ist hier ein eigensinniges Vermögen bedeutsam, das im nächsten Lebensmoment verschwunden sein wird: das Vermögen, die Phantasie nicht gegen das Wissen und die Ordnung der Dinge, sondern vor dem Wissen um diese Ordnung auf sie anzuwenden. Dieses phantasierende Vermögen wirkt sich in den meisten Erzählungen als eigentümliche Zeitlosigkeit aus, die ihre Geschehnisse bestimmt. So gut wie kein Stück kennt das "Es war einmal". Am deutlichsten fällt das vielleicht in jenen beiden Geschichten auf, die sich wie Revisionen en miniature von Joseph Conrads "Heart of Darkness" und Daniel Defoes "Robinson" ausnehmen. Revidiert nämlich wird die auf Zukunft gespannte Intention, die der Fahrt ins Unbekannte ihre klassische Form gegeben hat. Hier führen nicht Handel noch Abenteuer, sondern die Suche nach nachtaktiven Insekten und die ewige Quarantäne einer von Allergien Tätowierten in die Tropen. Dort, in Kolumbien und irgendwo im Meer vor Peru, begegnet man weder kolonialem Wahn, noch wird die Insel zum Anlass europäischer Wertarbeit. "Ich improvisiere meistens, die Insel entscheidet in vielem für mich." Sie, die Menschenfresserin, von der offen gehalten wird, ob sie eine ist, lebt wie narkotisiert durch den eigenen Körper und sein Ausfühlen in den Naturraum. Die Insektenforscherin findet sich in einem Herz der Finsternis, das nach Schwelbrand und Tabakatem stinkt und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht einmal mehr von der Seite des Bösen aus erlaubt. Es sind dies alles Zonen, in denen diesseits moralischer Erwartung gelebt wird, Regionen diesseits der Novelle. Es erscheint in ihnen deshalb auch die Seele der ganz und gar nicht agonalen Protagonisten durch Psyche und Soma vollständig dividierbar. Das macht sie mitunter Märchenfiguren ähnlich. Das macht ihre Welt, wenn man ein großspuriges Wort für sie vergeben will, zu einer nachmetaphysischen. Den auffällig vielen Tieren gegenüber, die Estenfelds Geschichten bevölkern, haben die Menschen das Privileg, über Bewegung und Schrei hinaus zu Glück und Dummheit fähig zu sein. Als sprechende Tiere tun sie sich aber nicht besonders hervor. Wortwechsel sind wie sparsame Zitate einer untergegangenen Verhaltensform in den Text eingestreut. Das einzige Stück, in dessen Mitte ein Gespräch steht, ist das abschließende, die sardonische Bürogeschichte einer geschäftlichen Verabredung mit der größten bekannten Firma für institutionalisierten Ortswechsel, der "t.o.t. GmbH".

So bleibt eine einzige Erzählung, in der Christa Estenfeld der eingeübten Zeitform des Erzählens folgt und ihre Zustandsprotokolle aus den erwartungsfreien Regionen des mythischen Seelenlebens verlässt. "Als Bruno Setzer Anfang Oktober . . ." beginnt die Geschichte eines wunderlichen Museumswärters. Wie ein "langsam schwimmender Fisch" bewegt er sich durch das Gemurmel der Besucher, benutzt die Bilder zunächst als Wegmarken, beginnt allmählich, sie sachlich, also nicht kunsthistorisch zu betrachten, und findet immer mehr Fehler und Eigenwilligkeiten auf den Werken der alten Meister. So kann ein Vorhang doch nicht fallen, hier trägt die Magd den Obstkorb doch so, als hätte sie gar keinen Kopf! In solche Betrachtungen versenkt er sich eines Tages vor dem Bild einer Frau am Fenster, die mit angespannten Zügen auf einen unsichtbaren Vorgang achtet, während sie einen Brief aus bläulichem Papier vor ihrer Brust zerreissen will. Es ist das Bild "Briefleserin am offenen Fenster" von Jan Vermeer. Darauf sind weder angespannte Züge zu erkennen noch ein Achten auf anderes als den Brief, gar ein Zerreissen, nicht einmal bläulich ist sein Papier. In Estenfelds Geschichte hat sich der Wächter aber nicht getäuscht, das stille Bild hat sich vielmehr in einer Sekunde der Gefahr, des Zorns und später der Besänftigung bewegt.

Das einzige "Es war einmal", das die Autorin sich so ihrem berückenden Erzählen erlaubt, dient der nachgerade legendenartigen Erklärung, dass ein stilles Bild nicht immer still war. Ihre eigenwillige Poetik, der, wie dem Kind Keti, die Worte als Verstecke für Bilder dienen, lässt sich nicht deutlicher machen. Das Erzählen selbst gilt der Verflüssigung andrängender Zeitlosigkeit. Es ist deshalb nicht die Suche nach einer verlorenen, es ist die Sehnsucht nach vergehender Zeit, die diese Geschichten bestimmt. "Müssen wir nicht sicher sein", heißt es an einer Stelle, "dass vergänglich ist, was wir berühren, bevor wir es ertragen können?" Jener Schlag, den uns die von irgendwoher bekannten Bilder versetzen, rührt wohl aus der Angst, wir seien noch immer dort; nichts sei vergangen und alles, was seitdem geschah, unwirklich. Es gibt in diesen Erzählungen Augenblicke, die einen bedrängen - und dann aufatmen lassen, dass es nicht so sei, weil es sich als erzählbar erwies.

Christa Estenfeld: "Die Menschenfresserin". Erzählungen. Haffmans Verlag, Zürich 1999. 158 S., geb., 28,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Samuel Moser fühlt sich bei diesem Buch an Joseph Conrad erinnert. Er lobt das "süsse Gift" in Estenfelds Erzählweise und bescheinigt ihren Geschichten eine "magische Anziehungskraft". Zwar geschieht kaum je etwas Unerwartetes, dennoch - oder gerade deswegen - gelingt es der Autorin, mit der Erwartungshaltung des Lesers zu spielen, der oft erst hinterher erkennt, worauf er sein Augenmerk hätte richten sollen, so Moser.

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