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Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250105015
  • ISBN-10: 3250105015
  • Artikelnr.: 20856264
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2007

Im Spiegel toter Augen

Was tun, wenn das Jiddische seinen Resonanzboden verloren hat? Der Lyriker Lajser Ajchenrand hält es mit Psalm 130: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir."

Es war das Verdienst Hubert Witts, uns mit dem Gesamtwerk Rajzel Zychlinskis, mit dessen poetischen Beschwörungen des vernichteten Ostjudentums bekanntzumachen (F.A.Z. vom 7. Janauar 2004). Jetzt lernen wir im jiddischen Original und in Witts einfühlsamem Deutsch einen Gedichtband Lajser Ajchenrands kennen. Dieser kam 1911 in Polen zur Welt und wuchs in der Nähe von Majdanek auf; seine Mutter, die geliebte Schwester Etke und deren Familie wurden von den Nationalsozialisten ermordet; er aber entkam der Vernichtung, weil er als angehender Dichter 1937 nach Paris gegangen war.

Dieses Detail seiner Biographie ist aufschlussreich, denn es zeigt, wie früh sich der junge Ajchenrand schon der europäischen Moderne verbunden fühlte und Kontakt zur Avantgarde suchte. Nach dem deutschen Einmarsch trat er in ein französisches Ausländerbataillon ein und wurde nach der Niederlage in einem Arbeitslager interniert, konnte 1942 aber in die Schweiz flüchten. Dort, mit nur kurzen Unterbrechungen, hat er den Rest seines Lebens verbracht und ist 1985 in Zürich gestorben.

Ajchenrand lebte im deutschen Sprachraum und war mit einer Schweizerin verheiratet, schrieb aber auf Jiddisch. Schon früh, zugleich mit Gedichten Stephan Hermlins und Jo Mihalys, erschienen Übersetzungen aus seinem Werk. Diese erste Sammlung aus dem Jahr 1945 hieß "Wir verstummen nicht". Der Titel zeigt das Gebot der Zeugenschaft an, dem Ajchenrands Werk verpflichtet ist, und im Band "Aus der Tiefe", der 1953 erschien, legte er die Summe seiner von der Schoah geprägten Dichtung vor.

Hubert Witt sieht dieses Buch als Ajchenrands Hauptwerk an. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, gibt er es noch einmal heraus. Der Titel spielt auf den 130. Psalm an, der in der christlich-römischen Tradition als "De profundis" bekannt ist. "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir", heißt es dort: Das bedrängte Israel bittet Gott um Vergebung seiner Sünden, um die Gnade des Himmels.

In Ajchenrands Band stehen zwei Gedichte unter dem Titel "Aus der Tiefe rufe ich". In einem von ihnen betet er nachts zu Gott, aber er findet keinen Trost: "In solcher Stunde, Schwester, weinst du verloren, / Spiegelst dich in toten Augen, auch / Deiner eigenen Kinder, die wie Rauch / Durch deine Träume ziehen und gehn verloren. / Erbarmen! fleht die Stunde, da sie geboren." Die Bitte um Gottes Gnade ist auch hier im Namen der Kinder Israel gesprochen; gerade das macht diese Bitte jetzt problematisch. Es sind ihre ermordeten Kinder, die Ajchenrands selbst bereits ermordete Schwester beweint, und der Rauch, Symbol der Schoah, hat Gottes Schöpfung unheilbar kontaminiert: Mit dem Tod einer unschuldigen Generation ist die Frage der Theodizee unlösbar geworden.

Die Verse machen das Dilemma eines jiddischen Modernisten sichtbar. Dieser fragt nach den Prämissen des Bußpsalms und kann sich doch nur schwer aus den Netzen einer vorgegebenen Symbolik lösen. Tote Augen müssen ein blinder Spiegel bleiben, und seine Schwester, ermordet wie ihre Kinder, kann ihrer im Rauch verlorenen Erinnerung nur noch in der Utopie des Traums begegnen. Um eine Wirklichkeit aufzulösen, die es nicht mehr gibt, arbeitet Ajchenrand mit den Versatzstücken der lyrischen Tradition und bindet sie in die Grenzen eines überkommenen Reimschemas ein.

Das Gedicht "Mein Volk" enthält die Strophe: "Wie Sternenstaub im Wind / Liegen wir hingestreut, / Von unseren Lippen rinnt / Das Blut, und schreit". Der Sternenstaub nimmt eine biblische Verheißung auf: "Sieh gen Himmel und zähle die Sterne", sagt Gott zu Abraham. "So zahlreich sollen deine Nachkommen sein." (1. Mose 15,5.) Jetzt ist das Gottesvolk zu Sternenstaub zerfallen, und Ajchenrand zerstört die Verheißung vor den Augen des Lesers. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat auch Else Lasker-Schüler eines ihrer Gedichte "Mein Volk" genannt, auch dort wird ein Schrei hörbar: "Und immer, immer noch der Widerhall / In mir, / Wenn schauerlich gen Ost / Das morsche Felsgebein, / Mein Volk, / Zu Gott schreit."

Auch dieses Gedicht nimmt biblische Motive auf - das jüdische Volk, zum morschen Felsgebein erstarrt, ist das Totenfeld aus der Vision des Hesekiel -, aber anders als bei Ajchenrand hat der hier erdichtete Volkskörper keine reale Anatomie mehr. Er ist ein Gebilde freier Imagination: Im Vorfeld des deutschen Expressionismus konnte Lasker-Schüler eine Körper-Sprache schaffen, wie es sie noch nie gegeben hatte. Einen solchen Resonanzboden hatte Ajchenrand nicht, sein Publikum war auf den Totenfeldern der Nazis geblieben. Das Jiddische hatte den Boden verloren, auf dem es sich modernisieren konnte, und um sich den Überlebenden verständlich zu machen, musste er - oft gegen seinen künstlerischen Willen - auf die Mittel der lyrischen Konvention zurückgreifen.

Manchmal lässt Ajchenrand die Zügel schießen, dann befreit er sich von den formalen Zwängen. Abgelöst von Versmaß und Reimschema gibt Ajchenrands Sprache dann einen Bilderreichtum frei, der vieles integriert: die Kinderaugen als ein Grundmotiv seiner Dichtung, aber auch die flammenflügligen Pferde, die an Marc Chagall erinnern und zugleich an die Apokalypse.

JAKOB HESSING

Lajser Ajchenrand: "Aus der Tiefe". Gedichte. Jiddisch und Deutsch. Aus dem Jiddischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hubert Witt. Ammann Verlag, Zürich 2006. 319 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2007

Reicht dein Messer nicht aus? Nimm Kanonen!
Zum ersten Mal auf Deutsch: Der jiddische Dichter Lajser Ajchenrand in einer vorzüglichen zweisprachigen Edition
„Schwarz fallen die Augenblicke / Wie ein Regen in mein Gesicht.” Die Sprache verblüfft schon beim ersten Lesen. Sie ist klassisch poetisch, aber auch ungewöhnlich. Lajser Ajchenrand, der am 23. September 1911 oder 1912 in Deblin südlich von Warschau geboren wurde und 1985 in Küsnacht am Zürichsee starb, war einer jener Dichter, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzen mussten, weil sie ihn überlebt hatten. Er schrieb voller Liebe zu seiner, der jiddischen Sprache, aber er wählte Bilder, die sich, wie man jetzt sieht, wunderbar ins Deutsche übertragen lassen.
Schon was Ajchenrand immer wieder mit dem guten, alten Mond veranstaltet, ist außergewöhnlich: „Unsere Hoffnung ist der Wald auf dem Mond, / Der Beginn einer niemals kommenden Zeit” schreibt er in „Was sind wir?” Und antwortet sich und anderen Davongekommenen: „Nachts sind wir dunkel-verloschene Trauerwege / Unserer blutig-vergessenen Generation.” Nicht selten sind die Gedichte eine spannungsreiche Mischung aus kraftvoll-sinnlicher, vom Expressionismus angereicherter Romantik und programmatischer Abstraktion. Denn, wenn es Nacht wird, kommt hier nicht Ruhe über das Ich, sondern die Erinnerung. Von ihr schreibt Ajchenrand: „Ich muss dich trinken – / mein ganzes Leben wie Gift.” Aichenrands fundamentaler Geschichtspessimismus ist vom Verlust seiner Mutter, seiner Schwester und vieler anderer Angehöriger grundiert.
Ajchenrands Vater, der noch vor dem Holocaust starb, hatte, neben dem schlecht bezahlten Beruf eines Lehrers an der jüdischen Elementarschule, als Schneider gearbeitet. Lajser musste früh mithelfen. Und tatsächlich sollte ihm das zugute kommen. Als der junge Schriftsteller 1937 nach Paris übersiedelte, hatte er in Warschau einige Gedichte veröffentlicht, aber vom Schreiben konnte er nicht leben. So blieb Ajchenrand, während er alle Kunsströmungen aufsaugte, die es in Paris damals gerade noch gab, immer auch Schneider.
Die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Juden im 20. Jahrhundert bestimmt den größten Teil der Gedichte. Dabei bleiben sie in sich sehr verschieden. Melancholisch, hoffnungslos wie in „Mein Volk”. Ein andermal, wie in „Tod und Wiedergeburt”, außerordentlich widerständig: „Ist dein Messer stumpf / Wetze es!” fordert das Ich einen Folterer rhetorisch auf: „Schneid meine Adern heraus, / Spann sie auf dein Gewehr / Wie auf Harfen. (. . .) Reicht dein Messer nicht aus?/ Nimm Kanonen!/ Nimm Gift!/ Nimm Granaten! (. . . ) Dröhne wie tausend Orgeln / Und trompete und schrei: / Die Juden sind aus Granit! / Die Juden sind aus Stahl!”
Als Frankreich von der deutschen Armee angegriffen wird, meldet sich Ajchenrand zu einem Ausländerbataillon der Franzosen. Nach der Niederlage wird er in einem Arbeitslager des Vichy-Regimes, in Rufieux/Haute Savoie interniert, 1942, kurz vor der Deportation, rettet er sich in die Schweiz. Schon kurz nach dem Krieg gelingt es ihm, zusammen mit den heute literarisch kaum mehr unter einen Hut zu bringenden Jo Mihaly und Stephan Hermlin, einen ersten Band mit Gedichten herauszubringen: „Wir verstummen nicht. Gedichte in der Fremde”, bei Carl Posen in Zürich.
Es waren nur ein gutes Dutzend Texte, in jiddischem Original, mit deutschen Worterläuterungen, an denen Ajchenrand mitgearbeitet haben muss. Doch trotz Sammelpublikation: Der Band brachte Ajchenrand in Kontakt mit damaligen Größen wie Leopold Lindtberg, dem Leiter des Zürcher Schauspielhauses, und Carl Seelig, der heute vor allem als Förderer Robert Walsers bekannt ist. Seelig wanderte auch mit Ajchenrand. Dieser ging jedoch bald nach dem Krieg wieder nach Paris, publizierte dort schließlich 1953 „Mimaamakim”, „Aus der Tiefe”, also eben jene Gedichte, die jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, zum erstenmal deutsch erscheinen. Damals wurde der Band in jiddischer Sprache, aber in hebräischen Lettern gedruckt.
Jetzt legt der Ammann-Verlag eine sehr schöne, sorgfältig gestaltete Ausgabe vor. Die Lettern des Originals werden durch eine jiddische Umschrift und die deutsche Übersetzung ergänzt, beide von Hubert Witt verfasst. Manchmal hat man das Gefühl, die deutsche Variante hätte etwas karger ausfallen können. Gleich in der ersten Zeile des Bandes heißt es jiddisch: „baj tog trinkt ir di nacht fun majn blik”, was deutsch hier etwas celanesk klingt: „Am Tag trinkt ihr mein Aug vom Dunkel leer.” Aber das ist eine Ausnahme. Hubert Witt hat dafür gesorgt, dass dieser großartige Dichter jetzt in einem schönen, alten, bilderreichen Deutsch, das dem Geist der Gedichte entspricht, so am Schluss von „Mein Volk”: „Wie Sternenstaub im Wind/ Liegen wir hingestreut, / Von unseren Lippen rinnt / Das Blut, und schreit // Stiller – stiller – ”.
Ajchenrands breit orchestrierte Bildlichkeit zeigt sich unter anderem im Gedicht „Krieg”, dessen zweite Strophe mit einer Erzählung über Kinder beginnt. Sie „suchen die eigenen Augen im Blut, / Die Straße hüllt sie in die Aschehemden von Leichen”. Immer wieder ahnt man, warum Ajchenrand lange auch bei Liebhabern klassischer jiddischer Lyrik Schwierigkeiten hatte. Denn diese Gedichte – mit Verbindungen zu Else Lasker-Schüler oder auch Georg Trakl – entstammen zwar jüdischer Tradition und Philosophie, doch religiös korrekt sind sie selten. Zu extravagant ist die Bildlichkeit, allzu nah an Hiob: „Der Seufzer eines gequälten Kindes / Stürmt vergeblich / Den versteinerten Himmel.”
Doch allmählich wurde Ajchenrand von immer weiteren Kreisen akzeptiert. Nach „Mimaamakin” erhielt er ein Stipendium für Südamerika, dann lebte er von 1957 bis 1961 in Israel, wo alle weiteren Gedichtsammlungen erschienen. Obwohl Ajchenrand für die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens nach Zürich zurück kehrte. 1976 erhielt er schließlich in Jerusalem den Itzak-Manger-Preis, der als jüdischer Nobelpreis gilt. Es wird Zeit, dass Lajser Ajchenrand auch in Deutschland Anerkennung findet. Seine Gedichte erkunden das Zentrum des zwanzigsten Jahrhunderts.
HANS-PETER KUNISCH
LAJSER AJCHENRAND: Aus der Tiefe rufe ich. Gedichte. Jiddisch und Deutsch. Aus dem Jiddischen übertragen und mit einem Nachwort von Hubert Witt. Ammann Verlag, Zürich 2006. 314 Seiten, 22,90 Euro.
Lajser Ajchenrand (1911-1985) Foto: privat
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensentin Anastasia Telaak ist froh, dass ein "nahezu völlig unbekannt gebliebenes Werk" endlich vorliegt: Die Gedichte von Lajser Ajchenrand, 1953 in Paris erschienen und nun von Hubert Witt übersetzt, lassen eine "ausgezeichnete" literarische Stimme laut werden. Ajchenrand, dessen Mutter und Schwester in Polen von den Nazis ermordet wurden, beschäftigt sich in seiner Lyrik mit dem Thema Auschwitz und fragt angesichts der Verbrechen nach Gottes Existenz. Die poetische Welt des Dichters findet die Kritikerin "einzigartig": Ajchenrand verbinde moderne Bilder mit jüdisch-mystischem Gedankengut, seine Gedichte weisen eine "expressionistische Metaphorik" auf. Dass Hubert Witt keine wörtliche Übersetzung vorgelegt hat, gefällt der Rezensentin. Auch wenn die Texte dadurch manche "Holprigkeiten" aufweisen, freut sie sich doch über diese "späte, aber bedeutende" Entdeckung.

© Perlentaucher Medien GmbH