Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • 2000.
  • Seitenzahl: 175
  • Deutsch
  • Abmessung: 208mm x 130mm x 21mm
  • Gewicht: 282g
  • ISBN-13: 9783250104124
  • ISBN-10: 3250104124
  • Artikelnr.: 08581175
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2000

Das unerforschte Land des Glücks
Vielfältiger Hunger: Die Geschichten von Helen Meier

Die Menschen in den Geschichten von Helen Meier haben Hunger, oft unstillbaren Hunger. Deshalb wird hier kräftig aufgetischt: Braten und Pizza, Spaghetti und Risotto, Auberginen und Käse, dazu gibt es selbst gebackenes Brot und reichlich zu trinken. Doch es ist nicht allein der Hunger des Magens, der diese Figuren antreibt; stärker noch ist es der Hunger des Kopfes und der des Geschlechts.

Meiers Helden und Heldinnen sind unscheinbar und gebrechlich, haben die Demütigungen enttäuschter Liebe erfahren und dennoch die Hoffnung auf ein spätes Glück nicht aufgegeben. Ihr vielfältiger Hunger treibt sie zu verzweifelten Unternehmungen. Eine alte Frau plant leidenschaftlich den Bau eines prachtvollen Hauses, das sie nie bezahlen kann; eine andere hat sich in den jungen polnischen Musiker aus dem Kurorchester verliebt, der freilich längst die erotischen Wünsche seiner Chefin erfüllt. Oft sind es Ortswechsel, von denen sich Meiers Figuren Besserung versprechen. Doch die hoffnungsvollen Aufbrüche erweisen sich als trügerisch, und am Ende der Geschichte steht oft die Rückkehr in die vertraute Einsamkeit. "

Helen Meier liegt nicht daran, ihre schwachen, irrenden Figuren zu bewerten oder gar zu kritisieren. Vielmehr betreibt sie geradezu eine Form der erzählerischen Mimikry, nimmt immer wieder die Perspektive ihrer Gestalten ein und verzichtet auf den souveränen Überblick einer allwissenden, lenkenden Erzählerinstanz. In der Konzentration auf die Gedanken und Empfindungen der Protagonisten liegt ein großer Reiz dieser Geschichten. Häufig offenbart sich erst allmählich das komplizierte Verhältnis der Personen zueinander, die allein durch Pronomen wie "ich", "er" oder "sie" Kontur gewinnen. Das erzählerische Vexierspiel verrät viel über die verwirrende Mannigfaltigkeit des Begehrens, denn verzehrende, besorgte, sinnesverwirrende Liebe kann - so Meiers Beobachtung - dem untreuen Gatten ebenso gelten wie der fernen Tochter oder einer selbst geschaffenen Fantasiegestalt. Die Pein des Liebens bleibt dieselbe, und trotzdem hört die Hoffnung nicht auf, eines Tages doch noch die Liebe als "wunderbar unerforschtes letztes Land" zu entdecken.

Helen Meier, Jahrgang 1929, arbeitete lange als Sonderschullehrerin und fand erst spät zum Schreiben; ihr erstes Buch "Trockenwiese" erschien 1984. Seitdem veröffentlichte sie eine ganze Reihe von Erzählungen und einen Roman. In "Liebe Stimme" ist sie ihrer Neigung zur hellsichtigen Analyse alltäglicher Verhältnisse treu geblieben. Stärker jedoch als in den vorangehenden Büchern berichtet sie nun von den körperlichen Veränderungen des Alters. Fern von jedem Jugendwahn stattet sie ihre lebenshungrigen Figuren mit schlaffen Tränensäcken und welker Haut aus, lässt sie an Hüftoperationen und Herzkrankheiten leiden. Doch auch die halb taube, grell geschminkte greise Konzertbesucherin bewahrt ihre eigene Würde, weil sie sich ohne Selbstmitleid mit ihren Beeinträchtigungen zu arrangieren versucht und ihren Traum vom Glück nicht aufgegeben hat.

Wo sie jüngere Menschen beschreibt, erlaubt sich Helen Meier satirischere Töne. Das selbstironische Porträt "Strahler" schließlich erzählt von den Illusionen einer Schriftstellerin, die sich einen Empfang wie eine Märchenprinzessin erträumt, bei der Lesung in ihrem Heimatdorf jedoch nur auf eine Hand voll unverständiger und unwilliger Zuhörer trifft. Es ist Helen Meier zu wünschen, dass sie künftig bessere Aufnahme findet - nicht nur in der Schweiz.

SABINE DOERING

Helen Meier: "Liebe Stimme". Geschichten. Ammann Verlag, Zürich 2000. 177 Seiten, geb., 36,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Elsbeth Pulver begegnet der Autorin in ihrer Rezension mit großer Bewunderung und Respekt. Dass die Figuren in diesen kurzen Geschichten den typischen "Helen-Meier-Sound" haben, erklärt sie damit, dass Meier, ähnlich wie Robert Walser, immer an dem gleichen "Ich-Buch" arbeitet. Akzeptiert man dies, wird man laut Pulver, fürstlich belohnt. Das Tempo sei schneller geworden und so werde man noch heftiger in den "Sprachstrom" der Figuren hineingerissen. Die Geschichten konzentrierten sich noch "entschiedener auf die Situation" als frühere Erzählungen. Und auch die Art, wie Meier ihre "Kardinalthemen", Tod und Liebe, "aneinander geschmiedet" hat, lobt die Rezensentin. Meier beschreibe Todesfurcht, wie sie nur das Alter kennt: Nicht als Angst vor dem eigenen Tod, sondern als "Angst vor dem Verlust geliebter Menschen".

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